Wenn Gedenkreden verklingen
Ein Nachwort zum 100. Todestag von Walther Rathenau
Elke Kimmel
/ 23 Minuten zu lesen
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Vor 100 Jahren im Juni wurde in Berlin Walther Rathenau ermordet. Die Gedenkreden sind längt verklungen. Aber was bleibt von der Erinnerung – auch an andere Opfer des rechten Terrors und Antisemitismus in der frühen Weimarer Republik? Gedanken von Elke Kimmel.
Am 24. Juni 2022 war es 100 Jahre her, dass Rechtsterroristen der „Organisation Consul“ den deutschen Außenminister Walther Rathenau auf offener Straße erschossen. Tatort war die Koenigsallee in Berlin-Grunewald – Rathenau befand sich auf dem Weg von seiner Villa zum Auswärtigen Amt. Er saß wie üblich im Fonds seines offenen Wagens, auf seinen Spazierstock gestützt, die Zigarre in der Hand.
Walther Rathenau war kein „normaler“ Politiker. Er hatte eine Vorgeschichte als erfolgreicher Industrieller und Publizist, er führte einen beliebten Salon, sprach mehrere Sprachen fließend und er war Jude. Vielen Zeitgenossen war er zu vielseitig, zu ambivalent, schien seine Positionen zu häufig zu wechseln – in der Sprache der Zeit schien dies nicht wenigen als „typisch jüdisch“.
Auch die zahlreichen Publikationen, die sich mit der Person Rathenaus befassten und befassen, hoben und heben seine vielfältigen Begabungen – allerdings mit positiven Vorzeichen – hervor.
Im Folgenden soll es aber nicht um die Persönlichkeit Rathenaus gehen, sondern um das Gedenken an ihn: Wie würdigte man ihn in der DDR, wie in der Bundesrepublik, und wie fanden die verschiedenen Rathenau-Bilder im vereinten Deutschland zusammen? Gerade vor dem Hintergrund des andauernden russischen Angriffs auf die Ukraine und der deutschen Reaktionen darauf müssen auch die Konjunkturen in der Wahrnehmung von Rathenaus Russlandpolitik reflektiert werden. Weiterhin soll das Gedenken an den Politiker Rathenau in Beziehung gesetzt werden zum Gedenken an andere Opfer rechten Terrors – welche Opfer werden gewürdigt, über wen wird stillschweigend hinweggegangen?
Last not least soll es auch darum gehen, ob und wie sich die Formen des Gedenkens gewandelt haben und wen aktuelle Formen des Erinnerns erreichen (sollen). Es geht dabei weniger um eine abschließende Beurteilung, als vielmehr darum, eine kritischere Erinnerungskultur in Deutschland anzuregen.
„Mit Rapallo […] ist der Name Rathenau unlösbar verbunden“ – Würdigung in der DDR als „fortschrittlicher“ Bürger und Kapitalist
Die Würdigung Rathenaus war in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR eng an die jeweilige politische Situation und deren Erfordernisse gebunden. Nichtsdestotrotz gab es neben den flexiblen Komponenten des Rathenau-Bildes auch konstante Bestandteile. Dazu gehörte die Würdigung als fortschrittlicher Kapitalist, die schon in der Nachkriegszeit formuliert wurde: „Wenn auch sein überragender Intellekt die Brüchigkeit und Fäulnis der bürgerlichen Gesellschaft erkannte, so wagte er nicht den Schritt der klaren Konsequenz. Sein Wirken in der zweiten Sozialisierungskommission unterschied sich nicht von dem eines klugen Verteidigers des Kapitalismus“, hieß es etwa in der „BLZ - Berliner Zeitung“ am 24. Juni 1947.Dr. K., Die Versittlichung des Staates. Zum 25. Todestage von Walther Rathenau, in: Berliner Zeitung (im Folgenden BLZ), 24.6.1947, S. 1. Und auch für die „Neue Zeit“ war er 1962 der Prototyp des aufgeklärten Bürgers: „Die zwei Seiten des deutschen Bürgertums – Fortschritt und Reaktion – sind kaum besser zu veranschaulichen als am Leben und Sterben Walther Rathenaus.“
Rathenau als Gewährsmann für Einheit und Einheitsfront
Gleichsam von Fall zu Fall wurde Rathenau darüber hinaus auch als Gewährsmann für aktuelle politische Anliegen genutzt. So etwa in den Jahren bis 1952, als es galt, die staatliche Einheit Deutschlands zu bewahren – selbstverständlich unter der Ägide der sowjetischen Besatzungsmacht. Der Vorsitzende der CDU in der sowjetischen Besatzungszone, Ernst Lemmer, sagte bei der Gedenkfeier zum 25. Todestag Rathenaus 1947: „Keine Partei von heute […] kann den Toten für sich in Anspruch nehmen. Er gehört dem ganzen deutschen Volk.“
Ähnlich nahm Hans-Werner Gyßling in der „Neuen Zeit“ Rathenau für die Sache der DDR – konkret für die Sache der Freien Deutschen Jugend (FDJ) – in Anspruch. Mit Hinweis auf Rathenaus Schrift „Deutschlands Jugend“ (1918) schrieb er 1965: „Kaum ein Satz steht in dieser Schrift, der nicht auch unserer Freien Deutschen Jugend zur Beherzigung, Bereicherung, Aufrichtung, als Wegzeichen und Kompaß dienen kann und muß.“ Die DDR sei „durch und durch humanistisch“, weil sie sozialistisch sei. „Vorausblickende Persönlichkeiten des Bürgertums“ wie Joseph Wirth und Walther Rathenau hätten, so war auch in der in Halle/Saale erscheinenden „Freiheit“ 1965 zu lesen, dies als „teures Vermächtnis“ hinterlassen.
Rapallo als Kernpunkt des Rathenau-Gedenkens
Mit der Teilung Deutschlands und der Westintegration der Bundesrepublik rückte Rathenaus Engagement in Rapallo verstärkt in den Fokus. Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) und Rathenau wurden als Kronzeugen gegen die Politik der Westintegration der Bundesrepublik bemüht. Diese Außenpolitik spielte „in die Hände von ausländischen Politikern […], die aus ihren feindlichen Absichten gegenüber der Sowjetunion kein Hehl machen“.
Rathenau, so urteilte die „Neue Zeit“ 1952, habe erkannt, dass „Deutschland nur in der Zusammenarbeit mit der Sowjet-Union Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand zurückgewinnen“ könne.“ In der Bundesrepublik hätten sich „gefällige Autoren“ wiederholt bemüht, die Urheberschaft des Rapallo-Vertrags dem Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt, von Maltzan, „zuzuschieben“, das aber sei „abwegig“. „Heute kann sich Walther Rathenau nicht dagegen wehren, daß die seinen Mördern gleichgestimmten Naturen ihn für sich reklamieren.“
Besonderes Gewicht beanspruchten in solchen Dingen jene, die Rathenau persönlich gekannt hatten, wie dessen Parteikollege Otto Nuschke, der ihn 1956 als „preußischen Europäer“ charakterisierte. Selbstverständlich sei Rathenau in der Kultur des Westens bewandert gewesen, aber: „Wer Walther Rathenau näher gekannt hat, der weiß, wie sehr er erfüllt war von der großen Sehnsucht, daß einmal die Welt vom Osten her neu befruchtet werden würde.“
Auch der im November 1961 im DDR-Fernsehen gezeigte Spielfilm „Mord an Rathenau“ begann mit der Vertragsunterzeichnung in Rapallo. Harry Hindemith als Rathenau erläutert in den ersten zwei Minuten des Films die wesentlichen Vorteile, die der Vertrag Deutschland und der Sowjetunion bringen werde. Das Urteil der „Arbeiterklasse“ über Rathenau bringt einer der Protagonisten, ein (kommunistischer) Arbeiter, auf den Punkt: Rathenau sei zwar Kapitalist, aber einer mit Weitblick.
Bei der Analyse der Beweggründe für Rathenau, den Rapallo-Vertrag abzuschließen, kam die „Freiheit“ zu dem Schluss, dass Rathenau den Forderungen der Arbeiter gefolgt sei. „Wir haben gesehen:“, hieß es ebenfalls in der „Freiheit“, „Rapallo war das Ergebnis des Klassenkampfes der deutschen Arbeiterklasse.“ Insofern war es, wie 1962 in der „Neuen Zeit“ ausgeführt wurde, nur folgerichtig, dass der Vertrag das Hauptmotiv für Rechtsterroristen gewesen sei, Rathenau umzubringen. In der Ablehnung von Rapallo, so meinte Gerald Götting im „Neuen Deutschland“ 1962, träfen sich schließlich die „reaktionären“ Kräfte in Deutschland mit den „imperialistischen“ Kräften der Ententestaaten.
Die überaus enge Verbindung zwischen Rathenau und Rapallo trat in den 1980er Jahre in den Hintergrund, zumindest vereinzelt wurde nun Reichskanzler Wirth als „Vater von Rapallo“ tituliert. In einem schmalen Band über bürgerliche Schicksale, der 1987 erschien, differenzierte Autor Wolfgang Ruge die Sichtweise auf Rathenaus Handeln in Rapallo in durchaus bemerkenswerter Weise und erteilte der westdeutschen wie der ostdeutschen Lesart eine Absage: Rathenau sei weder von seinem Staatssekretär übertölpelt worden (wie in der Bundesrepublik häufig behauptet werde) noch habe er „eine abrupte Wendung zum Arbeiterstaat“ vollzogen (wie in den 1960er Jahren in der DDR geschrieben worden sei) – er habe einfach die „welthistorisch nie dagewesene[n]“ Bedingungen akzeptiert und danach gehandelt. Obschon im Kontext des Rapallo-Vertrags stets von den engen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion die Rede war, blieben Vertragswerke zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem zaristischen Russland ebenso ausgeklammert wie der 1939 geschlossene Hitler-Stalin-Pakt.
Rathenau als Mordopfer
Immer wieder wurde Rathenau auch als Opfer rechter Gewalt thematisiert – mit je nach Zeitpunkt unterschiedlichen Bezugspunkten in die Gegenwart. Nach dem Mordanschlag in Dallas wies das „Neue Deutschland“ im Dezember 1963 darauf hin, dass beiden – dem ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy und Rathenau – ihr Streben nach guten Beziehungen zur Sowjetunion zum Verhängnis geworden sei. Nach den Attentaten auf Martin Luther King Jr. und Rudi Dutschke in West-Berlin wurden diese 1968 in die „Traditionslinie“ einbezogen. In der Reihe vor Rathenau hätten in dieser Sichtweise Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als „aufrechte Patrioten“ gestanden.
Aber auch die Mörder, so bemerkte die „Berliner Zeitung“ 1970, hätten ihre Erben: „Die Schüsse, die einst Walther Rathenau niederstreckten und den Geist von Rapallo töten sollten, finden heute ihr Äquivalent im Bombenhagel auf friedliche vietnamesische Menschen, in ständigen Feuerüberfällen der Israelis auf ihre arabischen Nachbarstaaten und auch in den aggressiven Absichten der reaktionären Kräfte in Westdeutschland […].“
Staatsmann und Märtyrer für die Republik: Rathenau in der Bundesrepublik Deutschland Der Mensch und Staatsmann Rathenau – „von Einsamkeit umgeben“
Die „Zeit“ bemerkte 1959 lakonisch: „Walther Rathenau ist heute mehr oder weniger vergessen.“ Auch wenn dies sicher übertrieben war, so ist es doch auffällig, dass Rathenau rein quantitativ in der westdeutschen Presse deutlich weniger präsent war als in der ostdeutschen. Nicht einmal zu den „runden“ Gedenktagen am 24. Juni erschienen regelmäßig Beiträge in der Presse West-Berlins und im Bundesgebiet. 1952 erinnerte der „Tagesspiegel“ mit einem Foto Rathenaus in Genua und einem Brief, den dieser 11 Monate vor seinem Tod an einen Bekannten geschrieben hatte, an den Außenminister. Darin habe Rathenau tiefe Skepsis geäußert: Er glaube nicht, dass es eine „Partei des Geistes“ in Deutschland geben werde. Diese Notiz war insofern bemerkenswert, als sie eine im Westen verbreitete Facette des Rathenau-Bildes gut illustrierte: Rathenau als weitsichtigen, aber erfolglosen Mahner. In den Erinnerungen von Erich Ebermayer, dem Sohn des ehemaligen Oberreichsanwaltes, erschien Rathenau 1952 vor allem als überragender Mensch und „Lehrer der Jugend“.
Die FDP erinnerte 1962 in einer Gedenkveranstaltung im Berliner Rathenau-Gymnasium daran, dass Rathenau „stets von einem Hauch von Einsamkeit umgeben gewesen sei“. Er habe als „Aristokrat“ gewusst, dass ihn der Antisemitismus vernichten werde, habe sich dem aber gefügt.
Zum Bild gehörte auch, so hielt die „Zeit“ 1962 fest, dass Rathenau einer der wenigen Intellektuellen in Deutschland gewesen sei, die die politische Verantwortung nicht gescheut hätten. Ernst Lemmer beschwor (nunmehr im Namen der Bundesregierung) anlässlich des 40. Todestags Rathenau als „furchtlosen und nur von seinem Gewissen bestimmten Staatsmann“. Wichtig sei insbesondere Rathenaus „weltoffenes“ und staatsmännisches Auftreten in Genua gewesen, das die außenpolitische Position des Ddeutschen Reichs gestärkt habe, schrieb zehn Jahre später die „Zeit“. Unterstrichen wurde die Textaussage zuweilen durch Abbildungen, die Rathenau stets perfekt gekleidet und mit ernst-traurigem Blick zeigten.
Mit Bezug auf die Trauerrede des Reichspräsidenten Friedrich Ebert stellte Herbert Hupka 1947, anlässlich des 25. Todestages von Rathenau, fest, dass dessen Mörder auch die deutsche Demokratie hätten treffen wollen – ein Topos der mehrfach aufgegriffen wurde. Bereits Anfang der 1920er Jahre hätten Nationalismus und Antisemitismus ihr Zerstörungswerk begonnen.
Als Politiker, der auch schwierige Entscheidungen traf und treffen musste, wurde Rathenau in der westdeutschen Presse nicht gezeigt – und zwar selbst dann nicht, wenn die Redaktion ein Foto von Rathenau als Außenminister auswählte. Er war der Märtyrer für die Republik und zugleich der Prophet ihres Untergangs. Eher selten wurde diese Feststellung kontextualisiert, wie etwa durch den Hinweis, dass die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg zur Schwächung der Weimarer Republik beigetragen hätten.
Der Außenpolitiker: „Symbol der europäischen Tragödie“
Der Außenpolitiker Rathenau nahm in der westdeutschen Wahrnehmung insgesamt eine weniger gewichtige Rolle ein als in der ostdeutschen. Der „Spiegel“ erinnerte angesichts des Handelsvertrags zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik 1958 an Rapallo – jenen „später so häufig beschworenen Freundschaftsvertrag, der heute wieder als Schreckgespenst in den Hauptstädten der westlichen Welt spukt.“
Der Vertrag von Rapallo war in dieser Lesart der Vorläufer des Hitler-Stalin-Paktes von 1939. Er erschien als cleveres Manöver insbesondere des sowjetischen Verantwortlichen Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, der mit dem Vertragswerk die „westliche Front“ gespalten habe. Rathenau habe gegen diesen gewieften Politiker nicht den Hauch einer Chance gehabt, eigene Interessen durchzusetzen, urteilte auch der amerikanische Politiker und Autor George F. Kennan, den der „Spiegel“ zitierte. Kennan habe in Rathenau ein „Symbol der europäischen Tragödie“ gesehen, für die auch die Ententemächte verantwortlich seien. Die „Männer des Westens“, so Kennan, „stießen die gleichgesinnten Deutschen aus blindem Haß zurück und trieben sie so der sowjetischen Diplomatie in die Arme.“
1967 war man sich in West-Berlin und dem Bundesgebiet anscheinend einig: Rathenau habe den Rapallo-Vertrag aus einer Notsituation heraus und schweren Herzens unterzeichnet.
Der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Klaus Schütz, hielt „Rapallo“ nichtsdestotrotz für einen Erfolg vernunftorientierter Politik, wie sie für Rathenau typisch gewesen sei. Angesichts der sehr beschränkten Handlungsspielräume sei der Vertrag, so unterstrich auch die „Süddeutsche Zeitung“ 1967, „das Beste“ gewesen, „was eine Regierung damals herausholen konnte“.
Mit der neuen Außenpolitik unter dem sozialdemokratischen Vizekanzler Willy Brandt rückte der Rapallo-Vertrag stärker in den Fokus. Eher selten wurde auf Parallelen mit der Politik des „Wandels durch Annäherung“ verwiesen und demgegenüber – im Gegensatz zur ostdeutschen Presse – ein starker Fokus auf Rathenaus Interesse am Ausgleich mit dem Westen gelegt. In diesem Sinne urteilte die „Zeit“ über Rathenau in Rapallo: „Darum fand er keinen Gefallen an den hektischen Umständen des Vertragsabschlusses von Rapallo, die gewisse antiwestliche, konspirative Züge aufwiesen.“
Eher ausnahmsweise wird Rapallo als Voraussetzung für die Aussöhnung mit dem Westen gesehen: Erst die Befreiung Deutschlands aus der gefühlten „Reparationsumklammerung“ habe den Weg für die Westorientierung geebnet, meinte die „Zeit“ 1971. Sehr kritisch kommentierte „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein Rathenaus Handeln in Genua. Unmittelbarer Anlass dafür war 1989 die von Großbritannien und den USA kritisch gesehene deutsche Euphorie über den neuen sowjetischen Regierungschef Michail Gorbatschow („Gorbimanie“). Die Stichworte lauteten „Tauroggen, Rapallo, der Hitler-Stalin-Pakt 1939“. Rathenau sei sich im Vorfeld der Konferenz mit dem britischen Regierungschef Lloyd George einig gewesen, dass man die Sowjetunion via Wirtschaftshilfe auf kapitalistischen Kurs bringen werde – und habe dennoch den Rapallo-Vertrag unterzeichnet. Selbst wenn die Zusammenarbeit von Roter Armee und Reichswehr schon vor Rapallo begonnen habe, hätte diese nun intensiviert werden können. Allein diese Zusammenarbeit habe es später Hitler erlaubt, 1939 den Krieg zu beginnen. Entscheidender noch aber sei die politische Geste, für die Rapallo stehe: Der Vertrag sei in Westeuropa die Chiffre schlechthin für eine Abkehr Deutschlands von prowestlicher und zuverlässiger Politik.
Würdigung nach 1990
Mit der Vereinigung Deutschlands schien es fast noch wichtiger, Ängsten vor einer deutschen Großmachtpolitik entgegenzutreten, gerade was Bedenken in Osteuropa und der in Auflösung befindlichen Sowjetunion anbelangte. Wohl in diesem Kontext ist jene Traditionslinie, angefangen bei Otto von Bismarck bis zu Rathenau und Wirth, zu verstehen, die die „Neue Zeit“ im Sommer 1990 zog. „Es versteht sich von selbst, wie gültig diese Mahnung im Blick auf die umstrittene Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschland und auf die Schaffung neuer europäischer Sicherheitsstrukturen ist, denen ganz unabdingbar auch das von Bismarck zeitlebens respektierte ‚große Reich im Osten‘ angehören muß.“
Aber auch im Westen gab es erhebliche Bedenken gegen die neue Republik, sodass die Betonung vielfach auf der Bundesrepublik Deutschland als Teil der europäischen Staatengemeinschaft lag. Rathenau wurde nun als „Vordenker für ein geeintes Europa“ betrachtet – so zitierte die „Süddeutsche Zeitung“ Bundesaußenminister Klaus Kinkel anlässlich des 75. Todestages 1997. Aber Rathenau wurde in diesen Jahren der Annäherung an Russland zum Ahnherren auch grün-alternativer Außenpolitik. Der grüne Außenminister Joschka Fischer inszenierte sich 2002 am Grab Rathenaus bewusst als dessen politischer Erbe.
Mit der Abkühlung des deutsch-russischen Verhältnisses in den vergangenen Jahren und besonders in den Monaten seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist diese Deutung wieder fraglich geworden. Am 13. Februar 2022 – also noch vor Kriegsbeginn – diskutierte Heribert Prantl in der „Süddeutschen“ die Parallelen zwischen Rapallo und Nordstream 2. Den Bau der Gaspipeline Nordstream 2 als „Rapallo 2“ zu titulieren, scheine ihm nicht angemessen, obwohl beide Vorhaben sich darin ähnelten, dass sie (mögliche) westliche Bündnispartner verärgerten: Allein schon die Ausgangsbedingungen für den Vertrag von 1922 seien völlig andere gewesen – damals hätten sich zwei international wenig geachtete Staaten, Underdogs, getroffen. Die Bundesrepublik Deutschland der vergangenen 20 Jahre sei hingegen die stärkste europäische Wirtschaftsmacht.
Noch klarer formulierte es zwei Monate später Michael Thumann in der „Zeit“: Rathenau habe fast mit Gewalt zum Vertrag von Rapallo gezwungen werden müssen, der eigentliche Akteur sei Staatssekretär Ago von Maltzans gewesen: „Auch aus heutiger Sicht ist Maltzan eine wichtige Figur. Das meiste, was wir über die Abläufe wissen, stammt von ihm. Rathenau wurde erschossen, bevor er etwas aufschreiben konnte. […] Maltzan aber berichtete später allen über die entscheidende Nacht.“ Rathenau habe dem Vertrag nur deshalb zugestimmt, weil man ihn glauben machte, dass die Sowjetunion kurz vor einem Abkommen mit Großbritannien stehe, das Deutschland massiv schaden werde. Thumanns Sichtweise ähnelt damit jener der westdeutschen Presse in den 1960er Jahren verblüffend.
Fazit: Als Erfolg Rathenauscher Politik wurde der Rapallo-Vertrag im vereinten Deutschland nicht gesehen. Die westdeutsche Sichtweise hat sich der ostdeutschen gegenüber eindeutig durchgesetzt, zumindest, was die in den Medien veröffentlichte Meinung anbelangt.
Es behauptete sich außerdem jene Sichtweise, die die Todesumstände Rathenaus ins Zentrum rückte und den Politiker Rathenau dadurch entpolitisiert. Demnach scheine vielen das Mordopfer Rathenau als wesentlich gefährlicher für die Rechte als der lebende, wenig populäre Politiker, wie die „Süddeutsche“ im Juni 2002 konstatierte. Als Gewährsmann für diese Deutung verwies Autor Peter Reichel auf eine Aussage von Rathenaus Gegenspieler Hugo Stinnes: „Der Schuß auf Rathenau hat auch die Monarchie getötet. Wir müssen nun mit der Republik leben.“
Reichel beurteilte diese Sichtweise kritisch. Nichtsdestotrotz: Auch die Rathenau-Sonderausstellung des Deutschen Historischen Museums (1993) unterstützte diese Lesart – zumindest rein visuell, wie ein Kritiker in der „Tageszeitung“ urteilte: Das Attentat stehe im Mittelpunkt der Ausstellung und suggeriere damit, dass Rathenaus Leben erst als Mordopfer seine Erfüllung gefunden habe.
Opfer zweiten Ranges? Erzberger und die anderen Opfer rechten Terrors
In Ost- wie in Westdeutschland wurde neben Luxemburg und Liebknecht meist nur Rathenau gewürdigt. Allerdings gab es in der SBZ/DDR – wie oben am Beispiel der Traditionslinie von Rathenau bis zu Dutschke gezeigt – ein stark ritualisiertes Gedenken aller Opfer rechten Terrors, wie etwa 1946 im „Neuen Deutschland“: Demnach folgte Erzberger „[…] in der Reihe der ersten großen Toten den Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg [...] die, wie er, der Mörderhand der Reaktion zum Opfer fielen. Keine fortschrittliche demokratische Partei blieb verschont.“ Auch für die ostdeutsche Presse aber galt, dass abseits solcher Aufzählungen bestenfalls noch an Matthias Erzberger erinnert wurde. Dagegen geriet der am 9. Juni 1921 von Rechtsterroristen vor seiner Haustür in München-Schwabing ermordete USPD-Politiker Karl Gareis fast völlig in Vergessenheit.
Gareis (geb. 1889 in Regensburg) galt seinen Zeitgenossen als „Wahrheitsfanatiker“ – und genau diese Eigenschaft machte ihn zum Hassobjekt der Rechten. Er plante die Aufdeckung geheimer (und – gemäß Versailler Vertrag – illegaler) Waffenverstecke in Bayern und forderte die Auflösung der militaristischen Einwohnerwehren, was bis weit ins bürgerliche Lager hinein als „Vaterlandsverrat“ angesehen wurde. Zu denen, die gegen ihn hetzten, gehörte der bayerische Erfolgsschriftsteller Ludwig Thoma. Während Thoma nach wie vor hoch geachtet werde, sei Gareis fast vollständig vergessen – Erinnerungszeichen suche man in München vergebens, bedauerte im Juni 2021 die „Süddeutsche Zeitung“. Wo Gareis Erwähnung fand, geschah das in den erwähnten allgemeinen Aufzählungen – gleichsam als Opfer zweiten Ranges. Seinen Platz in solchen Aufzählungen verdankte er meist der Tatsache, dass auch seine Mörder wahrscheinlich der „Organisation Consul“ angehörten. Eindeutig erinnert bis heute nur eine Straße im thüringischen Ruhla an ihn. Befremdlich ist, wie insbesondere in der Bundesrepublik an den am 26. August 1921 ermordeten Zentrumspolitiker Matthias Erzberger erinnert wurde, der bei einem Spaziergang im Schwarzwald niedergeschossen worden war.
Rathenau hatte viele politische Feinde, aber die abgrundtiefe Verachtung, mit der Erzberger von seinen Gegnern verfolgte wurde und gegen die ihn nur wenige Anhänger verteidigten, blieb ihm erspart. Nach dem Rathenau-Attentat schwiegen dessen politische Feinde zumindest vorübergehend – bei Erzberger galt diese Schamfrist nicht. So berichtet etwa die SZ vom „schamlosen Jubel“ kurz nach dem Mord. Und bereits während der Verhandlungen gegen die Hintermänner des Mordes im Juni 1922 wurde der Zentrumspolitiker als Alkoholiker diffamiert, dessen Leber so zerstört gewesen sei, dass er ohnehin bald eines natürlichen Todes gestorben wäre. Offensichtlich sind solche Verleumdungen – ganz zu schweigen vom Vorwurf des Vaterlandsverrats, der gegen Garreis und Erzberger immer wieder erhoben wurde – ungeheuer langlebig. Wer sich in den 1920er Jahren gegen die „Kriegsschuldlüge“ engagierte, konnte damit selbst bei den Sozialdemokraten kaum Anhänger gewinnen. Das änderte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nicht: Weiterhin blieb in der Bundesrepublik die Einschätzung vorherrschend, die europäischen Mächte seien in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“.
Erst die Fischer-Kontroverse Anfang der 1960er Jahre brach mit dieser Gewissheit – zumindest innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde die Politik der deutschen Regierung nun wesentlich kritischer gesehen. Aber über diese engen Kreise hinaus galten jene noch lange als „Vaterlandsverräter“, die in den 1920er Jahren mit den ehemaligen Kriegsgegnern zusammenarbeiteten oder auch nur Kritik an der Politik des Kaiserreichs äußerten.
Zudem passte Erzberger den Christdemokraten (als politischen Erben des Zentrums) auch deshalb nicht ins Konzept, weil diese bis weit ins rechte Spektrum hinein anschlussfähig sein wollten: Gerade jene nationalistischen Kreise, die mit den Rechtsterroristen sympathisierten (wenn auch nicht offen), sollten ihre neue politische Heimat bei der CDU finden. Bundeskanzler Adenauer selbst drückte offensichtlich beide Augen zu, als die an seiner Regierung beteiligte Deutsche Partei nur zögernd gegen Wolfgang Hedler vorging, der im Bundestag unverhohlen antisemitisch agitierte.
Bis heute lässt sich gegen die beschriebenen „Nestbeschmutzer“-Vorwürfe kaum eine mehrheitsfähige, populäre Erinnerungskultur etablieren. So schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ 2007 über Erzberger: „Damals [1919, EK] wurde er als nächster Reichspräsident gehandelt, stand fast in einer Reihe mit Friedrich Ebert und Gustav Stresemann. Nach ihnen sind heute große Straßen in allen Städten benannt. Erzberger ist eher ein Mann der Sackgassen und Neubaugebiete. Etwas ist wohl hängengeblieben von all dem Dreck, mit dem man ihn beworfen hat. Seinen Mörder hat man schnell begnadigt, mit dem Opfer, so kommt es einem vor, hat sich das Land noch nicht versöhnt.“
Selbstverständlich darf nicht unterschlagen werden, dass auch die jeweiligen politischen Ämter, die die Ermordeten ausübten, eine Rolle bei deren Erinnerungswürdigkeit spielen: Erzberger als Reichsfinanzminister a.D. und Gareis als Chef der USPD-Fraktion im Bayerischen Landtag hatten nicht die Ausstrahlung, die ein Reichsaußenminister schon qua Amt auf sich zog. Das politische Wirken und dessen Nachhaltigkeit muss damit nicht zwangsläufig einhergehen, das zeigt etwa der Blick auf Erzbergers Finanzreform, die bis heute noch als die grundlegendste gilt, die es in Deutschland gegeben hat.
Nachhaltigere Formen des Gedenkens
Verbreitete Formen des Erinnerns an verstorbene Persönlichkeiten wie Rathenau sind anlassbezogenen Gedenkstunden. Meist geht es dabei nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ermordeten. Eine Ausnahme bildete die Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag Rathenaus am 29. September 1967. Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt sprach sich in seiner Rede – mit ausdrücklichem Verweis auf Rathenau als Vorbild – für eine Annäherung an Moskau aus.
In über 300 Orten in Deutschland gibt es Straßen, die nach Rathenau benannt sind, außerdem tragen Schulen und Gebäude seinen Namen. Manchmal scheiterten solche Benennungen, wie etwa die Pläne, die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin nach Walther Rathenau zu benennen. Auch aus den Überlegungen der FDP in den 1990er Jahren, ihre Bundesgeschäftsstelle nach Walther Rathenau zu benennen, wurde nichts.
So wichtig solche Zeichen sein mögen, um Neugier bei Passant*innen und Besucher*innen zu wecken – meist fehlt ein erläuternder Kontext und viele werden nicht die Mühen auf sich nehmen, diesen eigenständig zu recherchieren. Gerade im Sinne der historisch-politischen Bildung aber wäre es wichtig, das Agieren der Gewürdigten in ihrer politischen Landschaft zu verstehen oder über das Interesse an den Persönlichkeiten auch (Zeit-)Geschichte zu vermitteln. Im Rahmen des Gedenkens an den 100. Todestag Walther Rathenaus haben dies verschiedene Akteure in verschiedenen Medien unternommen.
Deutschlandfunk Kultur hat in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung eine 45-teilige Sendereihe „100 Jahre politischer Mord in Deutschland“ entwickelt. Beginnend am 100. Jahrestag der Ermordung Matthias Erzbergers und endend am 22. Juni 2022 befasste sich wöchentlich ein Beitrag mit verschiedenen republikfeindlichen Milieus. Alle Folgen sind online oder als Podcast abrufbar. Parallel erschienen – in Kooperation des ZZF mit dem Verein Gegen Vergessen für Demokratie e. V. – themengleiche Blogbeiträge auf www.demokratiegeschichten.de.
Während diese Formate von vornherein auf einen langen Zeitraum – zehn Monate – angesetzt waren, entstanden in Vorbereitung der Feierlichkeiten Ende Juni 2022 weitere Erinnerungsformen, die sich insbesondere an ein jüngeres Zielpublikum richteten. So stellte der Verein Weimarer Republik e. V. Basismaterial für eine szenische Lesung zusammen, das von mehreren Schulen in Deutschland genutzt wurde. Schüler*innen haben so die Möglichkeit, einen Blick in den Alltag der Zeitgenossen Rathenaus zu werfen, sie können lernen, wie der Ermordete wahrgenommen wurde und wie der Mord öffentlich verarbeitet wurde.
Gemeinsam mit der Walther-Rathenau-Gesellschaft und der deutschen UNESCO-Kommission wurde außerdem die Instagram-Aktion #RememberRathenau ins Leben gerufen: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass viele Menschen nicht wissen, an wen Rathenau-Straßen erinnern sollen: Schüler*innen beleben das „tote“ Wissen durch eigene Recherchen. Solche neueren Gedenkformen sind sicher erst der Anfang. Sie zeigen Ansatzpunkte für ein nicht bloß ritualisiertes, ein sondern nachhaltigeres Gedenken – ein entdeckendes Gedenken und ein Gedenken, das mit Erinnerung einhergeht. Wichtig ist, dass solche Formate Lust auf die Auseinandersetzung mit (deutscher) Geschichte machen können. Ein weiterer Vorteil wäre, dass sie wegführen von allzu simplen Heldenerzählungen – denn für solche Formen des entdeckenden Gedenkens sind widersprüchliche, ambivalente Persönlichkeiten wesentlich spannender als eindimensionale Charaktere.
Zitierweise: Elke Kimmel, "Wenn Gedenkreden verklingen - Ein Nachwort zum 100. Todestag von Walter Rathenau“, in: Deutschland Archiv, 16.9.2022, Link: www.bpb.de/513146.
Dr.; geb. 1966, Historikerin. Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin u. a. für das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt, die Stiftung Berliner Mauer, das Museum Neuruppin, das Deutsche Historische Museum und die Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Bis Ende 2020 Leiterin des Barnim Panoramas Wandlitz. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte.
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