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Der Einzeltäter im Terrorismus | Rechtsextremismus | bpb.de

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Der Einzeltäter im Terrorismus Definition, Fehldeutungen, Typologie, Zusammenhang

Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber

/ 9 Minuten zu lesen

Am 9. Oktober 2019 tötete ein Einzeltäter zwei Menschen in Halle. Vorher hatte er vergeblich versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen. Was genau ist unter "Einzeltäter" oder "Einsamer Wolf" zu verstehen? Und was nicht?

18.10.2019, Sachsen-Anhalt, Halle: Die durch Beschuss beschädigte Tür der Synagoge Halle. Am 9. Oktober hatte ein Attentäter schwer bewaffnet erst versucht, in eine Synagoge einzudringen. Als sein Plan misslang, erschoss er auf der Straße eine 40 Jahre alte Frau und kurz darauf einen 20-jährigen Mann in einem Imbiss. (© picture-alliance/dpa)

Wird ein terroristischer Anschlag von einer einzelnen Person begangen, dann lässt sich danach in vielen Kommentaren ein regelmäßiger Reflex ausmachen. Dieser besteht in folgender Deutung: Zwar habe ein Einzelner die Tat begangen, aber dieser sei kein Einzeltäter. Der Begriff ignoriere, dass der Gemeinte in einem politischen Umfeld sozialisiert worden sei. Die Bezeichnung leugne, dass es auch aus der Gesellschaft heraus politische Stimmungen zugunsten eines solchen Terrorismus gegeben habe. Dabei meint Einzeltäter nur, dass ein Einzelner eine Tat begangen hat. Es wird lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass nicht eine bestimmte Gruppe, sondern eine einzelne Person handelte. Diese Einsicht bedeutet nicht, dass der gemeinte Einzeltäter in allgemeiner Isolation lebte. Derartige Fehldeutungen machen es notwendig, das Wort klar zu definieren und hinsichtlich seiner Verwendungsweisen zu unterscheiden.

Allgemeine Definition von Einzeltäter

Terroristische "Einzeltäter" bzw. "Lone Actors", "Einsame Wölfe" bzw. "Lone Wolfs" weisen folgende Merkmalen auf: Sie agieren erstens allein, sie folgen zweitens keiner Gruppe und ihre Handlungen sind drittens selbstbestimmt. Dabei fällt der Blick auf die konkrete Tat. Demnach kann der Einzeltäter durchaus einer extremistischen Organisation angehört haben. Der entscheidende Aspekt besteht darin, dass der Anschlag oder das Attentat als konkrete Handlung von ihm selbst ohne direkte Einwirkung von anderen Personen umgesetzt wurde. Es ist weder ausgeschlossen, dass er von einer extremistischen Gruppe ideologisiert noch, dass er von gesellschaftlicher Stimmung motiviert wurde. Der Begriff bezieht sich demnach auf Tatplanung und -umsetzung.

Kursierende Begriffe und inhaltliche Missverständnisse

Die erwähnten Begriffe "Einzeltäter" und "Lone Actor", "Einsamer Wolf" und "Lone Wolf" lassen immer wieder Missverständnisse aufkommen, die mit den erwähnten Fehldeutungen des eigentlich Gemeinten zusammenhängen. Dies gilt insbesondere für das zweite Begriffspaar "Einsamer Wolf" und "Lone Wolf", denn es handelt sich um Formulierungen, die im angesprochenen Kontext auf einen US-amerikanischen Rassisten zurückgehen: Seit Mitte der 1990er Jahre propagierte Tom Metzger ein entsprechendes Vorgehen, war doch dem Bild vom "einsamen Wolf" ein mythischer Reiz eigen. Für die Forschung stellt sich aber die Frage, ob die Formulierung für das Phänomen übernommen werden sollte. Wie einschlägige Buchtitel zeigen, geschah dies im englischsprachigen Raum. Wenn der Begriff "einsamer Wolf" in der rechtsextremistischen Szene positiv konnotiert ist, ist er aus Sicht des Verfassers aber eher ungeeignet für die objektive Beschreibung eines Phänomens. Demgegenüber ist der Begriff "Einzeltäter" eigentlich weniger und die Bezeichnung "Lone Actor" noch nicht missverständlich.

Ideologische Ausrichtung des Einzeltäter-Terrorismus

Der Einzeltäter-Terrorismus hat darüber hinaus eine längere Geschichte, außerdem findet man einschlägige Akteure in unterschiedlichen ideologischen Bereichen. Zwar gibt es gegenwärtig kaum Einzeltäter im Linksextremismus, hier kann aber die historische Wurzel gesehen werden. So gab es mehrere Attentate von Einzelpersonen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei bedeutende Monarchen und hochrangige Politiker ermordet wurden. Meist entstammten die terroristischen Akteure anarchistischen Organisationen, führten aber ihre Attentate aufgrund von individuellen Entschlüssen ohne deren Vorgaben durch. Gegenwärtig bedienen sich eher islamistische und rechtsextremistische Terroristen einer solchen Vorgehensweise. Es gibt ein derartiges Agieren aber auch in anderen Kontexten, wozu Anschläge von Anti-Abtreibungsterroristen in den USA oder Attentate von jüdischen Extremisten in Israel zählen.

Einzeltäter-Terrorismus und der reale und virtuelle Zusammenhang

Ein Einzeltäter handelt zwar allein, er bewegt sich aber in einem Kontext. Es kann dazu folgende Typologisierung vorgenommen werden

  1. gibt es Einzeltäter, die einer gewaltorientierten Gruppe angehören, diese aber über ihre geplanten Handlungen nicht informieren. Dafür stehen David Copelands drei Nagelbombenanschläge in London von 1999. Er gehörte sogar zu den Führungsfunktionären einer rechtsextremistischen Organisation.

  2. gibt es Einzeltäter, die einer gewaltorientierten Gruppe angehörten, worin sie eine ideologische Prägung erhielten. Dies gilt für Frank S., der 2015 einen Messerangriff auf die Politikerin Henriette Reker durchführte. Er gehörte dabei keiner politischen Gruppe an, war aber in den 1990er Jahren in neonazistischen Organisationen politisch sozialisiert worden.

  3. gibt es Einzeltäter, die sich über das Internet radikalisieren, wobei sie keine persönlichen Kontakte eingehen. Dafür steht Stephan B., der 2019 ein Massaker an Juden in einer Synagoge in Halle anrichten wollte. Er gehörte keiner rechtsextremistischen Gruppe an, fühlte sich aber über das Internet einer virtuellen Gemeinschaft zugehörig.

  4. schließlich gibt es Einzeltäter, die sich durch eine angebliche gesellschaftliche Stimmung motiviert fühlen, wodurch sie eine subjektive Motivation erfahren haben wollen. Dies trifft auf Roland K. angesichts seines Mordversuchs an einem eritreischen Flüchtling 2019 zu, meinte er doch im angeblichen Namen eines bedrohten Volkes zu handeln.

Demgemäß handelt jeder der gemeinten Einzeltätertypen zwar allein, ist aber in unterschiedlicher Form durch sein aktuelles oder früheres Umfeld geprägt. Diese Einsicht wird möglicherweise durch eine "Einsamer Wolf"-Vorstellung weniger wahrgenommen.

Differenzierung von Leaderless Resistance- und Lone Wolf-Terrorismus

Auch in der Fachliteratur geraten mitunter "Leaderless Resistance" und "Lone Wolf" als Terrorismusformen durcheinander. Gemeinsam ist Akteuren beider Formen, dass sie autonom ohne Einbettung in die Hierarchie einer größeren Organisation handeln. Je kleiner die Organisation, desto schwieriger ist der Zugriff für Sicherheitskräfte. Die Unterscheidung ergibt sich durch die Zahl. Während "Leaderless Resistance" für zwei und mehr Personen steht, steht "Lone Wolf" nur für eine einzelne Person. Auch die erstgenannte Organisationform wurde im gewaltorientierten US-Rechtsextremismus entwickelt, wenngleich es das damit gemeinte Modell von eigenständigen Zellen bereits zuvor gab. In Deutschland standen etwa seit den 1970er Jahren die linksterroristischen "Revolutionären Zellen" dafür.

Politische und psychische Bedingungsfaktoren im Wechselverhältnis

Bei der Analyse der Biographien von Einzeltätern zeigt sich immer wieder, dass die Akteure meist psychische Probleme aufwiesen. Häufig waren sie schon im frühkindlichen Alter verhaltensauffällig oder galten später als beruflich oder schulisch Gescheiterte. Derartige Beobachtungen warfen gelegentlich die Frage auf, ob hier die ideologischen Absichten nur behauptet wurden und die psychischen Veranlagungen relevanter waren. Damit einhergehende Deutungen liefen nicht selten auf eine Psychologisierung der Taten hinaus. Sie wiesen zwar auf einschlägige Bedingungsfaktoren hin, ignorierten aber die ideologischen Komponenten, die insbesondere mit der Opfer- und Zielauswahl zusammenhingen. Denn dadurch wird bereits die politische Dimension der gemeinten Gewalthandlungen deutlich. Darüber hinaus müssen ideologische und psychologische Bedingungsfaktoren nicht im Gegensatz zueinander stehen, sie bewegen sich nur auf unterschiedlichen Ebenen.

Fallbeispiel: Arid Uka mit den Anschlägen auf US-Soldaten

Um das bisher Ausgeführte besser nachvollziehbar zu machen, sollen hier zwei Fallbeispiele betrachtet werden. Zunächst geht es um den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland mit Todesfolgen. Diesen führte der kosvostämmige Arid Uka 2011 aus, als er auf dem Frankfurter Flughafen gezielt auf US-Soldaten schoss, zwei tötete und zwei weitere schwer verletzte. Als Kind soll er sexuell missbraucht worden sein, und dies spielte für seine Motivation womöglich eine Rolle. Denn als Auslöser für seine Taten gilt ein Videoclip, worin muslimische Frauen von US-Soldaten vergewaltigt wurden. Es handelte sich indessen nicht um ein reales Ereignis, sondern eine fiktive Spielfilmszene. Gleichwohl führte diese Betrachtung bei dem gläubigen Muslim zu einer entsprechenden Radikalisierung. Diese wurde offenbar noch dadurch bestärkt, dass er über das Internet kommunikativen Kontakt zu islamistischen Organisationen hatte. Arid Uka handelte indessen allein und eigenständig.

Fallbeispiel: Stephan B. und der versuchte Anschlag auf eine Synagoge

Bei dem zweiten Beispiel geht es um Stephan B. und den versuchten Anschlag auf eine Synagoge 2019, in der er ein Massaker anrichten wollte. Da B. aber nicht durch die Sicherheitstür kam, schoss er an anderen Orten der Stadt. Dabei starben zwei Menschen, zwei wurden schwer verletzt. Auch bei ihm gab es persönliche Besonderheiten, er war beruflich wie sozial gescheitert, hatte entgegen seines Wunsches keinen Beruf und war sozial isoliert ohne Freunde und Beziehung. Einer Organisation gehörte er nicht an, seine Taten beging er allein. Aber auch bei ihm lassen sich Einflüsse aus dem medialen Umfeld konstatieren. So hatte er antisemitische Einstellungen, die in der Holocaust-Leugnung und judenfeindlichen Verschwörungsvorstellungen mündeten. Darüber hinaus bewegte B. sich bei seiner Internet-Nutzung in gewaltaffinen Zusammenhängen. Er wollte auch ein Einzeltäter-Massaker in Neuseeland nachahmen.

Bedeutung des Internets für die Radikalisierung

Bei all dem wird die Bedeutung des Internet für die individuelle Radikalisierung deutlich, wobei eine formale und inhaltliche Komponente unterschieden werden muss. Während früher die konspirative Gruppe für eine terroristische Person von hoher Relevanz war, wird die persönliche Einbindung zunehmend durch eine kommunikative Vernetzung ersetzt. Dies gilt ganz allgemein für terroristische Akteure, aber insbesondere für die gemeinten Einzeltäter. Gleichwohl darf aus dieser Einsicht keine monokausale Erklärung abgeleitet werden, denn es gab solche Gewalttäter schon lange vor dem Internet. Das Internet ermöglicht aber aufgrund der besonderen Kommunikationsweise, dass sich Einzelne ohne persönliche Kontakte politisieren und in Richtung eines ideologisch geprägten Terrorismus radikalisieren. Dabei können sie in einem kommunikativen Austausch mit entsprechenden Extremisten im Internet stehen, sie können aber auch nur deren Propaganda konsumieren.

Definition von Gamifizierung des Terrorismus

Bei jüngeren Einzeltäter-Fällen kam die Formulierung "Gamifizierung des Terrorismus" auf. "Gamifizierung" (deutsch mitunter auch "Spielifizierung") meint allgemein, dass spieltypische Merkmale auf spielfremde Zusammenhänge übertragen werden. Hierzu gehören etwa Bewertungspunkte oder Ranglisten, die auch für einzelne Terroristen bedeutsam sind. Dabei geht es um die Anhänger von Computerspielen, hier insbesondere Ego-Shooter. Diese versetzten sich in die Rolle eines Schützen, der so viele Gegner wie möglich töten muss, um eine hohe Punktzahl zu erhalten. Die Einzeltäter lassen sich mitunter vom Spiel zu Taten in der Wirklichkeit motivieren. Sofern dieses Agieren mit einschlägigen Feindbildern und Mentalitäten verbunden ist, kann es sich auch in Form von Gewalttaten gegen bestimmte soziale Gruppen artikulieren. Der erwähnte Stephan B. steht für einen solchen Fall von "Gamifizierung".

Einwände zu Fehldeutungen in der Forschung

In der Forschung im englischsprachigen Raum wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass es sich beim "Lone Wolf-Terrorismus" um einen Mythos handele. Die Analyse von über hundert Fallbeispielen habe bei über der Hälfte deutlich gemacht, so die Begründung für derartige Einwände, dass die Akzeptanz einer extremistischen Einstellung und die Bereitschaft zu gewalttätigem Handeln dem sozialen Umfeld bekannt gewesen wären. Zwar galten auch über die Hälfte als sozial isoliert, aber über ein Drittel habe zu Gleichgesinnten zumindest virtuelle Kontakte gehabt. Diese Erkenntnisse sprechen indessen nicht gegen die Rede, welche sich auf Einzeltäter bzw. Lone Actor bezieht. Denn wie ausgeführt können die Gemeinten sich sehr wohl in einem politischen und sozialen Umfeld finden. Gleiches gilt für die virtuelle Dimension der einschlägigen Internet-Nutzung. Bei der Definition von "Einzeltäter" kommt es eben allein auf die konkrete Handlung durch eine Person an.

Besonderheiten des Einzeltäter-Gefahrenpotentials

Der Anstieg von derartigen Fällen in den vergangenen Jahren kann nicht überraschen, denn es wurde immer wieder prognostisch aus der Extremismus- und Terrorismusforschung darauf hingewiesen. Dabei kommt der Bedeutung des Internet hohe Relevanz zu. Während früher die extremistischen und gewaltverherrlichenden Botschaften durch persönliche Kontakte in einschlägige Milieus hinein wahrgenommen wurden, sind sie heute nur noch einen Mausklick am Schreibtisch des potentiellen Täters entfernt. So kann eine Radikalisierung hin zum Terrorismus auch allein erfolgen, sie setzt keine Mitgliedschaften in extremistischen Organisationen mehr voraus. Außerdem erfolgen so Entwicklungen von der Gamifizierung über die Gewaltenthemmung und Politisierung bis hin zum Terrorismus schneller. Anschläge durch derartige Einzeltäter lassen sich von den Sicherheitsbehörden nur schwerlich verhindern. Darin besteht denn auch deren besonderes Gefahrenpotenzial.

Literatur

Ebner, Julia: Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, Berlin 2019.

Gartenstein-Ross, Daveed: Lone Wolves No More: The Decline of a Myth (27. März 2017), in: www.foreignaffairs.com.

Gill, Paul: Seven Findings on Lone Wolf Terrorists (6. Februar 2013), in: www.sites.psu.edu.

Hamm, Mark S./Spaaij, Ramón: The Age of Lone Wolf Terrorism, New York 2017.

Michael, George: Lone Wolf Terror and the Rise of Leaderless Resistance, Nashville 2012.

Pfahl-Traughber, Armin: Die Besonderheiten des "Lone-Wolf"-Phänomens im Rechtsterrorismus, in: Ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2015/2016, Brühl 2016, S. 230-263.

Schuurman, Bart u.a., End of the Lone Wolf: The Typology that Should Not Have Been, in: Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 42, Nr. 8, 2019, S. 771-779.

Simon, Jeffrey D: Lone Wolf Terrorism. Unterstanding the Growing Threat, New York 2013.

Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Jg. 1963, ist hauptamtlich Lehrender an der Fachhochschule des Bundes in Brühl mit den Schwerpunkten Extremismus und Ideengeschichte, Lehrbeauftragter an der Universität zu Bonn mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Herausgeber des seit 2008 erscheinenden Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung (Brühl).