„Darf man das noch sagen? Ossi? […] Ich glaube, alle wollen, dass der Begriff verschwindet, weil sie hoffen, dass dann auch die Vorurteile verschwinden. […] Aber egal, wie sehr das jede und jeder gehofft hat – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das alles noch da. Die Vorurteile, die Unterschiede.“ (Schönian 2020, S. 9-10)
"Affirmative Action" im Osten Hintergründe, Einwandstypen und Stand der Dinge
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Vor 31 Jahren, am 31. Dezember 1991 endete die Geschichte des Rundfunks der DDR. Wie funktionierte dort der Elitenwechsel? Mit welchen Argumentationen wurden Ostdeutsche von Leitungsfunktionen ausgeschlossen und wie wurden ostdeutsche Einrichtungen stillgelegt? Ein Erfahrungsbericht aus Berlin und Brandenburg von Frauke Hildebrandt.
I. Elitenaustausch – ein persönliches Beispiel
Bei aller Einsicht, dass der Einigungsprozess nicht ohne das professionelle Know-how westdeutscher Expertinnen und Experten bewältigt werden konnte, und bei allem Respekt gegenüber deren anfangs oft geradezu selbstlosem Einsatz – der mit unverminderter Dankbarkeit in Erinnerung bleibt –, trotz der Anerkennung des opferbereiten Engagements unzähliger westdeutscher Helferinnen und Helfer registrierten meine Eltern in ihren dienstlichen Verantwortungsbereichen unheimlich schnell ein Verdrängungs- und Anmaßungsgebaren (meist unangeforderter) westdeutscher Ratgeberinnen und Ratgeber: Allüren und Ansprüche, die Schlimmes, ja Existenzgefährdendes für die beiseitegeschobenen Ostdeutschen befürchten ließen.
Exemplarisch, was meinem Vater, Jörg Hildebrandt, widerfuhr: Zu DDR-Zeiten oppositionell, inhaftiert für ein halbes Jahr, DDR-Verächter durch und durch, war er in den Wendejahren 1990/91 stellvertretender Intendant des ehemaligen DDR-Rundfunks und hatte mit Transformations-, Fortbildungs- und Öffentlichkeitsarbeitsfragen zu tun. Vor allem aber mit Personalproblemen. Aberhunderte Gespräche führte er mit verschüchterten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dabei ging es um Stasi-Verstrickungen ebenso wie um erlittene Repressionen, um unvermeidliche Kündigungen wie um Wiedergutmachungsbemühungen.
Rasch standen die Ängste vor dem drohenden Jobverlust im Mittelpunkt; Klagen über mangelnde Achtung seitens der neuen bundesdeutschen Leitungscrew mehrten sich. Aber auch zuversichtlich stimmende Gedanken zur Demokratisierung und Föderalisierung wurden vorgetragen. Doch nach seinem Amtsantritt Anfang November 1990 funkte der von der Bundesregierung eingesetzte Rundfunkbeauftragte dazwischen, denn all diese „vermeintlichen Grundsatzprobleme“ gehörten nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des alten „Bolschewistenfunks“.
So kam es zum medial beachteten „Mühlfenzl-Hildebrandt-Streit“, der schließlich zu Hausverbot und fristloser Kündigung meines Vaters führte. Er war unbotmäßig genug, Rudolf Mühlfenzl, dem Münchener Ex-Intendanten des Bayerischen Rundfunks, vorzuwerfen, sein Ost-Geschäft „nach Konquistadorenart“ zu betreiben: „Mir kommt es manchmal vor, als hätten wir einen Krieg verloren und müssten uns nun in die bedingungslose Kapitulation begeben.“ So Jörg Hildebrandt am 4. Dezember 1990 – acht Wochen nach dem Tag der Deutschen Einheit.
Mühlfenzls erste Dienstanweisung (28. November 1990), der sogenannte Maulkorberlass, galt meinem Vater: Niemand im Funkhaus sollte hinfort öffentliche Erklärungen abgeben ohne seine, Mühlfenzls, Genehmigung oder die seiner sechs bundesdeutschen Stellvertreter. Mein Vater scherte sich nicht darum – ihm oblag die Öffentlichkeitsarbeit, so sah er es. Und so gab er – wenn angefragt – freiweg Interviews in alle Medienrichtungen, nach und nach und immer öfter mit scharfer Kritik an der Arbeit des Rundfunkbeauftragten. Fünf Beispiele dafür will ich stichwortartig aus einem Aufsatz meines Vaters herausgreifen
1. Entmündigung und Gleichgültigkeit: „Zu Begegnungen mit den hier arbeitenden Menschen kam es für Herrn Mühlfenzl kaum, also auch nicht zu der Chance, deren Mentalität und Tätigkeit kennenzulernen. Ihm schien es zu genügen, Verbindungen (gemeint waren Abhängigkeiten) auf dem Wege über Dienstanweisungen – dazu noch recht fragwürdigen – herzustellen, um uns auf seine Gepflogenheiten und Geneigtheiten abzurichten. Da habe ich zwölf solcher ‚Tagesbefehle‘ gezählt.“ Besonders erzürnten die drei für Mühlfenzl und seine Berater geleasten schweren schwarzen Dienstwagen, die meist im Halteverbot vor dem Haupteingang abgestellt wurden und für deren Kosten das bettelarme Funkhaus aufkommen musste: „Zu Buche schlagen 199.000 DM. Die Währungsunion liegt noch nicht lange hinter uns, wir rechnen also immer noch um: Das sind genau eine Million Ostmark.“
2. Bunkermentalität: „Mühlfenzl verließ sein ‚Hauptquartier‘ so gut wie nie, um Kontakte im Haus zu knüpfen oder dringend notwendige Kenntnisse vor Ort zu erwerben. Es dauerte immerhin vier Monate, ehe er einen Termin fand, sich in einer Belegschaftsversammlung den Hörfunk-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern vorzustellen. Und seine Berater stießen in das Leben dieser Rundfunk-‚Einrichtung‘ wie Stoßtrupps in feindliches Gelände – ab und an, wenn sie Daten und Unterlagen brauchten.“
3. Verfassungswidrige Entscheidungen: „Rudolf Mühlfenzl hatte ungeachtet der im Grundgesetz festgeschriebenen Medienhoheit der Länder und entsprechender Richtlinien der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM), die willkürliche Präjudizierungen von Frequenzvergaben ausschließen, UKW-Frequenzen einstiger DDR-Stationen zur Disposition gestellt.“
4. Nutzlose privatwirtschaftliche Umschulungsmaßnahmen: „Ein Beispiel für gänzliche Nichtachtung der von der ursprünglichen Leitung des Hauses eingeleiteten perspektivischen Maßnahmen war das von Rudolf Mühlfenzl angeordnete ‚U-W-A‘-Projekt: ‚Umschulung, Weiterbildung, Arbeitsvermittlung‘ (!), für das der Philip-Morris-Manager Ferdi Breidbach verantwortlich zeichnete. Ohne Rücksprache mit Intendanz, Betriebsakademie und Personalrat wurden hier vollendete Tatsachen geschaffen, wurde ein aufwendiges, kostspieliges Programm in Szene gesetzt, das sogleich seines mageren Inhalts wegen bei der Leitung des Hauses, bei den Mitarbeitern, aber auch bei Sachkennern der Arbeitspolitik ungemein kritischen Widerhall fand.“
5. Ungenügende politische und fachliche Konzeptfindung: „Außerordentlich bedauerlich war, dass Rudolf Mühlfenzl – gemessen am Auftrag des Artikels 36 des Einigungsvertrages – lange Zeit keine wesentlichen Entscheidungen zur Überführung oder Auflösung der ‚Einrichtung‘ vorbedacht und mit dem Rundfunkbeirat verhandelt hatte. Das Konzept, das er am 8. Mai 1991 den Chefs der Staatskanzleien unterbreitete und das im Wesentlichen auf Überlegungen der Funkhaus- und DFF-Intendanz fußte, war zufolge ungenügender politischer und fachlicher und darüber hinaus verspäteter Präsentation zunächst durchgefallen. Die längst greifende provisorische föderale Rundfunkstruktur ist dagegen in Zusammenarbeit mit Hörfunkrat, kommissarischer Wende-Intendanz, neuer Intendanz der frei gewählten Regierung de Maizière und den amtierenden Landesrundfunk-Direktoren lange vor Rudolf Mühlfenzls Erscheinen umgesetzt worden. Es bedurfte wahrlich keiner großen Erkenntnis oder Anstrengung, die sich schon Mitte 1990 (!) zu entwickeln beginnenden drei Rundfunkanstalten der fünf neuen Länder, wie dann stolz mitgeteilt, als ‚Keimzellen‘ künftiger Landesrundfunkanstalten zu deklarieren.“
Nach zwei Abmahnungen (11. Januar 1991 und 21. Februar 1991) erhielt mein Vater am 17. Mai 1991 eine „Änderungskündigung mit sofortiger Wirkung“ (mit nachfolgendem Hausverweis). Der Tagesspiegel vom 22. Mai 1991 resümierte:
„Das Vorgehen gegen Hildebrandt zeigt, dass die Nerven der im Mediengeschäft Verantwortlichen derzeit blank liegen. Rudolf Mühlfenzl kann nach einem halben Jahr seiner Amtstätigkeit noch keine Überführung eines Senders aus den ehemaligen Rundfunkzentralen in die neuen Länder melden. Kritische Anmerkungen zu diesem Thema, von Hildebrandt mehrfach vorgebracht, treffen offenbar einen sensiblen Punkt des Rundfunkbeauftragten. Dass mit Hildebrandt ein Mann zurückversetzt wird, der den Umbruch in der DDR aktiv beförderte, mag man mit sentimentalen Gefühlen bedauern. Wenn andererseits aber ein ehemaliges Mitglied des unseligen staatlichen Rundfunkkomitees der DDR noch immer emsig im Beraterstab Rudolf Mühlfenzls mitlaufen kann, wird ein schlimmer Leisten sichtbar, der über die Personalpolitik der ‚Einrichtung‘ geschlagen wird: entscheidend ist die Biegsamkeit des Rückgrats.“ Die formaljuristische Seite der Auseinandersetzung begann im Juli 1991 vor dem Berliner Arbeitsgericht und endete Anfang 1992 vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel mit der Bestätigung eines außergerichtlichen Vergleichs.
Mein Vater sagt heute, angesichts der seinerzeit „gewissenhaft übernommenen Haftung, dieser klar erkannten Verantwortung, ja angesichts auch einer unsäglichen Lust zur Veränderung hätte es nicht der Mission westdeutscher Statthalter bedurft, sündhaft teuer, sträflich ignorant, um den ehemals staatlich gelenkten Zentralrundfunk in die freie Medienwelt der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu überführen“.
II. Die Repräsentationslücke im Landesdienst schließen
Im Herbst 2019 verhandelten SPD, Grüne und CDU in Brandenburg ihren Koalitionsvertrag. Unter der Überschrift „Ostdeutsche Interessen“ findet sich folgende Passage: „Das Land Brandenburg wird für seine berechtigten Interessen als ostdeutsches Bundesland eintreten. Die meisten politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zukunftsfragen stellen sich in ganz Deutschland, treten im Osten jedoch verstärkt auf oder sind anders gelagert. Noch immer sind Ostdeutsche in Führungspositionen in Verwaltung und Justiz, Wirtschaft und Medien, Wissenschaft und Kultur unterrepräsentiert. Wir werden mit gutem Beispiel vorangehen und uns dafür einsetzen, dass die Repräsentationslücke im Landesdienst geschlossen wird. Die Koalition tritt dafür ein, dass auch Juristinnen und Juristen ostdeutscher Herkunft zu Richterinnen und Richtern an Bundesgerichte berufen werden.“
Dieser Abschnitt ist der erste Passus in einem Koalitionsvertrag der neuen Länder, der sich explizit auf die Minderrepräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen bezieht, diese implizit als Missstand charakterisiert und durch Selbstnormierung Handlungsverpflichtungen eingeht.
Vorausgegangen waren dieser Passage viele intensive Diskussionen in der ein Jahr zuvor gegründeten Ost-Kommission der SPD Brandenburg und der Ostkonferenz der Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD. Denn noch 30 Jahre nach der Wende ist die Unterrepräsentanz Ostdeutscher auf allen Leitungsebenen, im Bund und in den Ländern, erschreckend:
Nur 1,7 Prozent der Führungskräfte in Deutschland kommen aus dem Osten, obwohl der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung 15-17 Prozent ausmacht. Als Führungskräfte zählen Minister, Chefredakteure, Richter, Staatssekretäre, Geschäftsführer von großen Unternehmen, Rektoren, Generäle (Bluhm/Jacobs 2016).
Lediglich 17 Prozent der Abteilungsleiter in brandenburgischen Ministerien kommen 2019 aus dem Osten (Göldner 2019), nur 12 Prozent der Professorinnen und Professoren sind es an der Universität Potsdam (Antwort auf Anfrage, Drucksache 6/10634, 2019), und nur 13 Prozent der Richterinnen und Richter an ostdeutschen Gerichten sind Ostdeutsche (Gebauer 2017).
Insgesamt sind nur circa 23 Prozent der Spitzenpositionen in den Landesverwaltungen der ostdeutschen Länder mit Ostdeutschen besetzt, obwohl sie 87 Prozent der Bevölkerung ausmachen (Bluhm/Jacobs 2016). Die Zahlen können beliebig ergänzt werden; auch in den Medien sind Ostdeutsche in Führungspositionen schlecht vertreten (siehe weiter unten).
In der Kommission wurde diese Situation als ein ursächlicher Aspekt der aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen in folgender Weise diskutiert: Derart stark erlebbare Minderrepräsentanz führt dazu, dass viele Ostdeutsche die Alltagserfahrung machen, nicht hinreichend vertreten zu sein. Und Menschen, die nicht vertreten sind, betrachten sich als nicht zugehörig und erliegen der Gefahr, sich aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen zurückzuziehen. Auch dass die jeweiligen Interessen der ostdeutschen Bundesländer weniger zentral diskutiert und berücksichtigt werden, wurde mit der fehlenden Repräsentanz in einschlägigen Führungspositionen in Zusammenhang gebracht. Zudem wurde konstatiert, dass die Minderrepräsentanz Ostdeutscher nicht individuelle, sondern strukturelle Ursachen hat.
Erstens wurde die Elite im Osten nach 1989 systematisch durch Führungskräfte aus den alten Bundesländern ersetzt. Das hatte zu einem erheblichen Teil berechtigte Gründe, setzte sich aber weiter fort, als diese wegfielen. Bis heute rekrutiert die neue Elite im Wesentlichen den eigenen Nachwuchs aus den alten Netzwerken. Das kann man deutlich in gehobenen Verwaltungspositionen und auch in der Wissenschaft feststellen. Es gibt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung weder eine Universitätspräsidentin noch einen Universitätspräsidenten aus Ostdeutschland.
Zweitens haben die Eltern potenzieller Führungskräfte im Osten tief greifende berufliche Brüche erlebt, von der Deindustrialisierung der 1990er Jahre hat sich Ostdeutschland bis heute nicht erholt. Aus dieser Erfahrung heraus raten Eltern ihren Kindern, sichere Wege zu gehen.
Und drittens ist natürlich das einst vollmundig propagierte sozialistische Erziehungsziel, die eigenen Interessen und Bedürfnisse denen der Gruppe unterzuordnen, nicht gerade jene Position, die man ansteuern würde, wenn man Führungskräfte für unsere heutige Gesellschaft großziehen wollte. Ein böser Witz, den viele kennen, macht das klar: Warum gibt es im Westen das Abitur nach dreizehn Schuljahren und im Osten schon nach zwölf? Weil ein Jahr Schauspielunterricht dabei ist. Nein, die Kunst der klugen Selbstpräsentation ist vielen Ostdeutschen wenig oder gar nicht geläufig. Solche unterschiedlichen Prägungen setzen sich über Generationen fort.
Hinzu kommt viertens, dass der Habitus des westdeutschen Führungspersonals und dessen Konvention extrem „feingetunt“ sind. Führungspositionen werden in der Regel von Westdeutschen vergeben.
Fünftens: Es fehlten in der neuen Situation von Beginn an ostdeutsche Vorbilder in Führungspositionen. Das hat sich aufgrund der zuvor beschriebenen Fakten bis heute nicht wesentlich verändert.
Strukturellen Benachteiligungen, so wurde in der Kommission diskutiert, solle man systematisch entgegenwirken. Als Arbeitsdefinition für die Gruppe derjenigen, die von dieser Benachteiligung betroffen ist, wurde festgelegt: Als Ostdeutsche gelten Personen, deren Sozialisation in den ostdeutschen Bundesländern erfolgte oder erfolgt, also deren schulische Bildungsbiografie in den ostdeutschen Bundesländern stattgefunden hat oder stattfindet. In der Ostkonferenz der AG für Bildung der SPD wurde die Forderung nach einer systematischen Herangehensweise an die Beseitigung der Minderrepräsentanz als Quotenforderung präzisiert (Juni 2018):
„Auch 29 Jahre nach der Wende gibt es eine massive Minderrepräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen in Ostdeutschland und in der gesamten Bundesrepublik. Diese Minderrepräsentanz ist auf eine strukturelle Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern aus Ostdeutschland zurückzuführen, die drei zentrale Gründe hat:
In Ostdeutschland wurden 1990 beim Aufbau von Wirtschaft, Landes- und Kommunalverwaltung, Justiz und Hochschulen, in kommunalen Spitzenverbänden und Medien nahezu alle Positionen mit Personal aus den alten Bundesländern besetzt. Stellennachbesetzungen erfolgten und erfolgen innerhalb der etablierten Netzwerke durch im Altbundesgebiet sozialisierte Personen.
Menschen, deren schulische Bildungsbiografie in den ostdeutschen Bundesländern stattgefunden hat, sind strukturell benachteiligt, weil die DDR-Gesellschaft andere Erfordernisse hatte und andere Erwartungen definierte als die heutige. Zentral waren Werte des Sich-Einordnens in eine Gemeinschaft und der persönlichen Zurückhaltung in öffentlichen, sozialen Kontexten.
Ausgelöst durch Infragestellung der bisherigen Bildungsbiografie, Abwertung der Ausbildungswege und Verpflichtungen zur Nachqualifizierung in den 1990er Jahren kam es zu einem Prozess der Verunsicherung im neuen System, der die Neuorientierung erschwerte.
Auswirkungen dieser Entwicklungen und Erfahrungen wirken unvermindert bis in die Gegenwart.
Worauf bezieht sich die Quote?
Um diese strukturellen Benachteiligungen zu minimieren, fordern wir die Einführung einer Ostquote von 18 Prozent für Führungskräfte in Landes- und Kommunalverwaltung, in Justiz und Hochschulen, in kommunalen Spitzenverbänden und Medien. Das entspricht dem Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. Diese Quote gilt für das gesamte Bundesgebiet.
Wer gilt als Ostdeutscher?
Diesen strukturellen Nachteilen muss man strukturell begegnen, sonst lassen sie sich nicht beseitigen. Eine relative Quote könnte helfen, ein Anteil also, für den beispielsweise bundesweit festgeschrieben wird, dass bei gleicher Eignung Führungsjobs an ostdeutsche Bewerberinnen oder Bewerber gehen, so lange, bis sie zu 17 Prozent Berücksichtigung finden. Als ostdeutsch gilt nach unserer Definition eine Person, die in Ostdeutschland zur Schule gegangen ist oder zur Schule geht.“
In beiden Kommissionen und darüber hinaus in gesellschaftlichen und politischen Debatten 2018 und 2019 wurde die Forderung nach einem systematischen Gegensteuern – insbesondere die Forderung nach einer Ostquote – kontrovers diskutiert. Klassische Methoden der starken Affirmative Action wie präferenzielle Behandlung bei der Besetzung von Arbeits- und Studienplätzen, Vorgabe von quantitativen, statistisch überprüfbaren personalpolitischen Plänen, Zeitplänen, Zielen oder Quoten (vgl. Kaloianov 2008) zur Behebung von Minderrepräsentanz in Führungspositionen der Landes- und Bundesverwaltungen wurden mit ihrem Für und Wider erwogen. Im Ergebnis der Diskussionen gelang wenigstens eines: Das Thema als eigenen Abschnitt im Wahlprogramm der Brandenburger SPD zu verankern und eine Selbstverpflichtung zum Abbau von Minderrepräsentanz zu integrieren. Diese Selbstverpflichtung wurde schließlich, wie oben dargestellt, in den gemeinsamen Koalitionsvertrag und nach intensiven Diskussionen in das Regierungsprogramm aufgenommen.
III. Was spricht eigentlich dagegen, die Minderrepräsentanz Ostdeutscher systematisch abzubauen?
Der Missstand einer ostdeutschen Minderrepräsentanz ist überdeutlich, die gesellschaftspolitische Lage im Osten wird neuerdings beständig medial thematisiert, neue Ideen für wirksames politisches Agieren sind mehr denn je gefragt. Da scheinen Überlegungen, wie der Repräsentanzlücke beizukommen ist, nicht nur nachvollziehbar, sondern auch notwendig – dachte ich mir. Dass es Widerstände geben würde, war mir klar, als ich 2018 begann, mich in die Debatte einzubringen. Wie knallhart und vehement unterschiedlichste Einwände vorgetragen und in diversen Konstellationen durchgesetzt wurden, war für mich dennoch überraschend. Im Folgenden möchte ich die häufigsten dieser Einwände vorstellen. Es handelt sich dabei um Einwände, die in Diskussionen zum Tragen kamen, an denen ich direkt oder im Hintergrund beteiligt war.
Ich beschäftige mich hier nicht damit, diese Einwände zu widerlegen. Mein Ziel ist es vielmehr, einen erfahrungsbasierten Einblick in die wichtigsten aktuellen Denk- und Argumentationsmuster zu geben, die einer Beseitigung von Minderrepräsentanz entgegenstehen. Während der rechtlichen Verankerung (und im Zusammenhang damit der Lösung von Abgrenzungsfragen) wohl wenig im Weg steht, leidet die politische Durchsetzbarkeit vor allem unter Bedenken und Einsprüchen, die gegen jede Form von Affirmative Action hervorgebracht werden (Hewstone 1996, Pojman 1997). In der Forschungsliteratur zu Affirmative Action, die sich großenteils auf US-amerikanische Erfahrungen bezieht, versteht man darunter vor allem Hinweise auf die Verletzung von Prinzipien der Chancengleichheit und der Leistungsgerechtigkeit, auf die Viktimisierung der von der Affirmative Action profitierenden Gruppe sowie auf deren fortdauernde Stigmatisierung durch mögliche Zuweisung von Erfolgen der Zielpersonengruppe auf Affirmative Action (Kaloianov 2008). Diese und andere Paradigmen zeigen sich als Befürchtungen, die Einwände in der Diskussion um Maßnahmen zur Beseitigung von Minderrepräsentanz Ostdeutscher motivieren.
1. Der Anachronismus-Einwand
In Zeiten der Globalisierung und Internationalität befasst ihr euch mit solchen Unterschieden! Das ist doch längst vorbei. Es gibt das Argument, Nachdenken über Ost- und Westdeutschland sei anachronistisch. Kombiniert und unterfüttert wird das Argument typischerweise auf zwei unterschiedliche Arten: Die erste verweist darauf, dass die jungen Leute von heute keinerlei Vorstellung mehr von West und Ost hätten, dass dieser Unterschied für ihre Lebenswirklichkeit kaum eine Rolle mehr spiele und sie sich in keiner Weise über die Begriffe „Ossi“ und „Wessi“ identifizierten. Daher werde sich das Thema in naher Zukunft von selbst erledigen. Dieses Argument hörte ich aus west- und aus ostdeutscher Perspektive immer wieder.
Der zweite Denkstrang bezieht sich auf die wachsende Unterschiedlichkeit aller Menschen in der Bundesrepublik. Betont wird in der Regel, die Bundesrepublik sei ein weltoffenes Land, das Menschen aller Herkünfte beheimate. Die Ost-West-Unterschiede zu betonen sei deshalb völlig unzeitgemäß: Insbesondere hörte ich, dass Brandenburg Vielfalt befördern müsse. Zusammenhalt und Weltoffenheit sollten das Land kennzeichnen. Daher seien die zukunftsfähigen Diskurslinien weit jenseits der Ost-West-Unterschiede zu ziehen – was übrigens fast alle Menschen so sehen würden, die zeitgemäß und nicht rückwärtsgewandt denken.
2. Der allgemeine Spaltungs-Einwand
Ihr gießt Öl ins Feuer der Spaltung in diesem Land. Davon haben wir schon genug. Wir brauchen Zusammenhalt und kein Betonen der Unterschiede! Ein zentraler Einwand ist, dass das Thematisieren der Ost-West-Unterschiede die Spaltung im Land verstärke und die Gräben vertiefe. Alte Vorurteile würden wiederbelebt und die Schubladen wieder geöffnet, in denen gegenseitige Abwertungen und Vorwürfe begraben seien. Die Gefahr, die vom Erstarken der rechtspopulistischen AfD im Osten ausgeht, ist für den Spaltungseinwand von großer Bedeutung: Vor dem Hintergrund dieser größeren Bedrohung erscheine das Anliegen, ostdeutsche Interessen in Repräsentanzangelegenheiten hör- und streitbar zu vertreten, als „Nebenschauplatz“, den es angesichts der massiven Herausforderungen der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage in den Hintergrund zu stellen gelte. Im Westen sozialisierte Personen hörte ich verwundert fragen, ob man das Thema auf Ostseite wirklich noch einmal anheizen wolle, obwohl man doch mit dem Integrationsprozess schon sehr weit sei und die meisten Unterschiede nahezu überwunden seien.
3. Der Naivitäts-Einwand
Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass das etwas bringt. Wir haben seit 30 Jahren versucht, Dinge in diese Richtung zu bewegen. Da passiert gar nichts. Das ist vergebliche Liebesmüh! Dieser Einwand wurde häufig von in Ostdeutschland sozialisierten Personen vorgebracht. Mit ihm gingen das tiefe Misstrauen und der Zweifel einher, dass in dieser Hinsicht auch nur die geringste Bewegung zu erwarten sei.
4. Der Blick-nach-hinten-Einwand
Was soll’s denn nützen, in der Vergangenheit zu kramen, auch wenn sie schlimm war. Damit sichert man keine Vorteile für die Zukunft. Diesen Gedankengang hörte ich von in Ostdeutschland und von in Westdeutschland sozialisierten Personen. Ihn begleitete die Ablehnung, darüber zu sprechen, was schiefgelaufen und ungerecht gewesen sei. Man ging davon aus, dass das Sich-Befassen mit der Vergangenheit in keinem Fall etwas nütze oder gar Veränderungen schaffe, sondern lediglich alte Wunden aufbrechen lasse.
5. Der West-Diskriminierungs-Einwand
Als Krankenschwester aus dem Westen durfte ich den Ossis den Arsch abwischen, aber als Führungskraft komme ich nicht in Betracht – oder wie? Diesen Einwand hörte ich nur von westsozialisierten Personen. Die massivsten Einwände artikulierten Personen in mittleren Führungspositionen der Brandenburger Verwaltung und Politik, die seit Langem im Bundesland leben. Ihr Vorwurf: Bei einer Affirmative Action zugunsten Ostdeutscher drohten ihnen Jobverlust, Aufstiegshindernisse, Diskreditierung und Ausgrenzung. Und das, obwohl sie nach 30 Jahren endlich das Gefühl hätten, dazuzugehören und zu Hause zu sein, was am Anfang nicht leicht gewesen sei und hart erkämpft werden musste. Diese Argumente, ergänzt durch „Rassismus-“ und „Blut-und-Boden-Vorwürfe“, wurden den Befürwortern einer Affirmative Action entgegengehalten und manchmal so stark emotional aufgeladen, dass Tränen flossen.
6. Der Schonungs-Einwand
Das kann man den Wessis nicht zumuten. Sie fühlen sich dann zu schlecht und sind verärgert. Außerdem haben sie echt viel für uns gemacht. Von ostsozialisierten Personen wurde der Westdiskriminierungseinwand häufig antizipiert. Oft hörte ich, dass eine Konfrontation mit dieser emotionalen Kraft unbedingt verhindert werden müsse. In der Regel erkannten Personen, die den Schonungs-Einwand vorbrachten, die prinzipielle Richtigkeit der Affirmative Action angesichts der Sachlage an, doch die dadurch aufkommenden Konflikte mit einzelnen westsozialisierten Personen in Führungspositionen seien unbedingt zu vermeiden. Ein starkes Harmoniebedürfnis und die Überzeugung, dass der Kampf für die eigenen Belange unfaire, weil egoistische Elemente enthalte, ließen sich als Gründe ausmachen. Hinzu kam die Vermutung, angesichts der schieren Menge der Führungspositionen, die von Westdeutschen besetzt sind, könne das Eintreten für die Beseitigung ostdeutscher Minderrepräsentanz möglicherweise eigenen Aufstiegsplänen schaden.
7. Der Opfer-Einwand
Wir schaffen das schon alleine. Ich will gar keinen Vorteil haben, nur weil ich Ossi bin. Das brauche ich gar nicht. Wer will, der schafft es schon. Aus der Ostperspektive wandte sich dieser Einwand gegen die Zuschreibung des Opferstatus, der mit einer Affirmative Action einhergehe. Diesen Gedanken hörte ich von Personen, die es ihrer Selbstwahrnehmung nach im Westen „geschafft“ hatten und dieser Erfahrung wegen meinten, das sei mit ein bisschen Anstrengung prinzipiell zu schaffen. Da die Zahlen der Minderrepräsentanz vorliegen, die Evidenz also unbestreitbar ist, dass Ostdeutsche minderrepräsentiert sind, ein struktureller Hintergrund dieser Effekte aber dennoch nicht anerkannt wird, verweist dieses Argument auch auf eine eigentümliche kollektive Selbststigmatisierung: die Annahme fehlender Fähigkeiten (siehe Inkompetenz-Einwand). Auch lässt dieser Einspruch außer Acht, dass auf der Metaebene Nicht-Anerkennung struktureller Nachteile bei starker Beweislast wenig selbstbewusst und verdrängend wirken kann. Wollt ihr wirklich wieder die Opfer sein? 30 Jahre nach der Wiedervereinigung? Könnt ihr dieses Modell gar nicht hinter euch lassen?
Aus der Perspektive Westdeutscher vernahm ich diesen Einwand häufig in folgender Form: Es wurde darauf hingewiesen, dass es 30 Jahre nach der Wende genug Alimentierung aufgrund von Misswirtschaft gegeben habe. Nun solle Eigenaktivität das Handeln endlich auch im Osten bestimmen und das für Opfer so typische Jammern endlich aufhören.
8. Verallgemeinerungs- oder Zersplitterungs-Einwand
Wenn es eine Ostquote gibt, dann müsste es ja auch eine für Nord und Süd geben, und wenn auch noch Leute aus Schleswig-Holstein eine fordern, was sollte denn dagegensprechen, auch für sie eine Quote einzuführen?
Dieser Einspruch gehört in die Gruppe der „Wenn das alle machen würden“-Argumente. In diesem Fall unterliegt ihm die Annahme, dass es für eine Affirmative Action
9. Der Irrelevanz-Einwand
Hier zählen folgende Varianten:
Absolut
Es ist doch vollkommen egal, ob eine Gruppe unterrepräsentiert ist! Das ist eben so und das ändert sich auch wieder. So ist die Welt nun mal. Vereinzelt kamen auch Argumente folgender Art: Es sei völlig egal, woher jemand stamme und wie er sozialisiert sei. Ebenso sei es völlig in Ordnung, dass einige Gruppen unterrepräsentiert seien. So sei der Gang der Dinge, und so etwas ändere sich auch mal – wenn nicht, dann nicht.
Relativ mit Anerkennung der Problemlage
Wissen wir doch, dass da niemand von uns dabei ist. Aber da gibt es ja nun wirklich andere Themen in Bezug auf den Kampf für den Osten, die wichtiger sind: Vermögen, Einkommen, Renten. Wen interessiert da die Minderrepräsentanz?
Häufiger hörte ich den Vorwurf der relativen Irrelevanz mit Anerkennung der Problemlage. Die Realität über 30 Jahre nach der Wende sehe nämlich schlimm aus: Ostdeutsche haben nach wie vor deutlich weniger Vermögen, weniger Einkommen, das Land ist flächendeckend deindustrialisiert, die Jungen gehen in den Westen, weil es da die besser bezahlten und höher qualifizierten Jobs gibt. Das seien die wahren Problemlinien. Der Kampf um Minderrepräsentanz dagegen sei eher symbolisch und daher relativ unwichtig.
Relativ ohne Anerkennung der Problemlage
Minderrepräsentanz ist doch nicht das Problem im Osten. Die Leute haben einfach nicht gelernt, wie Demokratie geht. Und zwar bis heute nicht. Vielfach und ausschließlich von im Westen sozialisierten Menschen kam das Argument, die gesellschaftliche Lage im Osten habe nichts mit der Minderrepräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen zu tun. Es handele sich vielmehr um einen anderen Missstand: „Wenn ich mich umsehe, sehe ich Diktaturopfer und mangelndes demokratisches Verständnis. Wir müssen Demokratieprogramme auflegen, damit die Leute verstehen, dass Demokratie anstrengend ist und sie nicht nur fordern dürfen.“ Illiberale Einstellungen, Frustration und Desillusionierung im Osten werden in diesem Denkmodell auf gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen zurückgeführt, die mehr als 30 Jahre zurückliegen, nicht aber auch auf Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte.
10. Der Eliten-Einwand
Führungsquoten – wen interessiert das in Ostdeutschland? In Spitzenpositionen kommen die meisten doch sowieso nicht! Dieses Argument hörte ich eher von Personen in leitenden Positionen – sowohl ost- als auch westdeutscher Sozialisation. Es wurde mit der Hypothese begründet, die Aufteilungsbelange in Spitzenpositionen seien für die meisten Menschen nicht von Bedeutung, weil die Mehrheit selbst nicht in Führungspositionen vertreten sei. Manchmal wurde dieser Gedanke von folgender Bemerkung begleitet: Selbst wenn mehr Ostdeutsche in der Elite des Landes vertreten wären, würde das sicher auch nicht zu einer stärkeren Berücksichtigung ostdeutscher Interessen führen, weil die Eigenlogik der Eliten so stark sei, dass sich hier sowieso die Mächtigen durchsetzen würden.
11. Einwand anhaltender Inkompetenz
Wir suchen und suchen, aber geeignete ostdeutsche Bewerber sind einfach nicht zu finden! Was sollen wir machen? Wir können uns keine aus den Rippen schneiden. Diese Beobachtung wird oft mit fachlicher oder motivationaler Inkompetenz von in Ostdeutschland sozialisierten Personen begründet. Mangelnde fachliche Kenntnis und fehlende Motivation würden über Generationen hinweg weitergetragen. Da dauere es, bis die erforderlichen Techniken und Kenntnisse etabliert seien, offenbar leider ziemlich lange. Diesen Einwand gegen systematische Maßnahmen zur Beseitigung der Minderrepräsentanz hörte ich nur von Westdeutschen.
12. Der Es-ist-zu-spät-Einwand
Sollen wir jetzt nach mehr als 30 Jahren den Ossis sagen, dass sie die ganze Zeit verarscht wurden? Dieser mir nur von ostdeutscher Seite zu Ohren kommende Einwand erkennt klar die zentralen Ungerechtigkeiten und konstatiert, dass früheres Eingreifen nötig gewesen wäre. Zugleich betont er die Gefahr, dass das Benennen gravierender Versäumnisse zu einem (zu) späten Zeitpunkt kontraproduktiv sein würde, weil sich die Versäumnisse der letzten 30 Jahre nicht mehr wettmachen lassen und so schließlich auf die, die lange in politischer Verantwortung seien – was für die SPD der Fall ist –, als Vorwurf zurückfallen würde. Insofern sei die Forderung einer Affirmative Action für den Osten potenziell parteischädigend.
13. Der Definitions-Einwand
Wer ostdeutsch ist, lässt sich doch gar nicht mehr sagen. Dieser Einwand zielte meistens darauf, die juristische Umsetzbarkeit infrage zu stellen oder für unmöglich zu erklären. Abgrenzungsfragen wurden als vorgängig und essenziell verstanden, nicht als im Zusammenhang mit einer politischen Willensbildung nachrangig und unumgänglich. In diesem Zusammenhang verwiesen die Personen auf Definitionsaspekte, die sie mit der Binnenmigration in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre verbanden:
„Was ist mit jenen Frauen und Männern, die als vielleicht 25-, 30-, 35-Jährige vom Westen in den Osten gingen, um nach der Wiedervereinigung in den östlichen Bundesländern zu arbeiten, und seither dort leben? Sind das noch immer Westdeutsche oder doch eher Ostdeutsche? Oder die berühmten Wossis (Wessi + Ossi = Wossi)? Umgekehrt gälte das auch für die Ostdeutschen, die im Westen leben.“ (Kowalczuk 2019: 85)
14. Der Konstruktions-Einwand
Anders als der Definitionseinwand ist der Konstruktionseinwand gelagert. Er beinhaltet die These, dass es sich bei „den Ostdeutschen“ um eine soziale Konstruktion handele. „Erklärtes Ziel der Kommunisten war es, das Staatsbürgerkollektiv zu formen. Es gelang nicht. Nun kamen im Gefolge von 1989/90 neue Konstrukteure, eine sehr disparate Truppe: Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Publizisten. Alle bastelten am Bild der ‚Ostdeutschen‘ mit, alle erfanden sie ‚die Ostdeutschen‘.“ (Kowalczuk 2019: 87) Aus der pauschalisierenden Zuschreibung diverser Kollektiveigenschaften an die über einen gemeinsamen Erfahrungsraum definierte Gruppe der Ostdeutschen schließen Verfechter dieser Position, dass die Gruppe selbst eine Konstruktion sei und daher nicht Gegenstand normierender politischer Eingriffe sein könne. Es sei einfach unsinnig, Affirmative Action auf eine solche Konstruktion zu beziehen. Dieses Argument hörte ich ausschließlich von soziologisch gebildeten und gut informierten Ostdeutschen.
15. Der Einwand mangelnder Ursachenkenntnis
Solange wir nicht wissen, woran es wirklich liegt, können wir nicht sinnvoll handeln. Weil bisher nicht im Einzelnen bestimmbar war, welche strukturellen Ursachen im Besonderen für Minderrepräsentanz in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen verantwortlich zu machen sind, wird geschlussfolgert, dass kein sinnvolles politisches Handeln möglich sei. „Mögliche Zukunftsperspektiven des ostdeutschen Elitenproblems können ohne Reflexion der Marginalisierungsmechanismen nicht sinnvoll entwickelt werden“
IV. Schlussreflexion: Stand der politischen Umsetzung der Selbstverpflichtung
Die Selbstverpflichtung im Koalitionsvertrag schlug sich bislang nicht bei der Besetzung der Stellen nieder. Das zeigte sich bereits bei der Auswahl der Kabinettsmitglieder. Allerdings unternahm die Brandenburger SPD aufgrund unseres Insistierens wenigstens einiges: Bei der Aufstellung des neuen Brandenburger Kabinetts besetzte sie vier Ministerposten mit Ostdeutschen (einschließlich Ministerpräsident) und zwei mit Westdeutschen. Die Grünen (zwei Minister) interessierte das „identitätspolitische“ Thema jedoch nicht; sie wollten sogar die Formulierung im Koalitionsvertrag verhindern und besetzten ihre beiden Ministerposten mit Westdeutschen. Die CDU versah einen ihrer Ministerposten mit einem Ostdeutschen, zwei mit Westdeutschen. Was die Zuordnung der Staatssekretäre anbelangte, besprachen wir intern, dass es ausgeschlossen sei, für das gleiche Ressort sowohl Minister als auch Staatssekretär westdeutscher Herkunft zu verpflichten. Dem wurde nur sehr begrenzt Rechnung getragen.
Das Ergebnis nach der Regierungsbildung am 20. November 2019: Von elf Ministern waren fünf Ostdeutsche (davon vier SPD-Minister), von 14 Staatssekretären drei aus dem Osten (drei SPD-Staatssekretäre). Auch sämtliche Führungsposten jenseits der Spitzenjobs in Ministerien wurden im Frühjahr 2020 (während der Corona-Zeit) mit Westdeutschen besetzt: die Landesgleichstellungsbeauftragte, der Polizeipräsident, ein Abteilungsleiterposten im Ministerium des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg sowie der Präsident des Landesstraßenbetriebes. Der prompt erfolgte Einspruch wurde freundlich zur Kenntnis genommen.
Trotz starker Bemühungen gelang es bisher nicht, ein juristisches Gutachten zur Umsetzung der Selbstverpflichtung in Auftrag zu geben, das Rechtssicherheit in Fragen der Affirmative Action sowie bezüglich der Abgrenzung der Zielgruppe schafft. Weder die Staatskanzlei in Brandenburg (Anachronismus- und Spaltungs-Einwand) noch die Brandenburger SPD-Fraktion (Westdiskriminierungs-Einwand, Schonungs-Einwand) sind bislang bereit dazu, diesen Schritt zu gehen. Die äußerst schwierige und für alle Beteiligten anstrengende Durchsetzung der ostdeutschen Bundesverfassungsrichterin Ines Härtel aus Sachsen-Anhalt im Juli 2020 könnte diese Sicht ändern.
Immerhin gibt der innerparteiliche und innerdeutsche Schlagabtausch über diese Entscheidung Anlass zur Hoffnung: Viele ostdeutsche Politiker haben die Diskussionen um einen ostdeutschen Kandidatrn oder eine ostdeutsche Kandidatin als herabwürdigend und ungerecht erlebt. Dieser vom Inkompetenz-Einwand dominierte Streit hat den Beteiligten klar vor Augen geführt, wie viel Bereitschaft zur Auseinandersetzung gefordert ist, um die Repräsentanzlücke Ostdeutscher in Führungspositionen zu schließen, und alle miteinander aufs Neue oder gar erstmals genötigt, sich für das scheinbar unabwendbare Fatum der Minderrepräsentanz Ostdeutscher zu sensibilisieren. Trotzdem gilt: Dass man einer entsprechenden Transparenz medial ebenfalls weitgehend ausweicht, darf nicht erstaunen. Leitungspositionen sind vornehmlich westdeutsch besetzt. Ich blicke auf Brandenburg und Berlin: Thematisiert wird die Unterrepräsentanz – wen wundert’s – im Neuen Deutschland und in der taz, regional gelegentlich in der Märkischen Allgemeinen, in der Märkischen Oderzeitung und in den Potsdamer Neuesten Nachrichten. In den großen Tageszeitungen der Hauptstadt findet sich das Thema bestenfalls als Glosse. Die mangelnde Umsetzung der Selbstverpflichtung im Koalitionsvertrag stößt mithin nicht auf störende und Aufmerksamkeit fordernde Kritik. So viel, so kurz zu den Printmedien. Und beim Rundfunk Berlin-Brandenburg, beim RBB, ist es nicht anders.
Von einigen Mitarbeitenden mit Einfluss auf die Programmgestaltung hörte ich vor allem das Irrelevanz-Argument – ohne Anerkennung der Problemlage. In den zentralen zwölf Leitungsfunktionen des Senders waren im Frühjahr 2020 zwei Ostdeutsche zu finden; von den sechs Wellenchefs beziehungsweise Chefinnen des Hörfunks war eine Person ostdeutsch. Mein Vater hielt im Rückblick an seiner Schilderung des Verdrängungsprozesses beim Rundfunkaufbau Ostdeutschlands fest:
„Vieles, sehr vieles ist ganz wunderbar gelaufen für den neuen öffentlich-rechtlichen und freien Rundfunk in den ostdeutschen Ländern. Auge und Ohr haben sich öffnen dürfen, weit über die eigenen Grenzen hinaus. Doch Geschehen und Versäumen in unmittelbarer Nähe, in meiner Stadt, in meinem Dorf, in meinem Kreis, in meinem Bundesland, sie sind nie ehrlich, kritisch und fordernd genug zur Sprache gekommen – nicht weil dies vergessen worden wäre, sondern weil es all den Berufenen mit ihrer ferner stehenden Sozialisation nicht so schrecklich wichtig erschienen ist. Etwa immer noch Ost-West-Brüche? Kleister drauf! Eine RBB-eigene professionelle angriffslustige ‚ostdeutsche Stimme‘ (Festanstellung) habe ich nie und nirgends entdeckt. Wie denn auch! Und doch hätte uns dies und manch andere laute Tongebung Ost gelingen können – da bin ich mir ganz sicher (und wieder in den Jahren 1990/91): Natürlich nicht allein, doch Seite an Seite in allerengstem Kontakt mit fachkundigen und verständnisvollen Ratgebern der alten Bundesrepublik hätten wir es geschafft – mit ruhigerer Hand, gerechterem Ausgleich.“
Zitierweise: Frauke Hildebrandt, "Affirmative Action" im Osten. Hintergründe, Einwandstypen und Stand der Dinge - ein Erfahrungsbericht aus Berlin und Brandenburg, in: Deutschland Archiv, 3.01.2022, Link: Externer Link: www.bpb.de/344489. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Literatur:
Bluhm, Michael und Olaf Jacobs: Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten – ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung, 2016, https://www.mdr.de/heute-im-osten/wer-beherrscht-den-osten-studie-100-downloadFile.pdf, letzter Zugriff am 4.5.2020.
Fritsche, Andreas: Westdominiertes Ostkabinett. Von 24 Ministern und Staatssekretären in Brandenburg sind nur neun aus Ostdeutschland, ND-online, 25.11.2019, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1129096.repraesentationsluecke-westdominiertes-ostkabinett.html, letzter Zugriff am 4.5.2020.
Gebauer, Ronald; Axel Salheiser und Lars Vogel: Bestandsaufnahme, in: Andreas H. Apelt (Hg.), Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven, Berlin 2017, S. 14-34, https://www.deutsche-gesellschaft-ev.de/images/veranstaltungen/konferenzen-tagungen/2017-pb-ostdeutsche-eliten/Deutsche_Gesellschaft_eV_Broschuere_Ostdeutsche_Eliten.pdf, letzter Zugriff am 20.10.2020.
Göldner, Igor: Land Brandenburg vergibt nur wenig Führungsjobs an Ostdeutsche, MAZ-online 14.4.2019, https://www.maz-online.de/Brandenburg/Brandenburg-vergibt-nur-wenige-Fuehrungsjobs-an-Ostdeutsche-in-Landesverwaltung-Hochschulen-Justiz, letzter Zugriff am 4.5.2020.
Hewstone, Miles: Contact and Categorization. Social Psychological Interventions to Change Intergroup Relations, in: Neil C. Macrae, Charles Stangor und Miles Hewstone (Hg.), New York 1996, S. 323-369.
Hildebrandt, Jörg: Einrichtung und Abrichtung. Ostdeutsche Rundfunkgeschichte nach der Wiedervereinigung, Unveröffentlichtes Manuskript, Woltersdorf 2020. Kaloianov, Radostin: Integration und Affirmative Action, Heinrich-Böll-Stiftung/Migrationspolitisches Portal, https://heimatkunde.boell.de/de/2008/12/01/integration-und-affirmative-action, letzter Zugriff am 4.5.2020.
Kollmorgen, Raj: Thesenpapier Colloquium der Bundeszentrale für politische Bildung, März 2020.
Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme, München 2019.
Ostkonferenz der AG für Bildung der SPD (Juni 2018): Arbeitspapier.
Pojman, Louis P.: The Moral Status of Affirmative Action, in: Francis J. Beckwith und Todd E. Jones (Hg.), Affirmative Action. Social Justice or Reverse Discrimination?, New York 1997, S. 175-197.
Schönian, Valerie: Ostbewusstsein, München 2020.
Sowell, Thomas: Affirmative Action Around the World, An Empirical Study, New Haven 2004.
Antwort auf Kleine Anfrage 4322 Dr. Ulrike Liedtke (SPD) 22.2.2019 Drucksache 6/10634, https://s3.kleine-anfragen.de/ka-prod/bb/6/11177.pdf, letzter Zugriff am am 4.12.2021.
Nachfrage zur Antwort Drucksache 6/11177 auf die Kleine Anfrage 4322 Drucksache 6/10634 zur Minderrepräsentanz von Menschen mit ostdeutschen Biographien, eingegangen am 9.4.2019.
Antwort auf Kleine Anfrage 4531 Dr. Ulrike Liedtke (SPD) 15.04.2019 Drucksache 6/11196, https://kleineanfragen.de/brandenburg/6/11568, letzter Zugriff am 4.12.2021. https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/parladoku/w6/drs/ab_11500/11568.pdf
Vgl: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/bundesverfassungsgericht-ines-haertel-erste-ostdeutsche-verfassungsrichterin, letzter Zugriff am 3.12.2021
Der Text dem bpb-Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der am 1. Dezember 2021 in einer zweiten und ergänzten Auflage
Zum Thema Medien nach dem Mauerfall:
Ernst Dohlus, "Externer Link: In der Grauzone – Wie der Staatsrundfunk der DDR aufgelöst wurde: Phasen und Organisation", Deutschlandarchiv 11.9.2014
Zeitungsstapel (© picture-alliance/dpa) (© picture-alliance/dpa)
(© picture-alliance/dpa)
Interner Link: Verpasste Chancen: Die Transformation der DDR-Presse 1989/90 , Deutschland Archiv 7.1.2022
Zum Thema Eliten im Osten:
Raj Kollmorgen,
Interner Link: "Ein anhaltendes Defizit? Ostdeutsche in den Eliten als Problem und Aufgabe" Rainert Eckert, "Externer Link: Schwierige Gemengelage. Ostdeutsche Eliten und Friedliche Revolution in der Diskussion"
Elske Rosenfeld: "
Interner Link: Geschichtspolitik von oben? Gedanken zum geplanten Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit "
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Prof. Dr. Frauke Hildebrandt ist Erziehungswissenschaftlerin an Fachhochschule Potsdam mit dem Forschungsschwerpunkt Pädagogik der Kindheit, sie ist dort stellvertretende Studiengangsleiterin des Masterstudiengangs "Frühkindliche Bildungsforschung".
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