Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Warum und wie steigen Rechtsextreme aus? | Rechtsextremismus | bpb.de

Rechtsextremismus Was ist Rechtsextremismus? Rassismus Was ist eigentlich Rassismus? Rassen? Gibt's doch gar nicht! Warum ist es so schwer, von Rassismus zu sprechen? Alltagsrassismus Rassentheorien und Rassismus in Asien im 19. und 20. Jahrhundert Infografik Rassismus Verschwörungstheorien Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom Die Reichsideologie Die Protokolle der Weisen von Zion Debatte: Extremismustheorie Der Extremismusbegriff Kritische Anmerkungen zum Extremismuskonzept Weiterführende Literatur Ideologie Rechtsextreme Einstellungen Zur Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland Was denkt die NPD? Rechtsextremismus: die internationale Debatte Intellektueller Rechtsextremismus Muslimfeindlichkeit Islamfeindlichkeit, Islamophobie, Islamkritik Interview Hafez Muslimfeindlichkeit als rechtsextremes Einfallstor Virtuelle Kreuzritter Konkurrenz der Leidtragenden Quellentext: Islamfeindlichkeit und Antisemitismus ähneln einander Antisemitismus Antisemitismus im Rechtsextremismus Antisemitismus heute Interview mit Marina Chernivsky Antisemitismuskritische Bildungsarbeit Die AfD und der Antisemitismus Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland Ungezählte Opfer Wie organisieren sich Rechtsextreme? Internationale Netzwerke Die Eurasierbewegung und die Neue Rechte Die APF: Europas rechtsextremer Rand Rechtsextreme US-Szene Wie Russland den rechten Rand in Europa inspiriert Globalisierte Anti-Globalisten Die Identitären Neonazis in Russland Hammerskins Kampfsport, Runen, Rassenhass Rechtsextremistische Parteien in Europa Rechtsextremismus in Russland (Miss-)Erfolge der „Identitären“ NPD Mehr als 50 Jahre rechtsextrem Das Parteiprogramm der NPD Frauen in der NPD Radikal besorgte Bürger Wer wählt eigentlich rechtsextrem? NPD-Taktiken Das Potenzial der NPD NPD-Verbot und Parteienfinanzierung Autonome Nationalisten Turnschuhe statt Springerstiefel "Dortmund ist unsere Stadt" Aussteigerinterview Webtalk: Autonome Nationalisten Rechtsextreme Parteien in Europa Rechtsextreme Akteure in Deutschland Rechtsextreme Szenen und Medien Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft Interview mit Eberhard Seibel Heimatliebe, Nationalstolz und Rassismus Graue Wölfe Nationalismus und Autoritarismus auf Türkisch Antisemitismus bei Muslimen Russlanddeutsche GMF bei Polnischstämmigen Debatte: "Deutschenfeindlichkeit" Jugendkulturen Runen gestern, heute, morgen Jugendkulturen im Wandel Codes der rechtsextremen Szene Interview mit Christoph Schulze Tipps für Jugendeinrichtungen Burschenschaften Kameradschaften Neonazis hinter weißen Masken Kameradschaften im Visier Einführung Jugendkultur Kampfsport Was liest der rechte Rand? Geschichte der rechtsextremen Presse Gegenöffentlichkeit von rechtsaußen Der rechte Rand: Verlage Der rechte Rand: Publikationen Audio-Slideshow Männer Männliche Überlegenheitsvorstellungen Homosexualität Rechtsextreme Männerbilder Soldatische Männlichkeit Burschenschafter Audio-Slideshow Musik Die neonazistische Musik-Szene Neue Töne von Rechtsaußen Rechtsrock für's Vaterland Rechtsrock: Millionen mit Hass Verklausulierte Volksverhetzung Interview mit David Begrich Elf rechte Bands im Überblick Frauen Auf die sanfte Tour Feminismus von rechts Rechte Aktivistinnen Frauen in der NPD Rechtsradikale Frauen Rechtsextrem orientierte Frauen und Mädchen Frauen im rechtsextremen Spektrum Aussteigerinnen Nazis im Netz Roots Germania Rechtsextremismus im Internet Das braune Netz Neonazis im Web 2.0 Zocken am rechten Rand TikTok und Rechtsextremismus Das Internet als rechtsextreme Erfolgsgeschichte? Rechtsextremismus und Presse Interview mit Ulrich Wolf Der NSU und die Medienberichterstattung Umgang mit Leserkommentaren Ein kurzer Ratgeber für Journalisten Krimi gegen Rechts Tonangebende rechtsextreme Printmedien Wenn Neonazis Kinder kriegen Die nächste Generation Hass Umgang mit Kindern von Neonazis Eine Mutter und ihre Kinder steigen aus "Mein Kampf" "Wir wollen den Zünder ausbauen" Helfen Gesetze gegen "Mein Kampf"? Gemeinfrei: "Mein Kampf" Hitlers "Mein Kampf" – ein unterschätztes Buch Rechtsextreme Kampagnen-Themen "Gender" und "Genderwahn" Ökologie Grüne Braune Wie grün waren die Nazis? Interview mit Elisabeth Siebert Debatte: Kommunale Flüchtlingspolitik Nach Köln Flüchtlingsunterkünfte Interview mit Oliver Malchow Was kommunale Flüchtlingspolitik leisten kann – und muss Deutsche Asylpolitik, europäischer Kontext Wer erhält welches Asyl? "Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber …" – Ein Faktencheck Anstoß in der Kreisklasse Handlungsspielraum der Kommunen Meinung: Die Probleme waren schon vor den Flüchtlingen da Meinung: Kommunale Flüchtlingspolitik aus der Sicht des Bundes Meinung: Probleme und Lösungswege in der kommunalen Flüchtlingspolitik Meinung: Flüchtlingsarbeit in den Kommunen – Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft TwitterChat: Kommunale Flüchtlingspolitik Fußball Judenhass im Fußball Film: Rechtsextremismus und Diskriminierung in deutschen Fußballstadien Interaktiver Webtalk: Über den rechten Flügel – Neonazis und Fußball Fußball und Rechtsextremismus Interaktive Grafik: Rechtsextreme Vorfälle in Fußballstadien Angriff von rechtsaußen Rechtsextreme BVB-Fans Audio-Interview: Martin Endemann über Rassismus im deutschen Fußball Audio: Ronny Blaschke über rechte Fangesänge im Stadion Vereine und Verbände Grauzonen Die "Neue Rechte" Interview mit Maren Brandenburger Der rechte Rand des politischen Systems der Bundesrepublik Die völkische Bewegung Die Junge Freiheit Das Institut für Staatspolitik Völkische Jugendbünde Die "Neue Rechte" in der Bundesrepublik Querdenken und Verschwörungserzählungen in Zeiten der Pandemie Rechtsextreme Gewalt Rechtsextreme Gewalt Angriff auf die Lokalpolitik Rechtsterrorismus Der Einzeltäter im Terrorismus Der Weg zum NSU-Urteil NSU-Verfahren Storify des Chats zu #3JahreNSUprozess Der Anschlag auf Henriette Reker Video: Die migrantische Community und der NSU Der NSU-Untersuchungsausschuss Protokolle NSU-Ausschuss Chat: NSU-Untersuchungsausschuss Interaktive Grafik: Die Taten des NSU Der NSU Der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) Die rechtsextreme Szene und der NSU Der Rechtsterrorismus im Verborgenen Chronik des Rechtsterrorismus Rechtsterrorismus in Europa PMK – Methoden und Debatten PMK – Statistiken Opfergruppen und Feindbilder Wo Demokraten gefährlich leben Die Geschichte des Orazio Giamblanco Wohnungslose Menschen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Was ist Sozialdarwinismus? Wer sind die Opfer? Ausstieg Warum und wie aussteigen? Debatte über echten Ausstieg Interview mit Aussteiger Rochow Pädagogische Arbeitsfelder Netzwerke in Norddeutschland Gewalt gegen Geflüchtete Unvollständige Erinnerung Umgang mit Rechtsextremismus Debatte: Soll man mit Neonazis reden? Toralf Staud: Soll man mit Neonazis reden? Cornelius Weiss: Argumentieren auf allen Ebenen Grit Hanneforth: keine Nazis auf Veranstaltungen Stefan Niggemeier: Ablehnung begründen Andreas Hechler: Entscheidend ist der Kontext Klaus-Peter Hufer: Argumente wirken Simone Rafael: Rassismus widersprechen Initiativen und Zivilgesellschaft Debatte: Was tun bei einem rechtsextremen Aufmarsch? Der rechtsextreme "Kampf um die Straße" Wolfgang Thierse: Wir müssen den öffentlichen Raum gegen die Besetzung durch Rechtsextreme verteidigen Hans-Ernst Böttcher: Man muss nur das Recht anwenden … wollen! Anna Spangenberg: Erfolgreich rechtsextreme Aufmärsche verhindern Herbert Trimbach: Versammlungsfreiheit ist ein Menschenrecht Politische Konzepte Wie sag ich Dass Auschwitz sich nie wiederhole... Denkanstöße aus dem Kanzleramt Bildung, Bildung, Bildung NPD trockenlegen? Wie kann Aussteigern geholfen werden? Interview MVP Forderungen von Projekten an die Politik HDJ-Verbot Strategien im Umgang mit der NPD in Parlamenten Noch mehr Vorschläge Schule Hakenkreuze an der Tafel Interview Reinhard Koch Analyse Albert Scherr Aufsatz Scherr / Schäuble Schülerzeitung Martinshorn Neonazis auf SchülerVZ Studie Uni-Seminar Was können Schülerinnen und Schüler tun? Antidemokratische Positionen und Einstellungen in Schulen Strategien Offener Brief an einen Oberbürgermeister Wie man Hakenkreuze kreativ entschärfen kann Gewalt vermeiden, aber wie? Parolen parieren! Was tun als Opfer rechter Gewalt? Engagement – lohnt das denn? Guter Rat, wenn Nazis stören Rezepte gegen Rechtsextremismus Argumente gegen rechte Vorurteile Vom Hass verabschieden Marke gegen Rechtsextremismus Und Du? Podcasts und Audios Glossar und FAQs Videos und Bilderstrecken Angaben zur Redaktion

Warum und wie steigen Rechtsextreme aus?

Kurt Möller

/ 8 Minuten zu lesen

Es gibt unterschiedliche Gründe, die Rechtsextreme dazu bringen, ihre politische Haltung aufzugeben und die Szene zu verlassen. Der Ausstieg erfolgt meist schleichend, und während manche sich nur zurückziehen, brechen andere komplett mit ihrem Umfeld und ihrer vormaligen politischen Position. Wie so ein Ausstieg abläuft und wie er bewältigt werden kann, erklärt der Erziehungswissenschaftler Kurt Möller.

Der Ausstieg ist nicht leicht: Ein ehemaliger Skinhead aus den USA ließ sich in aufwändigen Prozeduren seine Gesichtstätowierungen entfernen. (© Bill Brummel Productions)

Warum und wie steigen Aussteiger_innen aus? Der Versuch, die im Titel aufgeworfene Frage zu beantworten, stößt gleich zu Anfang auf eine Reihe von Schwierigkeiten: Zu ihnen gehören die folgenden:

  • Wer ist überhaupt ein/e Aussteiger_in? Eine/r, der/die ausgestiegen ist, eine/r, der/die ausstiegswillig ist oder eine/r, der/die gerade dabei ist, auszusteigen?

  • Ist "aussteigen" eigentlich ein adäquater Begriff für den Prozess der Abkehr, der damit umschrieben wird? Handelt es sich nicht – anders als etwa wie bei einem Ausstieg aus einem Zug – eher um eine ausgedehnte Zeitspanne, innerhalb deren man/frau u.U. zugleich "drinnen" wie auch "draußen" sein kann?

  • Macht es nicht einen Unterschied, woraus Aussteiger_innen aussteigen: Aus rechtsextremen Kaderfunktionen, aus Mitläuferrollen in lockeren Szeneverbünden, aus Gewaltfaszination, aus einschlägiger Straffälligkeit, aus ideologischen Denkgebäuden, aus Sympathisantentum und Einstiegsprozessen oder aus noch anderen Bezügen?

  • Und wenn Aussteiger_innen "aussteigen", auf welchem Terrain befinden sie sich dann? Im Niemandsland doch wohl nicht, oder? Sind sie aber dann nicht eher Umsteiger als Aussteiger?

Im Folgenden wird eine "aussteigende" Person als ein Mensch begriffen, der die Entscheidung getroffen hat, sich aus rechtsextremen Szene- und Haltungszusammenhängen heraus begeben zu wollen, sich in Folge dessen in einem Abwendungsprozess befindet oder diesen Prozess bereits durchlaufen hat. Besser denn als Ausstieg ist diese Bewegung allerdings als Distanzierung zu bezeichnen, also als ein Prozess der Distanzgewinnung zu vormaligen Aktivitäten und Orientierungen. Dieser kann von ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen her in Gang kommen: Er kann erfolgen

  • schon in einer Phase der ersten Annäherung an rechtsextreme Positionen und Cliquen (Affinisierungsphase),

  • in einer Phase der allmählichen Verfestigung rechtsextremer Haltungen (Konsolidierungsphase) oder

  • in einem Zeitraum, in dem man schon Mitglied einer rechtsextremen Partei geworden ist, fest zur "rechten Szene" gerechnet wird und durch Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen und ggf. auch durch Gewalt bzw. Straftaten auffällig geworden ist (Fundamentalisierungsphase).

Die Distanzierungsprozesse unterscheiden sich auch danach, ob jemand Führungsfunktionen in Szene oder Parteienlandschaft innegehabt hat, dort Mitglied war, bloß als Mitläufer_in gegolten oder nur Sympathie für rechtsextreme Positionen, Zusammenschlüsse und/oder subkulturelle Angebote gezeigt hat.

Ergänzt man die Frage nach dem "Woraus (aussteigen)" durch die Frage des "Wohin", so wird deutlich, dass das, was mit "Ausstieg" gemeint ist, auch mit dem Begriff der Distanzierung noch nicht vollständig eingefangen werden kann. Denn die Abstandnahme vom alten Umfeld und alten Weltbildern muss notwendigerweise verbunden werden mit einem neuen Lebensentwurf. Wer sich aus der Szene löst, rechtsextreme Straftaten unterlässt und seine Haltungen verändert, braucht alternative Orientierungen und Praktiken. Und auch diese Umstiegsoptionen sind wichtige Motivationen für einen sogenannten "Ausstieg".

Motive der Distanzierung

Gegenwärtig liefert die Forschung weder für die jeweilige Phase des Eingebundenseins in rechtsextreme Zusammenhänge noch szenenbezogen oder für den jeweiligen Bindungsgrad belastbare Befunde dafür, warum die Menschen sich für eine Distanzierung entscheiden. Allgemein vollziehen sich Prozesse der Abstandnahme von rechtsextremen Haltungen aber im Spannungsfeld eines Wirkungsdreiecks zwischen

  • grundlegenden Lebensgestaltungsinteressen, mindestens aber unmittelbaren Bewältigungsanforderungen lebensphasenspezifischer Entwicklungsaufgaben wie etwa Schulabschluss, Eingehen einer festen Partnerschaft, Jobsuche o.ä. (1),

  • den Erfahrungen im Binnenraum der Szene (2)

  • und Aspekten der szeneexternen Lebenspraxis (3).

Dabei sind freilich weniger "objektive" Lebenslagen, Erfordernisse, Vorgänge und Interaktionen relevant. Vielmehr beeinflussen Ressourcen und Prozesse der persönlichen Erfahrungsstrukturierung die subjektive Wahrnehmung, Deutung und Bewertung der so markierten Erfahrungssphäre. Diese Strukturierung erfolgt mittels mentaler Repräsentationen wie z.B. ideologisch geprägter Einstellungssegmente, affektiv verankerter Ressentiments, Assoziationen und Metaphern sowie mit Hilfe persönlicher Selbst- und Sozialkompetenzen wie Empathie, Impulskontrolle, Reflexivität und anderem mehr.

Phasen der Distanzierung: Irritationsphase

In der Regel vollziehen sich Distanzierungsprozesse in mindestens drei Stufen: An eine Phase der Irritation schließt sich ein Phase der Loslösung an, die weiter in eine Phase der Manifestierung von Distanz mündet. Loslösung und Distanz betreffen sowohl die innere Einstellung als auch die lebenspraktische Ebene der Alltagsgestaltung. Irritation meint die Verunsicherung und das Infragestellen lange als kohärent erlebter Überzeugungen und Vorstellungsbilder. Auslösend dafür sind oft wiederholte Enttäuschungen durch das szeneinterne Nichteingelöstwerden von Werten, Normen und Maximen, die nach außen hin propagiert werden: Kameradschaft, unbedingter Zusammenhalt und ähnliches mehr. Zum Teil wird auch die Erfahrung gemacht, dass man in schwierigen Situationen und Krisen ausgerechnet von solchen Personen Hilfe und Unterstützung erfährt, die – ginge es nach der ideologischen Correctness – eigentlich zu den Gegnergruppierungen gerechnet werden müssten. In manchen Fällen ist – vor allem in der Phase der ersten Annäherung an die rechtsextreme Szene – auch schlicht eine Umfeldveränderung distanzierungsförderlich: der Beginn einer beruflichen Ausbildung, ein Schulwechsel oder ein Umzug. Insbesondere auch auf Langfristigkeit hin angelegte Beziehungsarbeit durch Soziale Arbeit ist in dieser Phase der Annäherung an extrem rechte Zusammenhänge aussichtsreich.

Während in diesem Zeitraum gegebenenfalls auch noch institutionelle Sanktionierung wirkt – z.B. polizeiliche Verfolgung oder gerichtliche Auflagen –, hat sie später oft den gegenteiligen Effekt: Sie verfestigt die Szenemitgliedschaft, weil sie als Ausweis der Wichtigkeit der eigenen Person und ihrer Rolle in der Szene verstanden werden kann. Gerade (aber nicht nur) für langfristig und "tief" Involvierte gilt: Erst wenn Sanktionierungen wie z.B. eine Inhaftierung mit wirkungsvollen (Resozialisierungs-)Hilfen wie Ausstiegsberatungen verknüpft wird, wird eine Loslösung möglich. Bevor diese in den Blick gerät, können die wie auch immer entstandenen Irritationen eine Zeit lang vielfach ignoriert, bagatellisiert, als Ausnahme von der Regel an den Rand gedrängt und so als Widerspruch, mit dem man vermeintlich einfach leben muss, minimiert werden. Dementsprechende Verdrängungs-, Verleugnungs- und Beschwichtigungsstrategien geraten erst dann an ihre Grenzen, wenn Erschütterungen der eigenen Annahmen und Vorstellungen die eigene Identität angreifen – kurzum: wenn man sich bei einem Verbleiben in rechtsextremen Kontexten als Person nicht mehr wiedererkennt, den Eindruck gewinnt, jemand anders sein zu müssen als man zu sein glaubt und/oder erhebliche Nachteile für eigene Zukunftsperspektiven erkennt.

Loslösungsphase

In der dann einsetzenden Phase der inneren und lebenspraktischen Loslösung wandeln sich zum einen Standards, mit denen neue Erfahrungen verarbeitet werden: Ideologische Grundsätze und rechtsextreme Repräsentationen in Gestalt von Symbolen, Metaphern, Assoziationen, Erzählungen und ähnlichem mehr werden nun nach und nach immer mehr als unpassend für die neuen Erfahrungen empfunden, so dass eine Suche nach Deutungsmustern einsetzt, die den Interessen an Persönlichkeitsentfaltung und Lebensgestaltung besser entsprechen. Dieser Prozess geht meist Hand in Hand mit der Erfahrung, dass Selbst- und Sozialkompetenzen, die vorher keine Rolle spielten oder vernachlässigt wurden, etwa Impulskontrolle, Perspektivenübernahme, Reflexivität und verbale Konfliktregelung, aktiviert und ausgebaut werden müssen. Zum anderen werden Kontakte zu einzelnen Szenemitgliedern und die Beteiligung an gemeinsamen Aktivitäten – meist nach und nach – eingeschränkt, so dass ein "schleichender Ausstieg" erfolgen kann. Angesichts des Druck und der drohenden Gewalt der Szene wird ein schleichender Ausstieg zumeist als ungefährlicher eingeschätzt als eine gegenüber den Szenemitgliedern offengelegte Abstandnahme oder gar ein öffentlich bekundeter und ggf. sogar medial begleiteter Ausstieg.

Der Übergang in diese Phase wird oft durch vergleichsweise intensive Kontakte zu szeneexternen Personen, zu professionellen Distanzierungsarbeiter_innen oder – noch häufiger – auch durch neue freundschaftliche bzw. partnerschaftliche Bindungen oder das Wiederaufleben alter Kontakte, etwa aus der Schulzeit, erleichtert. Über sie wird die hermetische Geschlossenheit der Szenezusammenhänge durchbrochen und gleichsam "eine andere Welt" erschlossen: andere Freizeitbetätigungen, andere Anforderungen an Sozialkompetenzen, andere Kommunikationsweisen, andere Formen sozialer Kontakte, andere Bindungsqualitäten, andere Relevanzen generell und letztlich auch veränderte Vorstellungsbilder.

Oftmals parallel dazu und in gleicher Richtung wirken Erfahrungen in Schule und Arbeit, die den Aufbau neuer bedeutsamer Sinnbezüge ermöglichen. Sachlich-inhaltliche Tätigkeitsinteressen und (meist damit verbundene) "normale" Zukunftsgestaltungsinteressen verdrängen die ideologisch normierten vormaligen Orientierungen der rechtsextremen Gruppe und Szene. In der Szene zu verbleiben, wird dann als Bedrohung für die Umsetzung der neuen Selbstentwürfe erkannt. Und wenn sich die Person stärker auf die persönliche Entwicklung und das berufliche Vorankommen konzentriert, verblasst auch die Orientierung auf vorgeblich 'rassische', ethnisch-kulturelle und nationale Interessen zunehmend.

In einigen Fällen verändern auch die Geburt eines eigenen Kindes und die Sorge für sein Aufwachsen die konkrete Lebensführung und die Zukunftsvorstellungen. Vor allem Frauen betrachten dann die Szenemitgliedschaft und insbesondere das unmittelbare Involviertsein in Szeneaktivitäten als kontraproduktiv. Teilweise durchaus akzeptiert durch Szeneangehörige ziehen sie sich folglich in ihre Mutterrolle zurück. Der Rückzug ins Private passt zum konventionellen Weiblichkeitsbild, das szeneweit verbreitet ist. Da Vergleichbares für die Konzentration auf das Vater-Werden und -Sein nicht gilt, ist es wenig erstaunlich, wenn dieser Umstand als Rückzugs-Motiv im Allgemeinen nicht hingenommen wird. Dessen ungeachtet verstärkt die Geburt eines Kindes häufig die Kontakte zu den eigenen Eltern, zumal diese auch bei der Betreuung des Enkelkinds entlasten und Tipps geben können. Auch bei der Wohnungs- oder Stellensuche sind sie dann vielfach behilflich. Durch die so konkretisierte Unterstützungs- und Vorbildrolle der eigenen Eltern gewinnt oftmals eine konventionelle Familienorientierung die Oberhand und lässt die Betroffenen in tradierte Geschlechterrollen hineingleiten. Deren Ambivalenz zeigt sich freilich darin, dass sie einerseits aus den politischen Konflikten eines rechtsextremen Aktivismus hinausführen, andererseits aber große Überschneidungsflächen mit einem traditionalistischen und geschlechtshierarchischen Familienbild aufweisen, das (auch) in der extremen Rechten verbreitet ist.

Manifestierungs- und Neuperspektivierungsphase

Ein endgültiger Bruch mit dem rechtsextremen Szene- und Haltungszusammenhang wird erst durch die Manifestation innerer und lebenspraktischer Distanz markiert. Sie zeigt sich daran, rechtsextreme Denkweisen, daraus abgeleitete Aktivitäten und Szenekontakte vollständig aufzugeben. An deren Stelle tritt eine verstärkte Hinwendung zu Lebenspraxen und -modellen, die als sozial akzeptiert gelten: Über ernsthafte Bildungsanstrengungen, längerfristig ausgerichtete Bemühungen zur Arbeitsmarktintegration, dadurch betriebenen Selbstwertaufbau, unauffällige private Lebensformen, vielfältigere und deutlicher durch wechselseitige Kommunikation als durch "action" geprägte Freundschafts- und Bekanntschaftsnetze, teilweise auch durch Vereinseinbindungen werden zugleich szeneferne wie sozial akzeptierte Erfahrungen von Zugehörigkeit, Anerkennung, Teilhabe und Identifikation stabilisiert. Längst nicht immer stellt sich diese Transformation der Aussteigerbiografie allerdings als politische Metamorphose zu "lupenreiner Demokratiebefürwortung" dar. Nicht nur in Ausnahmefällen bleiben – nunmehr verdeckter und eher in der Defensive – bestimmte Vorlieben bestehen (z.B. Rechtsrock, maskulinistische Dominanzgelüste oder nostalgische Reminiszenzen an die "geile Zeit in der Szene"); wohl aber sind die Restbestände an (extrem) rechten Denkweisen, die unter Umständen übrig geblieben sind, nicht mehr haltungsbestimmend und handlungsleitend, weil ihnen gewichtigere neue Orientierungen und Aktivitäten gegenüberstehen.

Alles in allem laufen die Befunde der (insgesamt noch dürftigen) Distanzierungsforschung auf die zentrale Erkenntnis hinaus: Die Anziehungskraft des Rechtsextremseins schmilzt rapide ab, wenn ein Szenemitglied den Eindruck gewinnt, solange es sich in rechtsextremen Orientierungs- und Szenenzusammenhängen bewegt,

  • das eigene Leben nicht gut in den Griff zu bekommen,

  • Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung im Szenezusammenhang nicht (mehr) verspüren zu können,

  • im Eintreten für eine rechtsextreme Haltung und in dieser selbst keinen Sinn mehr zu sehen,

  • Bedürfnisse nach positivem und genussvollem Erleben immer wieder zurückstellen zu müssen

  • und zugleich Zugang zu anderen gewaltfernen und demokratiekompatiblen Möglichkeiten für die derart vermissten Erfahrungen zu haben.

Mit den neuen persönlichen Lebensgestaltungsmöglichkeiten verlieren dann auch die ehedem Orientierung gebenden Deutungen ihre politisch-soziale Wirkmächtigkeit und wird die Relevanz jener Selbst- und Sozialkompetenzen spürbar, die ebenso persönlicher Entwicklung wie gesellschaftlicher Anerkennung zuträglich sind. Professionelle Ausstiegshilfen sind deshalb dann Erfolg versprechend, wenn sie eine solche lebensgestaltungsorientierte Strategie verfolgen.

Fussnoten

Prof. Dr. Kurt Möller ist Professor für Theorien und Konzepte der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen und Privatdozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Seine Schwerpunkte sind Jugend-, Gewalt- und Extremismusforschung.