Man nannte es den permissive consensus: Nach einer kurzen Phase der Europabegeisterung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war die Haltung, mit der die Öffentlichkeit der europäischen Einigung gegenüberstand, über Jahrzehnte hinweg von einer wohlwollenden Gleichgültigkeit geprägt. Der Integrationsprozess war ein Projekt, das die Verflechtungen zwischen den europäischen Ländern fördern, den allgemeinen Wohlstand mehren und den Frieden sichern sollte – lauter Ziele, die man kaum ernsthaft ablehnen konnte. Worum es bei der Europäischen Gemeinschaft konkret ging, waren jedoch hochspezialisierte wirtschaftliche Fragen: Zolltarife und Importkontingente, Stahlpreise und Agrarmarktordnungen, Kartellverbote und die Sozialversicherungspflichten von Wanderarbeitern. Wer nicht gerade aus beruflichen Gründen grenzüberschreitend tätig war, spürte die Folgen der europäischen Annäherung deshalb meist nur sehr indirekt und hatte keinen Anlass, sich allzu viele Gedanken darüber zu machen. Für den größten Teil der Bevölkerung war das geeinte Europa ein hehres Ideal, aber zugleich auch etwas, was man gerne den Eliten in Wirtschaft, Politik und Verwaltung überließ.
Ab Ende der 1980er Jahre begann sich dies jedoch zu ändern. Das lag in erster Linie daran, dass der Einigungsprozess einen neuen Charakter annahm: Nachdem die EG sich bis dahin vor allem auf die sogenannte negative Integration (den Abbau von Handelshindernissen) konzentriert hatte, rückte nun die positive Integration (der Aufbau eines gemeinsamen Regelwerks) in den Mittelpunkt – etwa in Form von harmonisierten technischen Normen oder von Mindeststandards im Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz. Der europäische Binnenmarkt drang damit mehr als bisher in das Alltagsleben ein, und vor allem die 1992 im Vertrag von Maastricht vereinbarte Währungsunion zeigte große symbolische Wirkung.
Hinzu kam, dass mit den wachsenden Aufgaben auch das Budget der EG anstieg. Neben die Agrarfonds zur Subventionierung der europäischen Landwirtschaft traten die Struktur- und Kohäsionsfonds, die der Entwicklung wirtschaftlich weniger entwickelter Regionen dienen. Auch wenn ihr Volumen weit hinter dem der nationalen Haushalte zurückblieb, kamen diese Fördermittel jährlich einer Vielzahl einzelner Projekte zugute und trugen so zur Sichtbarkeit der EG bei. Schließlich wurden auch die europäischen Freiheiten für den Einzelnen besser erfahrbar – sei es durch das Schengener Abkommen von 1985, das die innereuropäischen Grenzkontrollen abschaffte, oder durch das Erasmus-Programm, das seit 1987 mehr als zwei Millionen Studenten einen Aufenthalt an einer Universität im europäischen Ausland ermöglicht hat und bis heute zu den beliebtesten EU-Errungenschaften zählt.
Das Unbehagen wächst
Doch die Hoffnungen, die die Europäische Kommission in den 1980er Jahren auf ein "Europa der Bürger" setzte, erfüllten sich nur teilweise. Zwar stieg das öffentliche Interesse an der EU tatsächlich an, und die Medien begannen, wenn auch zögerlich, öfter über Brüsseler Themen zu berichten. Mit der Gleichgültigkeit verschwand aber auch das allgemeine Wohlwollen. Stattdessen führte die Entwicklung gemeinsamer Standards rasch zum Vorwurf einer überbordenden Bürokratie, und das wachsende europäische Budget löste nach dem Regierungsantritt der britischen Premierministerin Margaret Thatcher 1979 die erste öffentliche Nettozahlerdebatte aus. Generell machte sich in großen Teilen der Bevölkerung ein diffuses Unbehagen am Integrationsprozess breit: Der Ausdruck "Europaskepsis“, Anfang der 1980er Jahre noch völlig unbekannt, entwickelte sich in den 1990ern zu einem gängigen politischen Schlagwort.
Erste handfeste Folgen zeigte diese Entwicklung, als 1992 die Dänen den Vertrag von Maastricht in einem Volksentscheid ablehnten. Ein Jahr später setzten sich bei einem neuen Referendum zwar doch noch die Befürworter des Vertrags durch, sodass dieser schließlich in Kraft treten konnte. Bei vielen der Skeptiker jedoch verfestigte sich der Eindruck, dass das Mehrheitsvotum bei dieser wichtigen politischen Entscheidung schlicht übergangen worden war – umso mehr, als sich ähnliche Szenarien bei späteren Vertragsreformen auch in anderen Ländern wiederholten. In Großbritannien, aber auch anderswo, entstanden explizit integrationsfeindliche Parteien, die sich für einen Austritt aus der EU, mindestens aber für eine Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten einsetzten.
Einen neuen Höhepunkt erreichte die Unzufriedenheit ab 2008 mit der Eurokrise, die nicht nur die Funktionsweise der Währungsunion in Frage stellte, sondern auch zu einem Testfall für die Solidaritätsbereitschaft der Europäer wurde. Die Kombination aus neuen Hilfsinstrumenten einerseits und einer strikten Sparpolitik andererseits, mit der der Europäische Rat die Krise zu lösen versuchte, stieß dabei auf allen Seiten auf Widerstand. Während viele Südeuropäer sich vom Rest der EU gegängelt und im Stich gelassen fühlten, wuchs im Norden die Furcht vor einer "Transferunion“, bei der man dauerhaft für die Schulden anderer Länder würde bezahlen müssen. Bei der Europawahl 2014 zeigte sich dieser Unmut schließlich auch an den Urnen. Während die großen Parteien in der Mitte des politischen Spektrums teils deutliche Verluste erlitten, wurden die Ränder so stark wie noch nie: in Südeuropa vor allem linke, in Nord- und Mitteleuropa hingegen eher rechts- und nationalpopulistische Parteien.
Die Konsensmaschine verliert Rückhalt
Rund fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des permissive consensus ist die Haltung der europäischen Gesellschaft zum Integrationsprozess damit widersprüchlicher denn je. Vor allem unter den besser gebildeten, jüngeren und mobileren Menschen ist es nicht unüblich, mehrere Fremdsprachen zu sprechen, einen internationalen Freundeskreis zu haben und sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als "Europäer“ zu verstehen. Unter jenen, die die Vorteile der Integration nicht unmittelbar erfahren, macht sich hingegen eine Ablehnung gegenüber dem gesamten europäischen politischen System breit, die weit über eine bloße Kritik an einzelnen Gesetzgebungsakten hinausgeht. Bestimmte Motive leuchten dabei zwar immer wieder auf: etwa die Angst um den eigenen Wohlstand, vor kultureller "Überfremdung“ oder vor einem Verlust an nationaler Souveränität. Wie realistisch diese Befürchtungen sind, spielt dabei jedoch oft nur eine untergeordnete Rolle, und auch die Gegenvorschläge der Europaskeptiker bleiben meist eher vage. Was ihre Haltung hauptsächlich ausmacht, ist vielmehr das Gefühl, übergangen zu werden und kein Gehör zu finden – und deshalb keine andere Möglichkeit zu haben, als sich gegen den europäischen Integrationsprozess an sich zu wehren.
Wo kommt dieses Gefühl her? Spricht man darüber mit Vertretern der supranationalen EU-Institutionen, so stößt man oft auf ein gewisses Befremden. Aus ihrer eigenen Sicht sind diese schließlich schon heute transparenter und bieten mehr Partizipationsmöglichkeiten, als in den meisten Nationalstaaten üblich sind: Die "legislative Beobachtungsstelle“ des Europäischen Parlaments etwa ermöglicht es, Gesetzgebungsverfahren detailliert mitzuverfolgen.
Gewiss, daneben gibt es auch die sprichwörtlichen Hinterzimmer-Vereinbarungen – etwa den sogenannten "informellen Trilog“, bei dem sich Vertreter aller drei großen EU-Institutionen (Kommission, Parlament und Rat) treffen, um vor wichtigen Gesetzgebungsbeschlüssen abseits des offiziellen Verfahrens Kompromissmöglichkeiten auszuloten. Gerade diese beständige Suche nach Kompromissen ist in den Augen vieler Europafreunde ein schlagender Beweis dafür, dass die EU nichts mit dem quasi-diktatorischen Regime zu tun hat, als das die Skeptiker sie gerne darstellen. Im Gegenteil: Ihrer ganzen Struktur nach ist die EU eher eine Konsensmaschine, die durch eine ganze Reihe von Verfahrensmechanismen verhindert, dass eine einzelne Institution, ein einzelnes Land oder eine einzelne Partei im Alleingang ihre Interessen durchsetzen kann.
Und dennoch dürfte paradoxerweise gerade der ständige Kompromisszwang eine der wichtigsten strukturellen Ursachen dafür sein, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung immer weniger von der europäischen Politik vertreten fühlt. Tatsächlich sind es nämlich wiederum vor allem die ohnehin integrationsfreundlicheren Wirtschafts- und Bildungseliten, die die Interaktionskanäle der EU nutzen und auf dem Weg der mühevollen Lobby- und Überzeugungsarbeit ihre Interessen in das politische System einspeisen können. Dem größten Teil der übrigen Bevölkerung hingegen fehlen dazu schlicht die Zeit und die Ressourcen. Um eine breite demokratische Legitimation zu erzeugen, sind deshalb Verfahren notwendig, die es den Bürgern auch mit wenig Aufwand ermöglichen, das politische Geschehen zu verstehen und sich daran zu beteiligen.
Mit "mehr Europa" gegen die Europaskepsis
In den meisten Nationalstaaten spielt dafür die Dynamik zwischen Regierung und Opposition eine entscheidende Rolle: Wer mit den herrschenden Verhältnissen unzufrieden ist, der braucht nur einen Stimmzettel, um bei der nächsten Wahl der Opposition zur Macht zu verhelfen und so einen Politikwechsel herbeizuführen. Auf europäischer Ebene entfällt diese Dynamik jedoch. Da Beschlüsse in der Regel ohnehin nur zustande kommen, wenn mindestens die beiden größten Parteien im Europäischen Parlament ihnen zustimmen, können diese ihre politischen Gegensätze kaum noch öffentlich ausleben. Die europäischen Entscheidungsverfahren erzwingen eine Art permanente Große Koalition, die faktisch nicht abwählbar ist. Genau dies aber erzeugt den Eindruck der "Alternativlosigkeit", der die EU oft so bedrohlich wirken lässt. In einem allzu komplexen politischen System ist die Wahl populistischer und extremistischer Parteien deshalb für viele Menschen vor allem ein verzweifelter Versuch, überhaupt noch eine Wirkung zu erzielen: Da es innerhalb der Brüsseler Konsensmaschine kein Ventil für ihre Unzufriedenheit gibt, geben sie ihre Stimme eben einer Partei, die die europäische Integration insgesamt ablehnt.
Will man verhindern, dass sich europafeindliche Parteien dauerhaft festsetzen, muss man deshalb Mechanismen schaffen, die es den Bürgern erlauben, mit einfachen Mitteln einen spürbaren Einfluss auf die Europapolitik zu nehmen. Der alte permissive consensus, die wohlwollende Gleichgültigkeit der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der europäischen Integration, wird nicht zurückkehren – dafür ist die europäische Gesellschaft längst zu verflochten und die EU zu wichtig für unser Alltagsleben geworden. Um die Nationalpopulisten zu bremsen, hilft es aber auch nicht, sich auf ihre Forderung nach einer Entmachtung der supranationalen Institutionen einzulassen. Im Gegenteil: Der Versuch, "Bürgernähe" durch mehr nationale Vetorechte zu erreichen, würde die politische Verantwortlichkeit für gemeinsame europäische Entscheidungen nur noch weiter verschwimmen lassen. Was die EU braucht, um Legitimität zurückzugewinnen, ist vielmehr ein funktionierendes demokratisches Wechselspiel zwischen einer gewählten (und abwählbaren) Mehrheit und einer loyalen Opposition. Das aber geht nur über eine Stärkung des Europäischen Parlaments, etwa indem man die notwendigen Mehrheiten für die Gesetzgebung absenkt, den Einfluss des Ministerrats reduziert und die Mitglieder der Europäischen Kommission künftig allein durch das Parlament wählen lässt.
"Mehr Europa", um die Europaskepsis zu überwinden? Auf den ersten Blick mag dies nach einem paradoxen und reichlich elitären Vorschlag aussehen. Das dahinterstehende Ziel aber ist durchaus nicht elitär – geht es doch um die Idee einer Europäischen Union, in der nicht "Sachzwang"-Argumente vorherrschen, sondern jeder Bürger die Möglichkeit bekommt, durch Wahlen inhaltliche und personelle Richtungsentscheidungen zu treffen. Die alte Konsensmaschine war lange Zeit gut geeignet, um einen Interessenausgleich zwischen den europäischen Eliten herbeizuführen. Um jedoch auch die breite Bevölkerung mit einzubinden, muss sie von einer neuen Kultur des demokratischen Wettstreits abgelöst werden. Missmut und Kritik wird es immer geben, sie gehören zur Politik ganz selbstverständlich dazu. Nur wenn das politische System der EU sie richtig kanalisiert, kann es populistischen und extremistischen Parteien das Wasser abgraben, bevor es zu einem Dammbruch kommt.