Wann und in welchem Zusammenhang tauchte der Begriff Neue Rechte zum ersten Mal in Deutschland auf?
Richard Stöss: Ursprünglich Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Das hing zusammen mit dem Zerfall der NPD. Und zwar war die NPD ja Mitte der 60er-Jahre eine sehr erfolgreiche Partei, die in sieben Landtagen präsent war. In Westdeutschland allerdings. Und sie ist nach der Bundestagswahl 1969 zerfallen. Und dann gab’s unterschiedliche Diskussionen darüber, warum denn dieser Zerfall eingetreten ist und es gab eben eine Gruppierung, die sagt: "Naja, Opas Faschismus ist heute eigentlich tot. Die Orientierung an der Weimarer Republik, sei es am Nationalsozialismus, sei es am deutschen Nationalismus, das ist überholt. Der Zweite Weltkrieg hat neue Bedingungen geschaffen und wir müssen den Nationalismus und auch das völkische Denken neu begründen." Und das haben die damals erstmalig gemacht.
Und was würden Sie als das ideologische Kernstück der Neuen Rechten bezeichnen?
RS: Damals wurde die Erneuerung oder die Modernisierung des Rechtsextremismus an zwei Punkten festgemacht. Rechtsextremismus ist ja inhaltlich völkischer Nationalismus. Also sie mussten einen neuen Begriff des Nationalismus prägen und sie mussten einen neuen Begriff des völkischen Denkens prägen. Neuer Begriff des Nationalismus war eben, dass sie gesagt haben: "Man kann nicht davon ausgehen, dass das Deutsche Reich fortexistiert, sondern wenn das Deutsche Reich neu gegründet werden muss, muss das eine Bewegung von unten sein. Es muss ein nationaler Befreiungskampf sein." Es ist also ein neuer Begriff von Nationalismus. Und das völkische Denken wurde neu interpretiert. Man ging vom klassischen Rassismus weg, also dem biologischen Rassismus, der davon ausgeht, dass es sozusagen Unterordnung und Überordnung innerhalb der […] einzelnen in Anführungszeichen Rassen gibt. Es gibt höherwertige und minderwertige Rassen. Das haben sie alles abgelehnt und haben gesagt: "Nein, es gibt heute mittlerweile Kulturen oder Ethnien und diese Ethnien sind alle gleichberechtigt. Und sie haben ein Existenzrecht nebeneinander, aber sie dürfen sich nicht vermischen." Das ist der Ethnopluralismus und daher kommt dann der Begriff "Deutschland den Deutschen", "Ausländer raus" oder in Frankreich "Les Français d’abord", also "die Franzosen zuerst" und, und, und.
Inwiefern hat sich denn die Neue Rechte in den letzten Jahren weiterentwickelt? Wo steht die Neue Rechte heute?
RS: Im Wesentlichen wird der Gedanke des Ethnopluralismus fortgesetzt. Der neue Nationalismus hat sich eigentlich nicht durchsetzen können. Das heißt also dieser nationalrevolutionäre Aspekt hat an Bedeutung verloren, würde ich mal sagen. Der wird nur noch von ganz wenigen Gruppen oder Intellektuellen vertreten. Aber der Ethnopluralismus [hat Konjunktur], gerade eben im Zusammenhang mit der angeblichen Überfremdung des deutschen Volkes durch Muslime, mit der Flüchtlingswelle, die wir im Augenblick haben – die im Übrigen angeblich ja ein Anschlag auf das deutsche Volk sei. Dass das sozusagen das Hauptthema im Augenblick ist. Ethnopluralismus in Gestalt vor allen Dingen des antimuslimischen Rassismus.
Und in welchem Zusammenhang würden Sie nun sagen, stehen die Begriffe Neue Rechte und Rechtspopulismus?
RS: Also ich selbst habe ja mit dem Begriff Rechtspopulismus große Probleme, weil damit unterschiedliche Gruppierungen in einen Topf geworfen werden, die sehr unterschiedlich sind. Handelt es sich da um rassistische oder um nationalistische Gruppierungen oder handelt es sich eben nur um einen gemäßigten Rechtsextremismus, der beispielsweise im Rahmen der bestehenden Gesetze seine Ziele, die allerdings rechtsextrem sind, durchsetzen will. Das sind für mich alles große Unterschiede. Die Theorie des Rechtspopulismus wirft alles in einen Topf, weil sie sagt: "Naja, alle transportieren die Vorurteile und wollen sozusagen den herrschenden Parteien, den herrschenden Politikern, den herrschenden Medien eins auswischen." Das ist mir zu kurz geschlossen.
Wie stark ist denn die neue Rechte heute?
RS: Ja, die Frage nach ihrem Einfluss innerhalb des politischen Systems, die ist schon unheimlich spannend. Und sie ist auch schwer zu beantworten. Wenn man mal davon ausgeht, dass es sich ja um eine intellektuelle Bewegung handelt, ist ja genau die Frage, inwieweit orientieren sich denn eigentlich die rechtsextremen Bewegungen oder die rechtskonservativen Bewegungen, die Parteien, die Gruppierungen, in wieweit orientieren sie sich eigentlich an den Vorgaben. Ich denke immer, dass man so den Begriff "Wegbereiter" benutzen kann. Also sie nehmen nicht unmittelbar politischen Einfluss, bis auf wenige Ausnahmen. Es gibt einige von denen irgendwie, die tatsächlich auch auf PEGIDA-Veranstaltungen auftreten oder so. Aber normalerweise… Die treten auf solchen Veranstaltungen nicht auf. Sondern sie publizieren. Sie schreiben in Zeitungen und Medien, aber das, was sie da schreiben, wird natürlich von denjenigen, die Politik machen, zur Kenntnis genommen und wird sozusagen dann auf [die] aggressive Polemik umgesetzt um die, [die] an Veranstaltungen oder Demonstrationen teilnehmen, regelrecht aufzuputschen. Also, sie haben sozusagen die Funktion des Wegbereiters, aber sie sind nicht unmittelbar selbst oder zumeist, muss man sagen, nicht unmittelbar selbst an den politischen Aktivitäten beteiligt. Aber ohne die ging’s eigentlich auch nicht, weil sie die Ideenlieferanten sind.
Und ist die Neue Rechte gefährlich?
RS: Also, wenn man meiner Definition folgt, dass die Neue Rechte sich gegen die liberale Demokratie, gegen universalistische und egalitäre Werte richtet, dann richtet sie sich ja auch gegen die Menschen- und gegen die Bürgerrechte. Sie richtet sich gegen ein demokratisches System, was sozusagen all diese Grundrechte mit bedenkt und das heißt natürlich, dass sie tendenziell, auch wenn sie das nicht unmittelbar selbst so sagen und so wollen, sich unmittelbar gegen die Demokratie richten und natürlich ist das gefährlich.