Der tiefe Schock des Westens über den Krieg in der Ukraine hat einen verborgenen Grund, analysiert der Soziologe Andreas Reckwitz. Der seit 1989 herrschende Glaube an einen ewigen Fortschritt in der Welt entpuppe sich als Illusion. Wie kann der erschütterte Liberalismus diese globale Zeitenwende meistern?
Die russische Invasion in der Ukraine löst in der westlichen Öffentlichkeit ungläubiges Entsetzen aus. Zunächst richtet es sich auf die Ereignisse selbst: den Bruch des Völkerrechts, die humanitäre Katastrophe, die Denkmöglichkeit einer Eskalation der Gewalt bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen. Auf tieferer Ebene hat das Entsetzen jedoch eine komplexere Ursache: Erschüttert scheinen die Grundannahmen der westlich-liberalen Geschichtsphilosophie mit ihrem vorherrschenden Blickwinkel auf den globalen Prozess der Modernisierung. Es stellt sich die dringende Frage, wie wir uns nun politisch und intellektuell neu sortieren.
Geschichtsphilosophie – das klingt nach einer verstaubten, seit Langem überholten Denkweise. Aber man sollte sich nicht täuschen: Als gesunkenes Kulturgut ist die liberale Geschichtsphilosophie insbesondere seit den 1990er-Jahren überaus wirksam.
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Man muss ihre Stoßrichtung rekapitulieren, um den gegenwärtigen Schock besser zu begreifen. Trotz aller Kritik und Selbstkritik wurden nämlich große Teile der westlichen Öffentlichkeit, der Medien, der Politik und der Sozialwissenschaften, in den vergangenen Jahrzehnten von geschichtsphilosophischen Denkmustern geprägt. Deren ideenhistorische Wurzel ist die europäische Aufklärung, systematisch ausbuchstabiert im historischen Idealismus Hegels: Dass der Gang der Geschichte einer Entfaltung der Vernunft entspricht, schien hier festzustehen.
Geschichte, in diesem Verständnis bezogen auf ganze Gesellschaften, folgt also einem Richtungssinn. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Entwicklung zum Besseren: "Vorwärts – nicht rückwärts!" Die Geschichte tritt demnach nicht auf der Stelle, sondern folgt grundsätzlich dem Muster des Fortschritts, das nicht nur Technik und Wissenschaft, sondern auch Recht, Politik und Moral umfassen soll.
Nun ist Hegel lange tot. Und in der Philosophie gab es eine Vielzahl fundamentaler Kritiken, die sich seit dem 19. Jahrhundert am Fortschrittsmodell abgearbeitet haben. In der Zeit der Weltkriege von 1914 bis 1945 – mit dem Holocaust als Tiefpunkt – fiel der liberale Fortschrittsoptimismus vollends in sich zusammen. Aber seit 1945 und insbesondere nach 1990 erlebte er in Westeuropa und Nordamerika in Politik und Öffentlichkeit ein Revival.
Dies geschah nicht zuletzt in Gestalt der Modernisierungstheorien. In den westlichen Sozialwissenschaften bildete sich, ausgehend von den USA, nach dem Zweiten Weltkrieg eine einflussreiche Sicht auf den gesellschaftlichen Wandel heraus, in der das westliche Modell als der Normalfall der Entwicklung erschien: parlamentarische Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und soziale Sicherung, Pluralismus und Individualismus. Modernisierung, das hieß Verwestlichung, und dies sollte auch für den sich gerade dekolonisierenden globalen Süden gelten. Die einen sind schon so weit, die anderen werden es noch werden, so die Annahme. Dazu passte Alexandre Kojèves posthegelianische Vorstellung einer posthistoire aus den 1950er-Jahren: Dem russisch-französischen Denker zufolge sollte in der damals entfalteten Industriegesellschaft westlichen Typus die letzte Stufe der Geschichte erreicht sein.
Der historische Irrtum 1989
Die Modernisierungstheorie zog in den 1970er-Jahren durchaus Kritik auf sich. 1989 aber fiel die Mauer, und das liberale Fortschrittsmodell schien endgültig gesiegt zu haben. Der kommunistische Rivale – der sich im Übrigen selbst auf seine Weise aus dem aufklärerisch-hegelianischen Arsenal der Geschichtsphilosophie bedient hatte – implodierte. Der Prozess der Globalisierung, der nun einsetzte, wurde im Kern als ein weltweiter Export von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen der liberalen Moderne interpretiert: Es gibt keinen Gegner mehr, keine grundlegenden Konflikte, nur die Entfaltung einer zwingenden Logik.
Der Begriff der "nachholenden Modernisierung" traf diese Denkweise gut: Ob es um Ostdeutschland ging oder um Mittel- und Osteuropa, um Russland oder um China, um Afrika oder den Nahen Osten – das westlich-liberale Gesellschaftsmodell mit seinem Kapitalismus, seinem Rechtsstaat und seiner Zivilgesellschaft sollte sich überall verbreiten, und auf internationaler Ebene sollte der Multilateralismus herrschen. Dies erschien nicht nur wünschenswert, sondern gleichsam als historische Notwendigkeit. Francis Fukuyama nannte das 1989 – Kojève seinerseits zitierend – das "Ende der Geschichte": Es wird nichts grundsätzlich Neues mehr kommen. Ein Zurück in den überwundenen Zustand ist nicht denkmöglich.
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Nun gibt es kaum eine These, die in der intellektuellen Debatte so viel Widerspruch hervorrief wie die Fukuyamas. Trotzdem scheint der Glaube an den Automatismus der Modernisierung im westlich-liberalen Sinne tief verankert im Gesellschaftsbild insbesondere der mittleren und jüngeren, gebildeteren Generationen in Westeuropa und Nordamerika. Sie hatten ja den Kalten Krieg nicht oder kaum mehr erlebt. Über die genaue Richtung der gewünschten Modernisierung gibt es natürlich kritische Debatten, etwa wenn es um den Neoliberalismus oder die Klimapolitik geht. Aber ein "Zurück in die Welt vor 1989" – mit ihren heißen und kalten Kriegen in Europa – kam als Denkmöglichkeit nicht vor. Hier ist der Schock daher nun besonders groß.
Mit einer solchen modernisierungstheoretischen Perspektive hat der Westen seit 1990 lange Zeit auch auf Russland geschaut: Das Land erschien als zentraler Kandidat der nachholenden Modernisierung. Wenn Russland in den globalen Handel eingebunden sei, sich den Märkten öffne und die zivilgesellschaftlichen Akteure gestärkt würden, dann werde es schon den Weg in Richtung Demokratisierung und Pluralisierung beschreiten, so lautete die Annahme. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese Illusion endgültig zerstoben.
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Nicht nur dass der russische Modernisierungsprozess schon seit Längerem stockt: Nun geht Russland offen zur gewaltsamen Expansion seiner territorialen "Einflusszone" über und kämpft dabei gegen das westlich-liberale Gesellschaftsmodell insgesamt.
Diese Auseinandersetzung mit "dem Westen" wird dabei ideenpolitisch durch Denker wie Externer Link: Alexander Dugin und seine Positionierung einer sich an Tradition, Religion und Volk orientierenden Konservativen Revolution gegen die vorgebliche "Entwurzelung" des westlichen Liberalismus munitioniert.
Aus etwas größerer Distanz stellt sich der Krieg in der Ukraine allerdings nur als der vorerst letzte Stoß dar, der den westlich-liberalen Fortschrittsoptimismus trifft, wie er sich seit dem Epochenbruch von 1989 etablieren konnte. Nun hat es in den letzten Jahren bereits diverse Phänomene gegeben, die nicht in dieses Modernisierungsparadigma passen. Es gilt jedoch offenbar die These des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn über Paradigmen und Anomalien: Mit ein paar Anomalien, die sich nicht ins Weltbild fügen, wird ein Paradigma schon fertig – erst wenn es zu viele sind, wird man zum Umdenken gezwungen.
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Die Anomalien, die der vermeintlichen Zwangsläufigkeit des westlichen Modernisierungsprozesses weltweit widersprechen, sind mittlerweile jedenfalls zahlreich, auch schon vor Russlands Krieg gegen die Ukraine: Der Versuch der amerikanischen Außenpolitik, im Nahen und Mittleren Osten durch Nation-Building eine Modernisierung von oben zu betreiben, ist gescheitert. Das westliche Modell lässt sich offenbar nicht ohne Weiteres in andere soziokulturelle Kontexte exportieren, schon gar nicht mit militärischer Intervention.
Die Europäische Union musste erleben, dass Länder wie Polen und Ungarn Regeln des liberalen Rechtsstaates außer Kraft setzen. Dahinter verbirgt sich in Osteuropa eine in manchen Kreisen verbreitete Enttäuschung hinsichtlich der Folgen der Übernahme des westlichen Modells, wie es Ivan Krastev und Stephen Holmes in ihrem Buch Das Licht, das erlosch herausgearbeitet haben: Der Modernisierungsprozess hat hier auch soziale und kulturelle Verlierer hervorgebracht, was den Populismus und Nationalismus gestärkt hat.
Ganz anders und doch ähnlich sieht es in China aus: China ist ein Gewinner der ökonomisch-technologischen "nachholenden Modernisierung" seit 1990. Unter Xi Jinping hat das Land in der Außen- wie in der Innenpolitik jedoch eine scharfe antiliberale Wendung genommen. China bringt sich so als eine Systemalternative zum Westen in Stellung, als Kombination aus Kapitalismus, starkem Staat und konfuzianischer Tradition.
Eine letzte, besonders irritierende Anomalie für den Fortschrittsoptimismus findet sich inmitten des alten Westens: die antiliberale Bewegung des rechten Populismus, die etwa in den USA und Frankreich eine breite Anhängerschaft hinter sich versammelt und hinter der eine Polarisierung zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern steckt. Die Präsidentschaft Trumps und der Sturm aufs Kapitol Anfang 2021 haben hier Risiken für die Zukunft der liberalen Demokratie aufscheinen lassen, die bis vor Kurzem noch außerhalb des Denkbaren waren.
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Der Ukraine-Krieg ist somit der bislang letzte Mosaikstein für ein neues Bild der Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert. Dieses lässt die geschichtsphilosophischen Hoffnungen, von denen wir uns häufig allzu optimistisch haben leiten lassen, als Wunschdenken erscheinen. Das gilt besonders für die Deutschen, genauer die Westdeutschen, deren Gesellschaft sich selbst zu Recht als erfolgreiches Produkt einer nachholenden Modernisierung nach 1945 wahrnimmt.
Die weltgesellschaftliche Entwicklung, die vor unseren Augen abläuft, lässt sich aber nicht mehr durch die Brille einer überraschungsfreien posthistoire und einer Modernisierung mit eindeutigem Ziel fassen. Sie verläuft vielmehr nach einer Logik des Konflikts mit regional offenen Ausgängen. Das ist wohl im Kern eine multipolare Welt, in der sich China und Russland – womöglich in einem strategischen Bündnis – gegen den Westen positionieren. Diese grundlegenden Konflikte beginnen die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu prägen, und sie machen auch vor den Binnenstrukturen der westlichen Gesellschaften selbst nicht halt. Der Westen und das liberale Denken sind dann nicht mehr the only game in town, sondern ein Konfliktakteur unter mehreren.
Drei Konsequenzen werden schon jetzt deutlich:
Es verstärken sich Tendenzen einer Entglobalisierung, die bereits während der globalen Covid-19-Krise zutage traten, als die ökonomische Vernetzung von Gütern, Finanzmitteln und Energieströmen sowie die Mobilität von Personen über nationale Grenzen hinweg eingeschränkt wurden.
Zweitens wird für die Politik, insbesondere in Europa, die Orientierung an Sicherheit – innerer wie äußerer – in einer Weise zu einem Thema, wie man es nach dem Fall der Mauer nicht mehr kannte.
Schließlich entstehen ideologische Konfliktlinien, wie man sie in dieser Grundsätzlichkeit zuletzt in der Zeit vor 1989 erlebte. Aus der Sicht der westlichen Liberalen handelt es sich um den Kampf zwischen Liberalismus und Autoritarismus – Letzteren erkennt man nicht nur in Russland und China, sondern auch in den populistischen Bewegungen in den eigenen Gesellschaften. Zum ideologischen Konflikt gehört, dass die andere Seite hier eine entgegengesetzte Perspektive einnimmt: Darin wird die nationale Verwurzelung der vorgeblichen Entwurzelung und Dekadenz des Liberalismus entgegengestellt.
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Viele fragen sich, ob das der Beginn eines neuen Kalten Krieges sei. So sich ideologische Blöcke künftig feindselig bis hin zur Vernichtungsgefahr gegenüberstehen, ist das nicht unwahrscheinlich. Offen ist aber die Frage, ob das, was wir den Westen nennen, zu einem solchen neuen, hochgerüsteten Systemwettbewerb künftig bereit und in der Lage ist. Denn der Westen ist selbst ein historisch spezielles Phänomen ohne Ewigkeitsgeltung.
Der Externer Link: Kalte Krieg setzte auf westlicher Seite eine hohe ökonomische Prosperität und eine recht starke innere Homogenität voraus, zudem die Bereitschaft der USA, weltweit als Führungsmacht zu agieren.
Dies alles ist so eindeutig heute nicht mehr gegeben: Die westlichen Gesellschaften haben einen schwierigen ökonomischen Strukturwandel hinter sich (Postindustrialisierung) und sind mitten in einem neuen (Klimawandel). Die innenpolitische Polarisierung und die innergesellschaftlichen Probleme sind oft beträchtlich. Die USA ziehen sich seit Längerem aus der Rolle einer global agierenden Supermacht zurück. Und weltweit sind zahlreiche neue geopolitische Akteure entstanden, in Lateinamerika, in Afrika, in Südasien, die sich vermutlich nicht ohne Weiteres in ein neues Denken in Blöcken fügen werden. Dies alles macht die künftige globale Machtkonstellation kaum berechenbar, weil sie weniger festgefügt ist als im Kalten Krieg der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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Und die Geschichtsphilosophie? Man kann Trauer empfinden über den Verlust des Glaubens an die Unvermeidlichkeit einer historischen Entwicklung in jene Richtung, die man als Fortschritt erkannt hat. Aber man muss nüchtern sehen, dass die optimistischen drei Jahrzehnte von 1990 bis 2020, in denen sich dieser Glaube neu etablieren konnte, einer außergewöhnlichen Konstellation entsprangen.
Das heißt freilich nicht, dass man das "Projekt der Moderne" (Jürgen Habermas) im westlich-liberalen Sinne ad acta legen müsste. Aber statt an die zwingende Kraft eines Modernisierungsprozesses und eherne historische Gesetze zu glauben, muss man dieses Projekt neu begreifen und verfolgen: als ein seiner eigenen Schwächen bewusstes normatives und strategisches Projekt, im Wissen um seine Gegner. Wir engagieren uns dafür, auch wenn der weltweite Erfolg in der Zukunft nicht gewiss ist.
Der Autor, Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Beitrag erschien zunächst auf ZEIT ONLINE am 19.3.2022 unter dem Titel "Der Optimismus verbrennt". Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und der ZEIT.
Zitierweise: Andreas Reckwitz, "Der erschütterte Fortschritts-Optimismus", in: Deutschland Archiv, 11.4.2022, www.bpb.de/507282.
Der Autor, Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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