2024 jähren sich die Friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall zum 35. Mal. Wie einig ist inzwischen das vereinigte Deutschland? Herrscht tatsächlich immer noch „Westdominanz“? Ein Einwurf des Theologen und Philosophen Richard Schröder (80).
Gehen wir zunächst neun Jahre zurück. Der Mitteldeutsche Rundfunk gab 2015 bei der Universität Leipzig eine Studie in Auftrag, die erheben sollte, in welchem Umfang Ostdeutsche in den gesamtdeutschen und den Eliten im Osten vertreten sind. Als „Ostdeutsche“ galten dabei alle, die vor 1975 in der DDR geboren wurden. Unter „Eliten“ wurden die jeweils höchsten Positionen verstanden, also Regierungsmitglieder und Staatsekretäre, beim Militär nur Generäle, unter den Richtern nur die der höchsten Landesgerichte. Wären niedere Hierarchiestufen mit einbezogen worden, wären ganz andere Ergebnisse herausgekommen.
Das Ergebnis der Studie besagte: „Nur 23 Prozent beträgt der Anteil Ostdeutscher innerhalb der Führungskräfte in den neuen Bundesländern – bei 87 Prozent Bevölkerungsanteil.“ „Nur 1,7 Prozent der betrachteten Spitzenpositionen auf Bundesebene sind von Ostdeutschen besetzt, bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent.“
Der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, hat 2023 die Frage noch einmal untersuchen lassen – mit ähnlichem Ergebnis. In rund acht Jahren hat sich nach diesen Ergebnissen nichts Entscheidendes geändert: Die Ostdeutschen sind unter den Eliten im Osten und in Gesamtdeutschland massiv unterrepräsentiert. Was folgt daraus?
Die seitdem vorherrschende Antwort auf diese Frage gab schon die Überschrift des Leipziger Berichts vor: „Wer beherrscht den Osten?“ Die Frage ist so eingängig wie irrführend. Denn es wird damit suggeriert, es stünden sich zwei Völker – die Ostdeutschen und die Westdeutschen –gegenüber und das eine beherrschte das andere. „Beherrschen“ heißt dabei so viel wie: ihm seinen Willen aufzwingen, es womöglich ausbeuten, ihm aber jedenfalls die Selbstbestimmung beschneiden. Aber „die Ostdeutschen“ (Ossis) gibt es erst seit dem Mauerfall. Zuvor haben sich die Bewohner der DDR entweder als Deutsche im geteilten Deutschland verstanden (vor allem die älteren) oder als Sozialisten im Sinne des sozialistischen Internationalismus (so die überzeugten Genossen) – was nur verkrampft gelang mithilfe der Theorie von zwei Nationen auf deutschem (!) Boden, einer kapitalistischen und einer sozialistischen, die sich wie Feuer und Wasser entgegenüberstünden. Andere haben sich ohne solche Klimmzüge schlicht als Bürgerinnen und Bürger der DDR verstanden.
Der Ruf nach Wiedervereinigung kam auch keineswegs zuerst im Westen auf. Ehe die West-CDU ihn aufnehmen konnte („Wir sind ein Volk“), war er schon auf den Herbstdemonstrationen in der DDR zu hören gewesen, als Zitat aus der DDR-Nationalhymne: „Deutschland einig Vaterland“.
Aus dem Westen waren zunächst Warnungen vor dieser neuen Tonart zu hören. Das werde unbezahlbar teuer, so etwa Oskar Lafontaine. Zudem waren die „Aufbauhelfer“, die nach dem 3. Oktober 1990 in den Osten gingen, dank der föderalen Ordnung des Grundgesetztes nicht als Handlanger der Bonner Zentrale tätig, sondern den neuen Bundesländen verpflichtet, unter Umständen auch im Konflikt mit der Bundesregierung. Wer über das Verhältnis zwischen Helmut Kohl und Kurt Biedenkopf im Bilde war, musste die Vorstellung, dieser sei der Erfüllungshilfe von Kohl gewesen, lachhaft finden. Und schließlich: In einem Rechtsstaat herrscht idealiter nicht jemand, sondern etwas, nämlich Recht und Gesetz. Da ist die Herkunft des Akteurs idealiter unerheblich.
Deshalb ist es völlig verfehlt, das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland in die Nähe eines Kolonialismus zu stellen (Interner Link: Dirk Oschmann). Auch der Vergleich der Ostdeutschen mit Migranten (Naika Foroutan) liegt erheblich daneben. Ostdeutsche sind in Ostdeutschland keine Fremden und leben auch nicht getrennt von der Heimat, von Verwandten und Freunden. Mit den Westdeutschen verbinden sie tausend Jahre Geschichte, die Sprache und die Kultur, was bei Migranten in der Regel nicht der Fall ist. Zu den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 2021 stellte Die Linke ein Plakat mit dem Text vor: „Nehmt den Wessis das Kommando!“. Ihr wurde entgegengehalten, da könne sie doch gleich bei ihrem Spitzenkandidaten für die Bundestagwahl, Jan Korte, beginnen, denn der stamme ja schließlich aus dem Westen. Und mit Bodo Ramelow stelle die Linke in Thüringen doch auch den derzeit einzigen Ministerpräsidenten aus dem Westen im Osten. Überdies ist die Linke aus einer Ost-West-Fusion von PDS und WASG hervorgegangen und hat die Rolle der „Ost-Partei“ längst an die AfD verloren, die ihrerseits im Osten mit West-Köpfen reüssiert, wie etwa mit Björn Höcke. Die Linke hat dann übrigens seinerzeit darauf verzichtet, das inkriminierte Plakat kleben zu lassen.
Wie und warum kamen Westdeutsche ans Ruder?
Wie kamen die Westdeutschen auf die ostdeutschen Machtpositionen? Entweder durch Wahl (so etwa Ministerpräsidenten und Uni-Präsidenten) oder durch Berufung (Staatssekretäre, Professoren). In den fünf neuen Bundesländern (ohne Berlin) wurde zwischen 1990 und 2023 insgesamt 41 Mal ein Ministerpräsident gewählt, davon 14 Mal ein Westdeutscher – wohlgemerkt von einer Mehrheit ostdeutscher Abgeordneter. Dabei spielten die Erwartungen an seine Erfahrungen und sein Können, seine Verbindungen und seine Parteizugehörigkeit eine weit wichtigere Rolle als seine Herkunft. An der Humboldt-Universität habe ich selbst erlebt, wie sich Ostdeutsche massiv für einen westdeutschen Präsidentschaftskandidaten eingesetzt haben mit dem Argument: Der kann am meisten für uns herausholen. Wer die freie Wahl hatte, kann sich über mangelnde Repräsentation nicht beschweren. Auch die Richter der obersten Landesgerichte sind in den Richterwahlausschüssen von ostdeutschen Abgeordneten gewählt worden. Und diese haben richtig entschieden, als sie keine SED-Juristen gewählt haben.
Wer erwartet, Ostdeutsche und Westdeutsche sollten heute ihrem Bevölkerungsanteil gemäß innerhalb der Eliten vertreten sein, setzt offenbar eine symmetrische Vereinigung voraus, womöglich mit Egon Krenz als Vizekanzler? Die Vereinigung war unaufhebbar asymmetrisch. Die Annahme symmetrischer Verhältnisse übergeht die Herbstrevolution, die doch erst die Perspektive auf die deutsche Einheit eröffnet hat.
Jede Revolution ist mit einem Elitenwechsel verbunden. Nach dem Mauerfall wurde dieser öfter spontan vollzogen, indem Lehrerkollegien einen neuen Schulleiter und Betriebsversammlungen einen neuen Betriebsleiter wählten. Aber eine rechtsstaatliche Aufarbeitung von Regierungskriminalität musste bis zur Überprüfung der Richter und Richterinnen verschoben werden. Und die war am Tag des Beitritts noch nicht abgeschlossen. Deshalb kam der Elitenwechsel erst nach der Vereinigung richtig in Gang, im Besonderen die von der Volkskammer verlangten Stasiüberprüfungen (der Westen wollte die Stasiakten zunächst wegschließen), die Mauerschützenprozesse, die Neuordnung der Universitäten, der Neuaufbau der Länderverwaltungen. Auch die vom letzten SED-Ministerpräsidenten Hans Modrow noch vor der freien Volkskammerwahl gegründete Treuhandanstalt – die allerdings nur den Auftrag hatte, die Betriebe in AGs und GmbHs zu überführen und keinen einzigen Betrieb weltmarktfähig gemacht hat – wurde noch von der Volkskammer so reformiert, dass sie Betriebe privatisieren beziehungsweise sanieren konnte. Dies wurde aber im Wesentlichen erst nach der Sommerpause 1990 wirksam, was zur Folge hatte, dass für diese Prozesse der Westen verantwortlich gemacht werden konnte, obwohl die Volkskammer dies alles geplant beziehungsweise eingeleitet hatte. Mit anderen Worten: Postrevolutionäre Ost-Ost-Gegensätze wurden in Ost-West-Gegensätze umgedeutet, und zwar vorzugsweise von denjenigen, die Macht und Einfluss durch die Herbstrevolution verloren hatten.
Ende 1989 war die DDR ein Staat in Auflösung, nachdem im Spätsommer die Fluchtbewegung über Ungarn und die Prager Botschaft eingesetzt hatte und die Zerschlagung der Leipziger Montagsdemonstration gescheitert war. Der missglückte Versuch, durch ein neues Reisegesetz Druck aus dem Kessel zu nehmen, führte zur versehentlichen Maueröffnung. Nachdem die DDR-Bürger und -Bürgerinnen mit eigenen Augen gesehen hatten, wie man im Westen lebt, setzte sich unter ihnen schnell die mehrheitliche Überzeugung durch, „so wollen wir auch leben“, und zwar möglichst bald.
Der Gedanke eines Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gewann an Attraktivität. Der erste Schritt sollte die Währungsunion sein. Sie sollte die Abwanderung nach der Maueröffnung stoppen. Viele dachten, mit dem Westgeld käme auch der westliche Wohlstand. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man mit einem Koffer nach Westen geht oder ob man die verfallenen Häuser, die veralteten Fabriken und die Staatsschulden mitbringt. Das ist der Unterschied zwischen Flucht und Transformation. Zwar gab es auch damals Stimmen, die die abträglichen wirtschaftlichen Folgen der Währungsunion sahen; letztlich akzeptierten die meisten es aber als unvermeidlichen Teil des Systemwechsels.
Allerdings: Die Erfahrung der hohen Arbeitslosigkeit und die große Verunsicherung durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruch nach 1990 hat den Stolz auf die Herbstrevolution erdrückt.
Der Irrtum, schnellen Wohlstand versprechen zu können
Es war also ein Irrtum, dass die schnelle Währungsunion schnellen Wohlstand bringt. Aber die Eile war richtig, trotz falscher Motive. Denn wir wussten nicht, wie lange Interner Link: Gorbatschow an der Macht bleiben würde. Diese Sorge ist 1990 von vielen verspottet worden. Der Spott verstummte, als 1991 gegen Gorbatschow geputscht wurde. Das Argument lautete: Lieber mit ruinierter Wirtschaft in die Einheit, als mit ruinierter Wirtschaft allein dastehen. Das sahen damals viele so, wurde 1990 aber nicht offen ausgesprochen. Es wäre wohl auch gar nicht ernst genommen worden vor lauter Begeisterung über die Westmark.
Die Leipziger Studie stellt fest, dass 2004 kein einziger General der Bundeswehr aus Ostdeutschland stammte. Aber anders konnte es doch gar nicht sein, weil keine NVA-Generäle in die Bundeswehr übernommen worden sind. Deshalb lässt sich die Frage, wie viele daran interessiert gewesen wären, in die Armee des „verhassten“ Klassenfeindes übernommen zu werden, nicht beantworten. Auch DDR-Diplomaten sind grundsätzlich nicht in den diplomatischen Dienst der Bunderepublik übernommen worden. 2020 ist erstmals ein Ostdeutscher ins Bundesverfassungsgericht berufen worden. Auch das ist revolutionsbedingt. Denn wer in der DDR Jura studiert und dann als Richter oder Lehrer des sozialistischen Rechts Berufserfahrungen gesammelt hat, war doch durch solche Erfahrungen nicht für Deutschlands höchstes Richteramt qualifiziert.
Dass nach 1990 so viele Westdeutsche auf Lehrstühle an den ostdeutschen Universitäten berufen wurden, war mit Blick auf die „Ideologiefächer“ (vor allem Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Geschichte und Germanistik) der Rücksicht auf die Studenten geschuldet. Denn wer sollte denn einen Absolventen von 1993 in sozialistischer Ökonomie beschäftigen? Bei Naturwissenschaften und Medizin war die Lage anders. Universitätsangehörige fanden sich übrigens im Herbst 89 kaum unter den Demonstrierenden. Sie waren ja nach Systemtreue gesiebt. Deshalb fanden sich auch selten berufungsfähige ostdeutsche Kandidaten oder Kandidatinnen im Mittelbau. Es mag sein, dass dabei auch Westdeutsche berufen wurden, die im Westen keinen Ruf bekommen hätten. Die Regel war das nicht. Und konnte der Osten tatsächlich verlangen, dass für ihn nur die Besten gerade gut genug sind?
Es hat sich ein kleiner Katalog von ostdeutschen Benachteiligungen gebildet. Außer der mangelnden Repräsentanz in den Eliten gehören dazu: niedrigere Einkommen, aber längere Arbeitszeit; bis zu diesem Jahr niedrigere Renten; weniger vererbtes Vermögen und weniger Millionäre im Osten. Die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West differieren aber oft weniger stark als jene innerhalb des Westens. Man vergleiche nur München und Ostfriesland. Das niedrigere Durchschnittseinkommen im Osten hat auch damit zu tun, dass es dort noch immer wenige Großbetriebe und Konzernzentralen gibt. Kein Konzern verlegt seine Zentrale ohne ökonomischen Gewinn in den Osten. Da aber nun in Ost und West Facharbeitermangel herrscht, kann sich daran manches ändern. Übrigens bestehen auch innerhalb des Ostens beachtliche Durchschnittseinkommensdifferenzen zwischen boomenden Städten und entvölkerten, überalterten Landstrichen. Bekanntlich lassen sich in einer freien Marktwirtschaft weder Löhne noch Preise vom Politbüro festlegen. Dass weniger vererbt wird und es weniger Millionäre gibt, kann nicht der Vereinigung angelastet werden, sondern hat in 40 Jahren Reichstumsvermeidungspolitik der SED seinen Grund. Ich wüsste auch nicht, welchen Vorteil ich davon hätte, wenn es mehr ostdeutsche Millionäre gäbe.
Der Hang zum Vergolden von DDR-Erinnerungen
In den Ost-West-Vergleichen wird nicht nur die Herbstrevolution übergangen, sondern auch das abträgliche Erbe der DDR. Es gibt mancherorts eine starke Tendenz zur vergoldenden DDR-Erinnerung. Es ist ja zunächst gut, wenn wir das Erfreuliche kräftiger erinnern als Niederlagen, Demütigungen und beengende Grenzen. Aber warum sollten wir unseren damaligen Alltag mit dem System glorifizieren? DDR-Bürger können stolz darauf sein, was sie unter den widrigen Bedingungen von Diktatur und Mangelwirtschaft in Familie und Beruf geleistet haben. Aber lasst uns bitte nicht stolz sein auf die widrigen Bedingungen, die wir uns doch nicht ausgesucht haben.
Übrigens ist das im Osten oft anzutreffende Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, nicht erst nach der Vereinigung entstanden, sondern begleitet uns seit 1945. Wir hatten die weniger erfreuliche Besatzungsmacht und haben immer mit Neid und Bewunderung nach Westen geschaut. Und allabendlich waren wir beim Westfernsehen als Zaungäste drüben. Und die „Westpakete“ waren ein willkommenes Ost-West-Band.
Das Gefühl, benachteiligt zu sein, ist tief verwurzelt im Osten. Es hat die deutsche Einheit mit Erwartungen überfrachtet, die enttäuscht werden mussten. Daher der Ausdruck „Jammerossi“. Gejammert wird aber zumeist in Hörweite Westdeutscher, die diesen Schaukampf womöglich noch anheizen durch die Ermahnung, die Ostdeutschen sollten dankbar sein – und zwar möglichst ihnen, den Westdeutschen. Aber die Einforderung von Dankbarkeit ruiniert jede Beziehung. Die Besatzungszonen sind 1945 nicht nach Verdienst vergeben worden. Und die Transformationslasten haben vor allem die Ostdeutschen schultern müssen. Im Übrigen ist der ostdeutsche Wohlstandszuwachs der vergangenen 30 Jahre erheblich. Die durchschnittlichen Haushaltseinkommen stiegen in den neuen Ländern real von circa 40 Prozent des westdeutschen Niveaus auf etwa 85 Prozent.
Es ist wohl unvermeidlich, dass die Ostdeutschen sich mit den Westdeutschen vergleichen. Aber angemessener wäre der Vergleich mit den anderen rund 20 ehemaligen sozialistischen Ländern, die ebenfalls die Transformation von der Diktatur zu einer neuen politischen Ordnung und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft absolvieren mussten. Dieser Vergleich ergibt durchaus Erfreuliches für die Ostdeutschen. Alle ehemals sozialistischen Staaten hatten erhebliche Staatsschulden angehäuft und sie oft durch Inflation abgetragen. In Polen wurde die Inflation 1995 beendet, indem 10.000 alte Zloty (PLZ) in einen neuen Zloty (PLN) umgetauscht wurden. Das hieß: Die Sparguthaben schmolzen hin, während Sachwerte (Immobilien) ihren Wert behielten – eine große Ungerechtigkeit.
Dergleichen blieb den Ostdeutschen durch die Währungsunion erspart, die durch einen Kurs 1:1 beziehungsweise 1:2 erfolgte. Schließlich wurde durch die Vereinigung Ostdeutschland EU-Mitglied, und zwar ohne schmerzliche Angleichungsprozesse. Und durch die Treuhandanstalt wurde vermieden, dass das „Volkseigentum“ durch Oligarchen privatisiert wurde. Die durch westliche Aufbauhelfer schnell installierte neue Verwaltung hat die Phase des postrevolutionären Chaos enorm verkürzt und die Ausbreitung von Korruption durch alte Seilschaften weitestgehend verhindert.
Petra Köpping, Sozialministerin in Sachsen, hat behauptet, wenn mehr Ostdeutsche an der Transformation beteiligt worden wären, wäre ein besseres Ergebnis zustande gekommen. Denn Ostdeutsche sind offenbar immer selbstlos und gerecht. Das lässt sich plausibel widerlegen. Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) sind vorwiegend ohne westliche Beteiligung transformiert worden, weil sie Genossenschaften waren und nicht Volkseigentum. Kaum eine wurde rechtlich sauber transformiert. Die Modrow-Treuhand bestand ausschließlich aus DDR-Ökonomen und hat kein einziges Unternehmen weltmarktfähig gemacht. Deshalb hat ja die Volkskammer am 17. Juni 1990 ein neues Treuhandgesetz beschlossen. Und in Russland, auch in der Ukraine, hat das gutgemeinte Konzept der Privatisierung durch Anteilsscheine für die Bevölkerung zum Superreichtum der Oligarchen geführt und die Korruption befördert.
„Angst hattet ihr trotzdem vor der Stasi“
Manche sagen heute: „So schlimm war das mit der Stasi gar nicht. Ich hatte mit ihr nie zu tun.“ Das mag sein. Aber angeben würde ich damit heute lieber nicht. Und Angst hattet ihr trotzdem vor der Stasi.
An die Defizite der Repräsentation Ostdeutscher in den Eliten haben manche Kommentatoren große Befürchtungen geknüpft. Daraus, so hieß es, könnten separatistische Tendenzen erwachsen und eine Ablehnung der Demokratie. Separatistische Tendenzen spielen im reichen Norden Italiens eine Rolle, nicht aber im armen Süden. Es gibt absolut keine ostdeutschen separatistischen Tendenzen, und die Ostdeutschen wissen auch, warum nicht.
Was nun die Demokratie betrifft, so gibt es im Osten gar keine ausdrückliche Ablehnung „der Demokratie“, sondern den Vorwurf: „Was wir jetzt haben, ist doch gar keine richtige Demokratie, denn wir werden ja nicht gefragt.“ Es geht nicht um Ablehnung der Demokratie, sondern um einen verdeckten Streit darum, was die Demokratie ausmacht. In den westlichen Medien aber werden Umfrageerfolge der AfD als Ablehnung der Demokratie missdeutet, worüber AfD-Mitglieder beleidigt sind. Deshalb wird angesichts der Erfolge der AfD gefordert, die DDR-Forschung zu stärken. Nach dem Grundsatz von Roland Jahn: „Je besser wir Diktatur verstehen, umso besser können wir Demokratie gestalten.“ Das ist, kurz gesagt, Unfug.
Man kann nicht die Demokratie dadurch attraktiver machen, indem man die Diktatur schwarz in schwarz zeichnet. Dagegen steht immer auch die persönliche Erfahrung schöner Erlebnisse in der DDR. Man muss stattdessen die Auseinandersetzung um das angemessene Demokratieverständnis führen! Die repräsentative muss gegen die plebiszitär-populistische direkte Demokratie verteidigt werden. Immanuel Kant hat die Demokratie zu den despotischen Staatsformen gerechnet, weil er unter Demokratie das reine Mehrheitsprinzip verstand. Wenn tatsächlich uneingeschränkt gälte, was die Mehrheit beschließt, dann wären etwa auch Rassengesetze legal. Erst mehrheitenfeste Grundrechte und die Gewaltenteilung haben die Demokratie zur erstrebenswerten Staatsform gemacht. Dass der Angriff auf die Demokratie unter der Losung „Mehr Demokratie“ erfolgt, darauf hat sich die politische Bildung noch nicht eingestellt.
Die geringe Repräsentation Ostdeutscher in den Eliten ist ein Missstand. Wie ist es dazu gekommen? In den ersten Jahren der Vereinigung wurden Westdeutsche in den Osten gerufen und auch geschickt. Unternehmer sollten Kapital und Knowhow mitbringen. Für sie wurden Gewerbegebiete geschaffen, die oft zu groß waren. Man verspottete sie als „beleuchtete Wiesen“ statt der versprochenen blühenden Landschaften. Und es kamen, teils auf Zeit, teils auf Dauer, Aufbauhelfer; bis 1995 etwa 35.000. Sie haben geholfen, die postrevolutionäre Phase des „wilden Ostens“ zu verkürzen und schnell eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Die Justiz konnte schnell Fuß fassen und hat das aus der DDR geerbte Misstrauen gegenüber der Justiz bald verschwinden lassen.
Für den Aufbau der neuen Verwaltung haben westdeutsche Helfer, Verwaltungsleute aus der DDR und ostdeutsche Neueinsteiger zusammengewirkt, und, wie es scheint, reibungsarm. Untersuchungen dazu stehen noch aus. Von häufigen Ost-West-Konflikten auf diesem Gebiet wurde aber nichts bekannt. Es hat sich bald der Ausdruck „Besserwessi“ eingebürgert, mit dem aber nicht Ablehnung oder Aggressivität zum Ausdruck kam, sondern Kritik an Besserwisserei. Manche Westdeutsche waren gern bereit, uns die DDR zu erklären, als hätten sie und nicht wir die DDR erlebt. So etwas nervt. Die Defizite ostdeutscher Präsenz in den Eliten sind aber nicht mit der Erfahrung von Fremdbestimmung durch Westdeutsche verbunden. Es gab keine markante Ablehnung von westdeutschen Aufbauhelfern. Mir ist aufgefallen, dass sie sich mitunter öfter als Einheimische für Gemeinwohlbelange wie Bürgerinitiativen einsetzen und deshalb oft als Bereicherung empfunden werden.
Dürfen oder wollen Ostdeutsche nicht in die Eliten aufsteigen? Verlässliche Untersuchungen dazu gibt es meines Wissens nicht. Aber aus der DDR haben Ostdeutsche eine gewisse Karrierescheu mitgebracht. In die DDR-Elite wurde man ja von der Partei erwählt, auch wenn man ihr gar nicht angehörte. Und manche Fachleute haben Führungspositionen in diesem dysfunktionalen System gar nicht erst angestrebt. Die Leipziger Studie verweist auf die Millionen, die ab 1945 und wieder von 1989 an in den Westen gegangen sind. Im vereinigten Deutschland verfügten Ostdeutsche aber nicht über funktionierende Netzwerke. Und schließlich: Ein Fünftel kam zu vier Fünfteln. Es wird also für attraktive Posten rechnerisch viermal so viele Westbewerber wie Ostbewerber geben.
In solchen Situationen wird dann regelmäßig der Vorschlag einer Quote formuliert. Für öffentliche Ämter hat das das Grundgesetz jedoch ausgeschlossen: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt“, heißt es in Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes. Damit sind Benachteiligungen, aber auch Bevorzugungen aufgrund der landsmannschaftlichen Herkunft verboten. Fachliche Eignung entscheidet, nicht Herkunft. Es bleibt also nur, Ostdeutsche zu ermuntern, sich zu bewerben, bis die Zeit das Problem gelöst hat. Und dies ist zunehmend der Fall.
Zitierweise: Richard Schröder, „Wer beherrscht den Osten?", in: Deutschland Archiv, 05.01.2024 Link: www.bpb.de/544237. Die Erstveröffentlichung einer kürzeren Fassung erfolgte am 27.12.2023 in der Externer Link: FAZ. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
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Richard Schröder, Dr. theol. habil., geh. 1943; Studium der Theologie und Philosophie an den Kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Berlin; Hochschullehrer an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität. Veröffentlichungen u. a.: Denken im Zwielicht. Vorträge und Aufsätze aus der Alten DDR, Tübingen 1990 / Deutschland schwierig Vaterland. Freiburg 1993 / Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit. Freiburg 2007 / mit Karl-Heinz Paqué: Gespaltene Nation? - Einspruch! : 30 Jahre Deutsche Einheit, Basel 2020.
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