"Es geht um Schicksale, nicht um Begriffe"
Wer zählt zu den Opfern des Grenzregimes der DDR? Anmerkungen zu Michael Kubinas zweiter Replik
Dr. Jochen StaadtJochen Staatd
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Wer gilt als Opfer des DDR-Grenzregimes? Darüber haben im Deutschland Archiv zwei Historiker unterschiedliche Thesen veröffentlicht, die einst sogar Kollegen waren. Erneut meldet sich nun Jochen Staadt vom Forschungsverband SED-Staat der FU Berlin zu Wort, der auf eine "Replik" von Michael Kubina antwortet. Zum Abschluss dieser Serie folgt demnächst ein Beitrag aus der Gedenkstätte Berliner Mauer.
Um das Positive an den Anfang zu stellen: Michael Kubina schreibt in seiner am Interner Link: 27. April 2020 im Deutschland Archiv veröffentlichten "Replik" auf meinen Text vom Interner Link: 4. November 2019 über „etliche Grenzgängerfälle“ in den frühen 50er Jahren, er habe gar nicht behauptet, „es seien keine Opfer des DDR-Grenzregimes. […] Selbstverständlich waren auch Irmgard Stark und wer noch vor 1961 im Grenzgebiet durch Schusswaffenanwendung von Sowjets oder DDR-Grenzern zu Tode kam oder verletzt wurde, Opfer des Grenzregimes. Wovon denn sonst? Nur war dieses Regime bis weit in die 50er Jahre hinein eben ein anderes als dann ab 1961.“
In seinem ersten Beitrag für das Deutschland Archiv las sich das noch anders. Es seien, kritisierte er, „in großem Maße Schmuggler, kleine private und gewerbsmäßige, schlichte Kriminelle, und einfache Grenzgänger in das Gedenkbuch mit aufgenommen“ worden, „deren Tod zwar tragisch war und in den meisten Fällen nach heutigen Maßstäben auch unverhältnismäßig, aber nichts mit der Verweigerung von Menschenrechten oder Reisefreiheit zu tun hat.“
Kubina beanstandet eine „fehlende begriffliche Trennschärfe“ in den biografischen Darstellungen, da er, wie seine Replik verdeutlicht, ein grundsätzlich anderes Herangehen an die Thematik des DDR-Grenzregimes und seiner Opfer favorisiert. Für ihn liegt eine „fehlende begriffliche Trennschärfe“ vor, da nicht zwischen jenen Menschen, die bei einer illegalen Grenzüberquerung ohne Fluchtabsicht erschossen wurden und getöteten Flüchtlingen unterschieden wird.
Den Autorinnen und Autoren des Handbuchs ging es aber um die Rekapitulation der Biografien aller Todesopfer, um die Darstellung ihrer Beweggründe für die Grenzüberschreitungen mit oder ohne Fluchtabsichten. Kubinas Kritik, die „Todesopfer vor 1961 sind aber eben nicht so ohne Weiteres mit denen nach 1961 gleichzusetzen“ ist schon deswegen unzutreffend, da es in dem biografischen Handbuch überhaupt nicht um die Gleichsetzung von Todesfällen geht, sondern um höchst unterschiedlich Schicksale von Männern, Frauen und Kinder, die zu Opfer des DDR-Grenzregimes wurden. Ihre Biografien enthält das Handbuch in chronologischer Reihenfolge.
Die Zäsur von 1961
Kubinas Kritik, das Handbuch sei „nicht in vor und nach dem Mauerbau unterteilt“ und es sei nicht „deutlich zwischen Grenzgängern/Schmugglern und ‚Republik‘-fluchtfällen unterschieden“ worden, ist unzutreffend. Jede einzelne Biografie enthält Angaben über die Gründe der Grenzüberquerung. In der Einleitung des Handbuchs wird die Darstellung der Einzelschicksale in vier unterschiedlichen Fallgruppen ausführlich erläutert.
Einer nach Fallgruppen gegliederte Tabelle sind die unterschiedlichen Motive der Grenzüberquerungen zu entnehmen. So ist dort auch aufgeführt, dass 31 Grenzgänger von DDR-Grenzpolizisten erschossen worden sind. Darunter befanden sich übrigens lediglich zwei Fälle, die eindeutig dem gewerblichen Schmuggel zugeordnet werden können. In zwei weiteren Fällen ist dieser Zusammenhang nicht auszuschließen, obgleich dies aus den dazu überlieferten Dokumenten nicht eindeutig hervorgeht. Die anderen 27 hatten sich auf den Weg über die Grenze gemacht, um auf der anderen Seite Verwandte zu besuchen oder Waren gegen Lebensmittel zu tauschen.
Unzutreffend ist aus meiner Sicht auch Kubinas Beanstandung, „die grundlegende Zäsur von 1961 existiert in der Studie faktisch nicht“. In der Einleitung des biografischen Handbuchs heißt es: „Mit dem Bau der Mauer im August 1961 endete für die DDR-Bürger die letzte Möglichkeit, relativ gefahrlos in die Bundesrepublik zu gelangen. Dennoch versuchten Zehntausende auf verschiedenen Wegen, die scharf kontrollierte Grenze zu überwinden.“ Man darf den Nutzern des Handbuchs schon zutrauen, dass sie die in chronologischer Reihenfolge angeordneten Biografien in einen gedanklichen Zusammenhang mit der einleitend beschriebenen Entwicklung des DDR-Grenzregimes von 1949 bis 1989 bringen können.
Schließlich meint Kubina, die im April 1951 erfolgte Hinrichtung von sechs DDR-Grenzpolizisten in Moskau habe „nicht in einem kausalen Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime“ gestanden. „Einzig der Umstand, dass die Betroffenen Grenzer bzw. in Grenznähe tätige Volkspolizisten waren,“ habe „einen Bezug zur Grenze“. Die festgenommenen Grenzpolizisten planten eine Gruppenfahnenflucht in den Westen, was im Handbuch auch erwähnt wird. Das löste ihre Festnahme aus. Zur Begründung des Todesurteils wurde dann durch das sowjetische Militärtribunal die damals stereotype Beschuldigung antisowjetischer konterrevolutionärer Tätigkeit etc. pp. angeführt.
Zur Behauptung Kubinas, es habe vor dem Mauerbau „Millionen ungehinderter illegaler Grenzüberquerungen in beide Richtungen“ gegeben, sei auf die Ausgabe Nr. 13/1958 des SBZ-Archivs, wie das Deutschland Archiv damals noch hieß, verwiesen. Unter der Überschrift „Staatsgrenze West. Von der Demarkationslinie zum Eisernen Vorhang“ wurde dort beschrieben, wie durch den „fortschreitenden Ausbau der Grenzpolizei“ seit 1946 nach und nach erreicht wurde, „den illegalen Grenzübertritt mit einem Risiko zu belasten, das bald nur noch der auf sich nehmen konnte, der sich einem geländekundigen Führer anvertraute. Zur Barriere wurde diese Grenze aber erst im Mai 1952.“
Entlang der gesamten innerdeutschen Grenze wurde ein Zehn-Meter-Kontrollstreifen freigeholzt, eine 500-Meter-Sperrzone eingeführt sowie eine fünf Kilometer breiten Grenzzone, die nur mit Sondergenehmigungen betreten werden durfte. Seit 1952 befassten sich die Partei- und Staatsführung der DDR fortwährend mit dem Problem der Republikflucht.
Das SBZ-Archiv beschrieb den Fortgang der Grenzabriegelung nach 1952 folgendermaßen: „Die an der ‚Staatsgrenze‘ eingesetzten Bereitschaften der Grenzpolizei erhielten den Befehl, sich nicht auf den Streifendienst zu beschränken. In unübersichtlichen Grenzabschnitten wurden Drahtverhaue angelegt und gut getarnte Beobachtungsstände errichtet. Erdbunker und Postentürme wurden gebaut und mit Fernsprechverbindungen zum nächsten Grenzkommando ausgestattet. MG-Stände, Deckungslöcher und Gräben wurden vielerorts ausgehoben und andere Geländeabschnitte durch Stolperdrähte und Alarmanlagen gesichert. Bis 1955 dürften so ca. 25 v.H. der Grenzlinie zwischen Lübeck und Hof ausgebaut worden sein.“
Dieser Ausbau der Grenzüberwachung wirkte sich übrigens auch auf die Fluchtbewegung aus, wie der nachstehenden Tabelle zu entnehmen ist. Die Zahl der Flüchtlinge über die offene innerstädtische Grenze in Berlin wuchs an und lag deutlich höher als die der über die innerdeutsche Grenze Geflüchteten.
Wie die innerdeutsche Grenze wurden übrigens seit den frühen 1950er Jahren auch die anderen Grenzen des Eisernen Vorhangs in Europa mit ähnlichen Mitteln und Methoden abgeriegelt. Dazu arbeitet derzeit das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Teilprojekt des Forschungsverbundes SED-Staat über „Todesfälle bei Fluchtversuchen von DDR-Bürgern über die Grenzen von Ostblockstaaten“. Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Albanien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Polen werden zu diesem Thema in der kommenden Ausgabe Nr. 45 der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat veröffentlicht.
Auch die Grenzschließungen in den anderen Ostblockstaaten richteten sich wie in der DDR überwiegend gegen die eigene Bevölkerung, nicht gegen eine äußere Bedrohung durch eindringende „Diversanten“. Bereits am 16. August 1950 erschossen Grenzsoldaten an der tschechoslowakisch-österreichischen Grenze drei junge Männer, die aus politischen Gründen nach Österreich fliehen wollten. Bis 1989 kamen an dieser Grenze 390 Zivilisten (davon 280 Flüchtlinge) ums Leben sowie 648 (!) Grenzsoldaten, davon 12 bei Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Grenzdurchbrüchen, andere durch Minen, geladenen Draht, Selbstmord u.a.m..
Laut Angaben des bulgarischen Verteidigungsministers Dimitar Ludschev aus dem Jahr 1992 sind 339 Todesfälle im Zusammenhang mit illegalen Grenzübertritten überliefert. Allerdings fehlten dem Verteidigungsministerium bei der Erhebung dieser Zahl Aktenbestände aus sechs Jahren.
Hauptaufgabe Eindämmung der Republikfluchten
Unzutreffend ist aus meiner Sicht Kubinas Ansicht, es sei „offenkundig, dass sich das Grenzregime in den 50er Jahren nicht primär gegen Flüchtlinge richtete und damit ein wesentlicher Unterschied zu der Zeit nach 1961“ bestehe. Es habe an der DDR-Grenze vor dem Mauerbau Todesfälle gegeben, „wie an vielen anderen Grenzen auch“. Polemisch spricht er von „Todesopfern des gleichzeitigen ‚BRD-Grenzregimes‘, deren niemand ‚ehrend‘ gedenkt“. Erst seit 1961 habe sich das DDR-Grenzregime „fundamental, sowohl was die Methoden als auch was die Zielsetzung angeht, von den meisten anderen Grenzen in der damaligen Welt“ unterschieden.
Peter Joachim Lapp, den Kubina selektiv zitiert, kam dazu in seiner 2013 erschienenen Untersuchung über das DDR-Grenzregime zum gegenteiligen Ergebnis. Denn auch nach der Umwidmung der Grenzpolizei zur Grenztruppe im August 1957 sei in der Praxis „die Verhinderung von ‚Republikflucht‘ der eigenen Bürger durch die Grenzer deren Hauptaufgabe“ geblieben. In einer früheren Publikation bezeichnete der gleiche Autor es als die „eigentliche Hauptaufgabe“ der DDR-Grenzpolizei, „die Grenzen der DDR ‚freundwärts‘ gegen ‚Grenzverletzer‘ zu sichern“.
Die Zahlen der Flüchtlinge, die über die innerdeutsche Grenze in die Bundesrepublik gelangten, belegen lediglich, dass die Grenzpolizei ihre Hauptaufgabe nicht hinreichend erfüllen konnte. Daraus ist keineswegs abzuleiten, „dass sich das Grenzregime in den 50er Jahren nicht primär gegen Flüchtlinge richtete“ und sich deswegen auch nicht „fundamental […] von den meisten anderen Grenzen in der damaligen Welt unterschied“.
Wenn Kubina zu Begründung seiner Außenseiterposition unter Verweis auf die im Aachener Raum und die dort zwischen 1946 und 1953 erschossenen 31 Schmuggler und zwei Zöllner schreibt, „nahezu alle Grenzen der damaligen Welt inklusive der westdeutschen Außengrenzen hatten den Zweck, illegalen Grenzverkehr und Schmuggel zu verhindern, notfalls auch mit Schusswaffeneinsatz“, erhebt er einen Sonderfall zur Regel.
Unvergleichbarkeit der beiden deutschen Westgrenzen
Tatsächlich entsprachen die Ereignisse im Aachener Grenzgebiet keineswegs die Normalität an der Westgrenze der Bundesrepublik, die sich überdies deutlich von der DDR-Grenze unterschied. An der Westgrenze gab es keinen freigeholzten Sperrstreifen, keine 500-Meter-Sperrzone keine fünf-Kilometer Grenzzone, die man nur mit Sondergenehmigung betreten durfte und keine Zwangsaussiedlung von politisch nicht zuverlässigen Grenzbewohnern.
Im rheinland-pfälzischen Grenzraum engagierte sich seit den frühen 1950er Jahren eine starke proeuropäische Jugendbewegung, der auch Helmut Kohl angehörte. Er beteiligte sich 1950 mit Gleichgesinnten an Aktionen, in deren Verlauf Grenzschranken zwischen der Pfalz und dem Elsass symbolisch niedergerissen wurden. Es kam bei diesen Zwischenfällen zur keiner Schusswaffenanwendung. Helmut Kohl blieb unversehrt. Mit französischen Papierfähnchen standen der Autor dieses Beitrags als Volksschüler am 28. November 1958 am Straßenrand und winkte dem Fahrzeugkonvoi von Konrad Adenauer und Carles de Gaulle zu. Die beiden Regierungschefs trafen mit ihren Delegationen im Bad Kreuznacher Kurhaus zur ersten deutsch-französischen Regierungskonferenz nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen.
Die Ortswahl hatte symbolische Bedeutung, denn in ebendiesem Kurhaus befand sich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 sowie im Ersten Weltkrieg das Große Hauptquartier der deutschen Streitmächte. Nun begann hier 1958 die Ära der deutsch-französischen Freundschaft. Mit dem Vater fuhr der Autor in der zweiten Hälfte der 50er Jahre etliche Male zum „Wildcampen“ ins deutsch-französische Grenzgebiet, um ausgedehnte Wanderungen entlang der Bunkeranlagen des Westwalls zu unternehmen. Gelegentlich begegnete man einer Zollstreife, mit der Freundlichkeiten ausgetauscht wurden. Bei Ausflügen zu Speis und Trank auf der französischen Seite fragten Beamte am Grenzübergang nach zollpflichtigen Waren. Mitunter wurden auch Fahrzeuge kontrolliert. Das war’s.
Die Gleichsetzung der Verhältnisse an der Westgrenze Deutschlands mit der damaligen DDR-Westgrenze relativiert, was eben die Besonderheit des Grenzregimes der SED-Diktatur ausmachte.
Als die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland im April 1994 das Thema „Flucht- und Ausreisebewegung in verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte“ behandelte, erklärte die stellvertretende Kommissionsvorsitzende Margot von Renesse (SPD): „Wirklich einzigartig war an der untergegangenen DDR vor allem das System ihrer Grenzsicherung nach Westen. Das war ja keineswegs wie die SED immer behauptete, die normale Grenze eines souveränen Staates in Europa.“ Diese Auffassung teilen bis heute fast alle mit dem Thema befassten Fachleute.
Nachbemerkung
In den bisherigen Debattenbeiträgen haben wir uns, Jan Kostka und Jochen Staadt, bereits umfänglich zur Methodik der wissenschaftlichen Untersuchung geäußert, die dem Handbuch zugrundliegt. Um das Deutschland Archiv nicht mit redundanten Wiederholungen von Argumenten zu strapazieren, sei auf die abrufbaren Beiträge verwiesen sowie auf die Einleitung des Handbuchs, in der die von Kubina kritisierte Ausweitung der Todesfallgruppen für die innerdeutsche Grenze begründet worden ist.
Schlussendlich ist richtig zu stellen: Das Handbuch beruht nicht „auf den Recherchen von Schroeder/Staadt“, wie Kubina schreibt, sondern auf den Recherchen von insgesamt 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von denen sechs durch Niederschriften von Biografien zur 634-seitigen Publikation beitrugen. Dabei haben sich die Verfasserinnen und Verfasser der biografischen Beiträge den an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommenen Menschen mit Empathie zugewandt. Eine moralische Kategorisierung der Todesopfer war nicht beabsichtigt und auch keine politisch-pädagogische Belehrung.
Zitierweise: "Es geht um Schicksale, nicht um Begriffe - Anmerkungen zur Replik von Michael Kubina", Jochen Staadt, in: Deutschland Archiv, 12.5.2020, Link: www.bpb.de/308744.
Projektleiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat. 1977 Dissertation über Romane der DDR an der FU Berlin. Diverse Veröffentlichungen über die westdeutsche Studentenbewegung von 1968, über die DDR und über die deutsch-deutschen Beziehungen.