Wie Frieden schaffen zwischen Russland und der Ukraine? Wie eine weitere Eskalationsspirale verhindern? Oder kann man mit Putin gar nicht mehr reden? Denkanstöße des Autors und Filmemachers Alexander Kluge (90) im Gespräch mit Svenia Flaßpöhler über den Krieg als Dämon und die hohe Kunst des Friedensschlusses. „Man muss das Gegengift da suchen, wo das Gift herstammt“, rät Kluge.
Svenja Flaßpöhler: Herr Kluge, als Sie 13 Jahre alt waren, haben Sie erlebt, wie Ihre Heimatstadt Halberstadt aus der Luft bombardiert wurde. Was empfinden Sie heute als Neunzigjähriger, wenn Sie Bilder von bombardierten ukrainischen Städten sehen?
Alexander Kluge: Ich nehme den Krieg in der Ukraine über Medien wahr. Das ist nicht dasselbe wie meine unmittelbare Erfahrung als Dreizehnjähriger. Ich habe aber jetzt gerade, bevor Sie anriefen, in meinem Filmstudio eine Szene geschnitten, in der Menschen einen Koffer hinter sich herziehen, um auf dem Bahnhof von Kiew die Züge zu erreichen. Das ist das, was ich auch kenne. Diese Menschen suchen einen Notausgang. So wie wir damals. Auf diese Art von Erfahrung würde ich mich gerne konzentrieren. Die Muskeln und Sehnen, die auf der Flucht in Bewegung sind, sind seit vielen tausend Jahren die gleichen.
Krieg – was ist das für Sie?
Ein Dämon, der nicht weichen will. Er lauert, um dann hervorzuschießen. Ohne wirklichen Grund, sondern eher durch die Geschwätzigkeit. In der Antike hat man Dämonen an ihrer Geschwätzigkeit erkannt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz werden gebetsmühlenartig die Präambeln und Texte aus den Bündnisverträgen, die die Geschlossenheit hervorbringen sollen, repetiert. Verbündete können sich gegenseitig in einen Konflikt hineinreißen. Man braucht aber nicht nur die Tapferkeit vor dem Feind, sondern auch die Tapferkeit vor dem Freund. Nehmen Sie die Schlafwandler von 1914. Da haben Sie ein Deutsches Reich, das keinen Grund hatte, Krieg zu führen. Auch die Entente (bestehend aus Frankreich, England und Russland; Anm. der Redaktion) hat zu diesem Zeitpunkt keinen Grund und keinen Willen, einen Krieg auszulösen; mit Ausnahme einer einzelnen Abteilung im Auswärtigen Ministerium Russlands, die ihre Niederlage, die sie nach 1904 gegen Japan erlitt, durch den Vorstoß zum Bosporus wieder ausgleichen will. Aber außer wenigen Zündlern kann ich nur entdecken: ungeschickte Beamte in Wien, die Kriminalisten nach Belgrad absenden, um dort serbische Geheimdienstler zu verhaften – in einem souveränen anderen Land. Das ist der äußere Anlass für das Ultimatum der Österreicher, das wiederum ein Ultimatum der Russen nach sich zieht; und daraufhin müssen die Deutschen aus Nibelungentreue ihren Verbündeten, der sich hier vergaloppiert hat, schützen. Das tun sie aber nicht, indem sie Russland abwehren, sondern sie müssen Frankreich angreifen und das tun sie, indem sie durch Belgien ziehen, und das zieht England hinein. Sie merken wie indirekt, wie abstrakt und verschachtelt das alles ist. Wie rhetorisch. Und auf eigenartige Weise unwirklich. Doch dieses Unwirkliche löst die gröbste Form von Wirklichkeit aus: nämlich einen vierjährigen, schrecklichen Krieg, eine Entgleisung der Zivilisation.
In Ihren Büchern beschreiben Sie immer wieder sehr eindrücklich das körperliche Empfinden des Krieges. Was weiß Ihr Körper über den Krieg?
Meine Erinnerungen an den Krieg sind so intensiv und so schlagend, dass sie mich jetzt noch prügeln und meine Aufmerksamkeit steigern. Wenn eine Stadt bombardiert wird, in der Sie leben, dann geht ein Teil des Urvertrauens verloren. Ich bin an einem Sonntag geboren. Die Vorstellung, man sei ein Sonntagsjunge, der von seinen Eltern verwöhnt und von Schutzengeln betreut wird, geht mit Bombenangriffen schlagartig verloren. Wobei das Entscheidende nicht der Bombenangriff selbst ist, sondern der anschließende Feuersturm, der die Stadt abbrennt. Sie können sich nicht vorstellen, wie konkret die Panik ist. Ich nehme meine Schwester an die Hand und wir flüchten dorthin, wo eine Badeanstalt ist. Etwas Wasser soll zwischen uns und dem Brand sein. Das Bad ist drei Kilometer entfernt. Sie haben in so einer Situation einen Wirbel an Gedanken und Sinneswahrnehmungen. Sie hören im Luftschutzkeller sehr genau. Sie hören, wie die Motoren ihr Brummen intensivieren und denken: Jetzt kommt der gefährlichste Moment. Aber nein, es ist der Augenblick, in dem die Bomben schon abgeworfen sind und die Motoren leerlaufen. Sie müssen nicht mehr so viel heben, daher das brüllende Geräusch. Sie hören eigentlich die ganze Zeit so ein Rauschen. Das ist einerseits das Prasseln des Brandes und der Glassplitter und des Schutts, der in der Nachbarschaft niedergeht. Gleichzeitig denke ich aber: Um 14 Uhr ist Klavierstunde, die fällt wohl aus. Sie merken, es ist alles unverhältnismäßig. Unzusammenhängend. Kopf und Sinne sind nicht koordiniert.
In Ihrem 2022 erschienenen Buch der Kommentare schreiben Sie, dass die Geräusche der Flugzeuge durch die Sprache nicht zu beschreiben sind. Auch Tonaufnahmen geben das Geräusch nicht wieder. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat „das Reale“ als dasjenige bezeichnet, das durch die Gitter des Symbolischen und des Imaginären fällt. Ist der Krieg in diesem Sinn – real?
Äußerst real. Und sinnverwirrend. Noch während die Bomben fallen, denke ich, dass ich morgen in der Schule was erzählen kann. Das andere aber ist: Sie fürchten sich. Und zwar sehr entschieden. Man hält die Luft an, weil man gehört hat, die Lungen werden durch den Luftdruck zerrissen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch eine solche Situation, in der genau das einer ganzen Schulklasse passiert.
Deshalb haben wir im Keller immer ausgeatmet. Das Licht geht aus, wir fallen von den Bänken, auf denen wir sitzen, auf den Boden. Ich komme auf den Beinen meines Vaters zu liegen. Mein Vater ist eine Autoritätsperson für uns. Man liegt nicht auf den Beinen des Vaters. Sie merken: Der Krieg entfesselt und entordnet sämtliche Verhältnisse. Wenn der Krieg einmal anfängt, führt er eine eigene Existenz. Der Krieg „träumt von seiner absoluten Gewalt“, den drei Äußersten, wie Clausewitz das nennt.
Der WochenzeitungDie ZEIT haben Sie kurz nach Ausbruch des Ukraine-Krieges gesagt, dass Sie kein Pazifist seien. Wie meinen Sie das?
Pazifisten denken, wenn sie demonstrieren und Frieden wünschen, dass Frieden damit einträfe. Das ist unvollständig.
Was fehlt?
Ich will es am Beispiel eines Ehekrieges erklären. Ich kenne eine berühmte Schauspielerin, die zwei Kinder hat und einen Mann, den sie liebt. Und dieser Mann beginnt plötzlich, eine sehr viel jüngere Frau zu lieben und will die heiraten. Jetzt könnte es ja sein, dass die betrogene Frau auf Rachefeldzug geht. Sie weiß genügend über diesen Mann, um ihm seine Karriere vollständig zu zerstören. Sie könnte ihn sogar anzeigen. Sie macht aber, nachdem sie sich hat beraten lassen, etwas ganz anderes. Sie wendet ihre Professionalität, ihre Schauspielkunst, an. Mit viel Emotion und Einfühlung verhält sie sich sachlich. Und sie verzögert vor allem. Sie kauft erstmal Zeit, indem sie ihren Mann nicht besonders angreift, nicht mal schlecht redet über das junge Mädchen, in das er sich verknallt hat. Nach einem dreiviertel Jahr hat sie den Mann wiedergewonnen. Sie sind heute noch verheiratet und die zwei Kinder kommen nicht aus einer geschiedenen Ehe. So lässt sich ein Friedensschluss beschreiben.
Aber wie genau hat die Frau ihren Mann zurückbekommen? Was war ihre Methode?
Die Kenntnis, die man vom anderen hat, nicht gegen ihn ausnutzen, sondern für ihn. Ihm so viel Interpretation seiner selbst liefern – unauffällig, manchmal unausgesprochen – dass er sich wiederfindet und sieht: Die Verirrung zu der Jüngeren, die auf Eitelkeit beruht, brauche ich nicht.
Und was heißt das jetzt übertragen auf die Ukraine?
Alles ist schwieriger, weil es nicht um zwei Personen geht. Ich spreche hier mit Ihnen. Beide entscheiden wir nicht über Krieg und Frieden. Wir arbeiten aber in einer gemeinsamen Öffentlichkeit. Ob sich diese Öffentlichkeit mit einer künftigen Sicherheitsstruktur in Europa befasst oder ob sie nur auf ihrer Geschlossenheit – sozusagen Einfühlung ohne Sachlichkeit – beharrt, macht einen Unterschied aus. Ich frage mich also, was ich nicht weiß, worin ich nicht allmächtig bin und wo für mich Sie und unsere diskutierende Öffentlichkeit die Orientierung liegt. Ob Putin verrückt oder manisch ist, weiß ich nicht. Ich gehe anders vor: Ich versetze mich in einen Russen hinein, den ich kenne und mit dem ich zusammengearbeitet habe. Er war Botschafter in der Bundesrepublik, denkt „russisch“ und hat bei der Versöhnung im Osten, die der Wende vorausging, eine wichtige Rolle gespielt. Sein Name ist Valentin Falin. Er lebt nicht mehr, aber ich kann mir seine Gedanken hervorrufen. Von ihm höre ich den Rat: Man muss das Gegengift da suchen, wo das Gift herstammt. Er würde mir sagen: Die Giftküche, das ist der Bruch der Sicherheitsstruktur.
Was meinen Sie genau?
Als Gorbatschow 1991 sein Amt verlor, gab es eine Abrüstungs- und eine Sicherheitsstruktur, und die ist dann durch Leichtsinn und Nichtbeachtung zerstört worden. 1997 hat die Nato-Osterweiterung noch zu einer Einigung geführt, obwohl Jelzin protestierte. Dann kam Bush Junior. Auf der Nato-Konferenz in Bukarest forderte er, dass Georgien und die Ukraine zeitnah in die Nato kommen. Deutschland und Frankreich waren nicht dieser Meinung. Sie wagten aber nicht, dem großen Verbündeten gegenüber zu widersprechen. So wird die Möglichkeit des Beitritts beschlossen. Man will aber erst in der Zukunft definitiv entscheiden. Für jemanden wie Falin, in den ich mich gerade hineinversetze, ist das aber unberechenbar. Alle vier Jahre kann ein US-Präsident wechseln. Was die Zukunft an Abgründen birgt, weiß man nicht. Läge die Nato-Grenze östlich von Charkow, dann stünden westliche Raketen möglicherweise dort, wo 1942 Hitlers Wehrmacht stand. Das ist unverhältnismäßig. Ob so etwas eintritt, blieb für eine Seite unberechenbar. Eine Großmacht ist, wenigstens was die Planstellen seiner Sicherheitsapparate betrifft, wie ein virtuelles Tier. Wenn Sie zu nah an ein Raubtier herantreten, wird es beißen. Wenn Sie dem Raubtier die Sicherheit geben, als geübter Dompteur, dass Sie seine Sicherheitszone nicht stören, dann dürfen Sie sogar den Kopf ins Maul des Löwen legen. Das erfordert Professionalität. Dasselbe gilt auch für den Intimbereich von Menschen. Sie können einen Menschen küssen. Sie können ihn umarmen, aber das braucht Vorbereitung und Einstimmung. Es sind immer zwei Willenskräfte, zwei Seiten, die in Übereinstimmung kommen müssen.
Ihr Ansatz wäre also, diesen Krieg von der anderen Seite her zu betrachten. Waffenlieferungen an die Ukraine sind aus Ihrer Sicht der falsche Weg?
Die sind absolut falsch, ja. Sie zündeln damit.
Aber was, wenn die andere Seite für Rationalitätsgründe gar nicht erreichbar ist? Was wenn Putin wirklich wahnsinnig wäre?
Ich weiß, dass ich nichts weiß. Es gibt keinen einzigen Krieg, in dem die Verrücktheit der anderen Seite nicht behauptet worden wäre. Außerdem hat ein Verrückter auch Verstand.
Aber einen, der einer sehr eigenen Logik folgt.
Präsident Nixon, der wegen einer kriminellen Handlung aus dem Amt entlassen wurde, rühmte sich, dass es ein Verhandlungsvorteil für ihn sei, wenn seine Gegner ihn für einen Irren hielten. Dieser Mann hat, gemeinsam mit Henry Kissinger, einen Friedensschluss mit Vietnam und eine Verständigung mit China zustande gebracht. Nehmen Sie mal an, wir beide haben einen Bankräuber vor uns. Wir wissen nicht, ist er verrückt, ist er politisch motiviert oder will er Geld haben. Er hat aber Geiseln. Ich werde ihn auf gar keinen Fall in die Enge treiben. Denn auch ein Verrückter lässt sich nicht in die Enge treiben. Treibt man ihn in die Enge, schießt er. Ich werde also versuchen, seine Einbildungskraft darauf zu lenken, wie er gemeinsam mit mir und den Geiseln aus der verqueren Situation entkommt. Dabei konzentriere ich mich auf meine Grundhaltung, die emotional ist: Kein Geld der Welt rechtfertigt, dass Geiseln sterben. Das müssen Sie jetzt übertragen auf die Frage von Landesgrenzen im Osten und auf die Unterscheidung, ob eine Sicherheitsstruktur besser durch eine Verstärkung der OECD oder durch einen möglichen Nato-Beitritt gewährleistet ist. Darüber einen Krieg auszulösen ist ebenso zu verurteilen wie diese Frage als Hindernis für einen Friedensschluss zu sehen. Eine Einbildungskraft, die dazu benutzt wird, um die Behauptung aufzustellen, Putin sei manisch, ist falsch angewendet. Wir hier im Gespräch können das nicht feststellen. Erst wenn Putin die Atombombe geworfen hat, dann weiß ich es. Das ist aber das, was niemals passieren darf. Wenn ich vorhin Falin ins Spiel gebracht habe, dann habe ich bewusst meine Ich-Schranke gesenkt. Ich sage eben nicht: Ich weiß, ich weiß!
Woran müssen wir jetzt, in dieser Situation, glauben?
Jedes Verhängnis hat eine Lücke. Wie die Brüder Grimm nach den Märchen suchten, müssen wir nach dem Augenblick fahnden, in dem der Krieg stolpert. Auf diese Lücke muss sich die Öffentlichkeit vorbereiten. Wir dürfen sie nicht verpassen. Es ist der Moment, in dem beide Gegner zur gleichen Zeit schwach, zwei gleichzeitig friedensbereit sind.
Zitierweise: Alexander Kluge im Interview mit Svenja Flaßpöhler: „Der Dämon will nicht weichen“, in: Deutschland Archiv, 01.02.2023, Link: www.bpb.de/516684. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 21.3.2022 unter dem Link www.philomag.de/artikel/alexander-kluge-man-muss-das-gegengift-da-suchen-wo-das-gift-herstammt?check_logged_in=1, der Abdruck folgte im Dezember 2022 in der Philosophie Magazin Edition "Impulse für 2023".
Alexander Kluge ist Filmemacher, Schriftsteller, Philosoph, Jurist und einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes. „Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele“ ist soeben im Suhrkamp Verlag erschienen.
Svenja Flaßpöhler ist Philosophin, Journalistin und Autorin. Seit 2018 leitet sie das "Philosophie Magazin" und ist Mitbegründerin des PEN Berlin 2022.