Die Transitautobahn A 24 zwischen Hamburg und Berlin
Eine deutsch-deutsche Bau- und Beziehungsgeschichte
Die Autobahnstrecke A24 zwischen Hamburg und Berlin war in den 1980er-Jahren ein sehr spezifischer Ort deutsch-deutscher Beziehungen. Planung, Bau und Nutzung der A24 von den 1970er-Jahren bis in die 1990er-Jahre wird nun in einem zeithistorischen Forschungsprojekt untersucht."Wie lange braucht ein Deutscher aus Hamburg, um über die Grenze eines anderen Landes zu kommen? Diese Messzahlen internationaler Verhältnisse sind vielleicht außenpolitisch irrelevant (aber sind sie das wirklich?); für jeden einzelnen, der sich aufmacht, werden sie wichtig".[1] So beginnt die sehr subjektive Beschreibung eines Grenzübertritts zwischen der Bundesrepublik und der DDR Mitte der 1960er-Jahre. Tatort ist die Autobahn, genauer: die Transitautobahn, die im Folgenden als zeithistorischer Untersuchungsort am Beispiel der A 24 zwischen Hamburg und Berlin im Mittelpunkt steht.
In der zeitgeschichtlichen Erforschung der 1970er- und 80er-Jahre ist die Autobahnforschung bisher wenig präsent, während für die Autobahngeschichte bis in die Nachkriegszeit etliche verkehrs- und kulturgeschichtliche Studien vorliegen. Die Vorgeschichte des Autobahnbaus in der Weimarer Republik[2] ist – nach einer Konzentration auf die Erforschung der Reichsautobahnen bis in die frühen 1990er-Jahre – inzwischen Gegenstand mehrerer Untersuchungen.[3] Für die 1930er-Jahre stand neben der Erforschung der Gesamtkonzeption "Reichsautobahn"[4] und Einzeluntersuchungen zu Reichsautobahn-Strecken[5] bisher vor allem die von den Nationalsozialisten propagierte "Inszenierung der Landschaft"[6] im Vordergrund der kunstgeschichtlichen[7], aber auch kulturgeschichtlichen Forschung.[8] Für die Erforschung der Autobahnen in der Bundesrepublik und in der DDR verlagerte sich der Schwerpunkt der Untersuchungen auf den Konnex von Motorisierung und Wiederaufbau[9] sowie auf die mit dem Autobahnbau verbundene Infrastrukturplanung.[10] Hinzu kommen einzelne Aspekte wie Autokonsumkultur[11] sowie Verkehrssicherheit und Autokritik[12]. Auch die Transitbestimmungen, der Grenzübergang Marienborn und die Überwachung durch die Staatssicherheitsorgane auf den DDR-Autobahnen der 1950er- und 60er-Jahre sind beforscht – zu nennen ist insbesondere die einzige Studie zu den DDR-Autobahnen von Axel Dossmann.[13] Blickt man auf die Jahre nach der Ölkrise 1973/74, findet sich jedoch nur wenig Forschungsliteratur. Ebenfalls kaum beachtet sind die Architekturen der Autobahn wie Raststätten, Grenzübergänge, Parkplatzanlagen und Tankstellen.[14]
Im Folgenden sollen am Beispiel eines neuen Projektes zur Autobahnverbindung zwischen Hamburg und Berlin in Form eines Werkstattberichtes Perspektiven auf erweiternde Fragestellungen zur Verkehrs- und Autobahnforschung aufgezeigt werden.[15] Die Erforschung des speziellen deutsch-deutschen "Erfahrungsraums" Autobahn zwischen den beiden größten Städten der Bundesrepublik kann in mehrfacher Hinsicht einen interessanten Beitrag zur jüngsten Zeitgeschichte leisten. Denn einerseits soll in Erweiterung der viel diskutierten These einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" (Christoph Kleßmann)[16] der Aspekt der Verflochtenheit betont werden: Die 239 Kilometer der A 24, die 1982 eröffnet und zum größten Teil durch bundesdeutsche Mittel finanziert wurde, verlaufen auf beiden Staatsgebieten und boten an Grenzübergangsstellen, Raststätten, Intershops (Läden, in denen westliche Konsumartikel gegen Devisen verkauft wurden), Tankstellen und Parkplätzen besondere Berührungspunkte zwischen Ost und West. Gleichzeitig soll auf der Vergleichsebene stärker als bisher üblich eine Symmetrie in der Darstellung der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten angestrebt werden. Dazu ist es im Anschluss an kulturwissenschaftliche Ansätze zum Beispiel notwendig, kulturelle Praktiken in der DDR nicht nur mit Blick auf die Überwachungspraktiken an der Grenze zu untersuchen.
Die Analyse deutsch-deutscher Beziehungen an der Autobahn rückt eine bisher wenig bekannte, alltagsgeschichtliche Perspektive auf die DDR der 1980er-Jahre in den Vordergrund, wobei die Autobahn als Raum verstanden wird, in dem sich deutsch-deutsche Begegnungen zwischen Reisenden aus Ost und West, Berufspendlern aus West-Berlin, Grenzbeamten, Passkontrolleuren, Tankwärtern, Raststätten-Mitarbeitern, Intershop-Besuchern aus Ost und West sowie Volkspolizisten abspielten.[17] Dabei geht es um die Frage, ob tatsächlich nur die erwartbaren gegenseitigen deutsch-deutsch Stereotype – Stichwort "Angstraum Transit" aus der Perspektive des Westens – bestätigt wurden oder ob auf der Autobahn andere Formen der Kommunikation sowie gegenseitiger Beobachtung und damit andere Bilder über "die Anderen" jenseits der Grenze möglich waren.
Die Studie setzt in den 1970er-Jahren ein und ist auf drei Ebenen angesiedelt: Erstens werden die politischen Annäherungs- und Aushandlungsprozesse zwischen der Bundesrepublik und der DDR untersucht. Ausgangspunkt bildeten unter anderem die neue Ostpolitik Willy Brandts, aber auch praktische Fragen wie die Abwicklung des Transitverkehrs, die in den 1970er-Jahren neu ausgehandelt und im Transitvertrag von 1971 festgeschrieben wurden. Dieser bildete die Grundlage für Verhandlungen um den Neubau der A 24 bis 1978 sowie der Durchführung des Baus bis 1982, der auf der zweiten – baugeschichtlichen – Ebene der Studie rekonstruiert wird. Drittens stehen erfahrungsgeschichtliche Aspekte im Vordergrund – hier wird die Nutzung und Wahrnehmung der Autobahn durch Interviews mit verschiedenen Nutzergruppen dokumentiert. Dabei lautet eine der Hauptfragen, welche Bilder diese Begegnungen vom jeweils "Anderen" diesseits und jenseits der deutsch-deutschen Grenze schufen.
Annäherungsperspektiven aus Ost und West nach 1945


Auch in der Bundesrepublik gingen die Autobahnplanungen zunächst an einer Verbindung von Hamburg nach Berlin vorbei. Der Bundesminister für Verkehr Hans-Christoph Seebohm – von 1949 bis 1966 im Amt – mahnte zwar 1951 anlässlich der Bauausstellung "Constructa" in Hannover, "ein gesundes und leistungsfähiges Verkehrswesen" sei "eine unerlässliche Voraussetzung für jeden wirtschaftlichen Wiederaufstieg".[19] Ein Jahr später aber legte Seebohm eine Studie zur Fernverkehrsstraßenplanung vor, in der die Verbindung Hamburg–Berlin durch eine Autobahn lediglich in die Dringlichkeitsstufe II eingeordnet wurde. Stattdessen bekamen die Ergänzung und der Ausbau der Nord-Süd-Verbindung in Westdeutschland von Hamburg bis nach Basel in seinem Gutachten "Straßenplanung und Forschung" die höchste Dringlichkeitsstufe.[20] Die von Hamburg ausgehenden Verbindungen werden nur in Richtung Westen nach Bremen und in Richtung Süden nach Hannover geplant. Eine Verbindung nach Berlin ist zwar in der Karte angedeutet, im Gutachten selbst wird sie jedoch nicht thematisiert.