Die. Wir. Ossi. Wessi?
Denkanstöße zur Deutschen Einheit (Folge II)
Antonie Rietzschel
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"Ich hatte die Nase voll von den Stempeln. Und bin zurückgekehrt", sagt Antonie Rietzschel, weil sie dem „Die. Wir. Ossi. Wessi“ etwas entgegensetzen möchte. "Ich gehöre genauso hierher, wie der Pegida-Demonstrant und, der Neonazi", sagt die Journalistin, die drei Jahre vor dem Mauerfall in der Sächsischen Schweiz geboren wurde und miterlebte, wie sich Vorurteile breit machen und Klisscheebilder die Menschen entzweien: „Doch den Osten gibt es für mich nicht".
Rückerinnerung: „Wie halten Sie es mit Ihrer ostdeutschen Identität?“, will der Herr wissen, der sich in einer der vorderen Stuhlreihen erhoben hat. Er spricht krachendes Bayerisch. Es ist Herbst 2019. Die Süddeutsche Zeitung hat zur jährlichen Veranstaltungsreihe geladen, bei der SZ-Journalistinnen aus ihrem Alltag berichten sollen. Es ist Wahl- und Jubiläumsjahr: Die Landtagswahl in Sachsen ist vorüber, die Feierlichkeiten zu 30 Jahre Friedliche Revolution stehen bevor. Eine gute Gelegenheit also für mich und meine Kollegin zu berichten.
Wir leben beide in Leipzig, die letzten Wochen verbrachten wir bei Wahlkampfveranstaltungen. Auf Marktplätzen, in Dorfgasthöfen. Wir begleiteten den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer beim Grillen von Bratwürsten. Jetzt sitzen wir im Felix-Joseph-Saal des Münchner Residenzschlosses vor 150 Menschen. Vor Damen in weißen Blusen und Herren mit Krawatte und Pullunder. Vor einem Publikum, das mit Befremden auf die Erfolge der AfD im Osten Deutschlands schaut und Antworten erwartet.
Identitätsfragen
„Wie halten Sie es mit Ihrer ostdeutschen Identität?“ Das ist derzeit die die Gretchenfrage für Menschen, die aus den neuen Bundesländern kommen. Egal, ob in Dresden oder München.
Ich war drei Jahre alt, als die Mauer fiel. Meine Eltern machten sich direkt nach der Deutschen Einheit selbstständig, mein Vater als Bauingenieur, meine Mutter eröffnete einen kleinen Laden. Ost-West spielte bei uns keine Rolle. Zehn Jahre habe ich woanders gelebt. In Bremen, in München, in Berlin, in Kasachstan und in Russland. „Die/.Wir. – Ossi/.Wessi“ – das sind Kategorien, die ich mir niemals selbst gegeben habe. Sie wurden mir aufgezwungen. Zu dem, was andere Heimat nennen, habe ich schon immer ein schwieriges Verhältnis. Heimat? Ich liebe sie, ich hasse sie.
Ich bin in einem kleinen Dorf zwischen Heidenau und Pirna groß geworden. Der Rietzschelhof steht dort seit mehr als 150 Jahren. Meine Eltern wohnen immer noch darin. Ich wuchs inmitten einer ziemlich aktiven Dorfgemeinschaft auf. Mit einem rührigen Heimatverein. Ich spielte auf unserer Naturbühne Theater, mein Vater hat in unserem Dorf ein kleines Museum eingerichtet, direkt neben der großen Linde, die schon immer 1000 Jahre alt ist. Die Komponistin Clara Schumann soll schon unter ihrem Blätterdach spazieren gegangen sein. Ich bin mit Weite groß geworden. Vom Haus meiner Eltern kann ich wahlweise bis in die Sächsische Schweiz hineinschauen oder auf das Erzgebirge.
Aufgewachsen mit der NPD
Aber ich lernte auch früh, was es heißt, mit Rechtsextremen zu leben und mit Ohnmacht: In meiner Jugend hing zur Landtagswahl an jedem Laternenmast ein NPD-Plakat.
Und dann jedes Jahr zum 13. Februar die rechtsextremen Aufmärsche in Dresden. Tausende Neonazis liefen durch die Straßen, vorbei an der Semperoper, dem Zwinger und der Synagoge. Die Politik, allen voran die CDU, schaute einfach weg. Gab es Stress, waren die Gegendemonstranten verantwortlich. „Die provozieren unnötig." Das sagten sogar meine Eltern.
Eine Freundin aus Hamburg forderte einmal in der S-Bahn zwei Nazis auf, ihre laute Musik auszumachen. Sie warfen eine Bierflasche nach ihr. „Bist du verrückt?“, fragte ich sie und bewunderte gleichzeitig ihren Mut. Weil er mir fehlte. Bis heute verfolgt mich diese Szene aus meiner Jugend: Ich steige in den Zug nach Pirna. Nur wenige Meter von mir entfernt sitzt ein junges Pärchen mit Migrationshintergrund. Zwei Typen reden auf sie ein, beschimpfen sie. Ich hätte nicht mal was sagen müssen. Es hätte vielleicht schon gereicht, mich zu dem Paar zu setzen – oder den Schaffner zu suchen. Doch ich tue nichts. 2007 ging ich weg.
Ostdeutsch werden
„Ui, du bist ja ein kleiner Ossi!" Diesen Satz brüllt mir der Typ auf der Party im Suff entgegen. Ich nippe stumm an meinem Bier. Er sagt: „War doch nur Spaß.“ Ein zweiter Typ fordert: „Schwätz mal ein bissel Sächsisch.“ Als ich stumm bleibe, versucht er es selbst.
Ich habe mich auf Bremen gefreut, auf das Politikwissenschaftsstudium, auf neue Leute. Habe den Kopf geschüttelt, als mir ein Freund aus Dresden erklärte, ich werde es doppelt schwer haben: „Norddeutsche, Wessis – komplizierte Leute.“ Ich finde nichts kompliziert in Bremen. Ich wohne in einer tollen WG, die Uni ist klein, hässlich, und rebellisch: „Reiche Eltern für alle“, steht an einem der Gebäude. Ich finde schnell Freunde, wir tanzen im Schlachthof auf Ersti-Parties, zu den Black-Eyed-Peas: „I got a feeling, woohoo. That tonight`s gonna be a good night.”
Doch in Bremen werde ich auch zu etwas, was ich nie in mir gesehen habe: eine Ostdeutsche.
Während einer Vorlesung spricht der Professor vom Osten als entwicklungsschwache Region. „Die wählen dort ja auch alle die NPD“, ruft jemand von hinten. Gelächter im Saal. Ich verdrehe genervt die Augen. „Wir sind ja auch alle Nazis“, murmele ich. Als eine Dresdner Band in Bremen auftritt, werden deren Mitglieder gleich als meine „Genossen“ bezeichnet. Ein Typ in der Mensa fragt mich, woher ich komme. „Dresden“, sage ich. „Ah Dunkeldeutschland“, antwortet er. „Zone“ sagt ein anderer. In einem Seminar muss ich nach Aufforderung der Professorin erklären, wie das mit der Kindererziehung zu DDR-Zeiten lief, ob meine Mutter mich sechs Monate nach meiner Geburt in die Krippe gegeben hat, um arbeiten zu gehen. Die anderen Studentinnen starren mich an, ihre Blicke verraten Neugier aber auch Skepsis. Als sei es ein Wunder, dass ich keine psychischen Schäden davongetragen habe.
Viele meiner Kommilitonen waren noch nie im Osten. Sie kennen Trabbi, Pioniere, Stasi und Nazis. Wie es tatsächlich war, dort aufzuwachsen, wissen sie nicht. Ich erzähle es ihnen, versuche, meine Heimat so gut es geht zu erklären, verteidige sie sogar –- vor allem gegen das Vorurteil, im Osten seien alle Nazis. Ich berichte, dass meine Mutter mich einmal fragte, ob wir nicht nachts gemeinsam NPD-Plakate von den Laternenpfählen schneiden sollen. Leider hingen sie zu hoch. Während meiner Studienzeit fahre ich oft nach Hause, um meine Eltern zu besuchen. Ihr Hof wird mein Rückzugsort.
Im Sommer sitze ich im Garten unter dem Kirschbaum im Garten, lese ein Buch oder schaue vor mich hin. Einfach so, stundenlang. Manchmal treffe ich alte Schulfreundinnen. „Du sächselst gar nicht mehr – willst wohl nicht mehr zu uns gehören“, bemerkt eine von ihnen irgendwann. Wir kennen uns seit der ersten Klasse. Ich weiß noch wie wir als kleine Mädchen bei uns im Pool schwammen. Als ihre Eltern kurz vor der Trennung standen, fragte ich meine Eltern, ob meine Freundin mit ihrer Mutter nicht bei uns einziehen könnte. Als wir uns wiedersehen, macht sie eine Ausbildung in Dresden, ich studiere in Bremen. Sie ist dageblieben, ich weg gegangen. „Die, Wir. Ossi. Wessi“ – damals hielt ich das noch für eine harmlose Diskussion. Dass darauf Unverständnis – aber auch Hass und Gewalt folgen würden, hätte ich nie gedacht. Dann kommt Pegida, die Angst vor Geflüchteten.
„Schrei mich nicht an!“
Im Dezember 2014 stehe ich in München auf einer Straßenkreuzung und schreie ins Telefon: „Wovor habt ihr Angst?“ Damals versuchen täglich hunderte Geflüchtete die deutsch-österreichische Grenze zu überqueren. Doch noch redet keiner von einer „Flut“, „Welle“ oder „Lawine“. Ich arbeite zu diesem Zeitpunkt seit zweieinhalb Jahren bei der Süddeutschen Zeitung, habe gerade zwei syrische Brüder ein Stück auf ihrer Flucht begleitet, teilte ihre Ängste und Sorgen. Als sie kurz vor der Grenze von der Polizei aus dem Zug gezogen werden, verstört mich ihre Verzweiflung.
Ich rufe meine Mutter an, um ihr davon zu erzählen. Ihre Reaktion: „Ich war gerade bei einer Freundin zum Kekse backen – die wollen da in der Nähe ein Flüchtlingsheim bauen, die machen sich schon Sorg...“ Ich lasse sie nicht ausreden, werde laut. „Schrei mich nicht an", sagt meine Mutter. Ich sollte den Satz in den darauffolgenden Jahren unzählige Male hören.
Der richtige Umgang mit Geflüchteten spaltet Deutschland in zwei Lager – und die Grenze verläuft auch zwischen meiner Mutter und mir. Busfahrer in Altenberg hätten Angst zu arbeiten, weil sie angeblich von Asylbewerbern bedroht würden. Das hat meine Mutter zumindest von einer Kundin gehört. Dann wurde im Laden nebenan geklaut, die Diebe kamen wohl aus einem Flüchtlingsheim. „Ich verstehe das nicht. Die tun doch anderen Asylbewerbern keinen Gefallen, das wirft doch ein schlechtes Licht auf die“, sagt meine Mutter. Ich versuche ihr zu erklären, dass es genau wie bei Deutschen auch schwarze Schafe unter Asylbewerbern gebe. Das sei aber noch längst kein Grund, alles zu verallgemeinern. Immer wieder fällt auch dieser Satz: „Wir können doch nicht alle aufnehmen.“
Nicht mehr dazu gehören
„Wir können doch nicht alle aufnehmen“ – das höre ich auch in Heidenau. Im Sommer 2015 randalieren Neonazis dort vor einer Asylunterkunft. Ich sitze an meinem Schreibtisch in der Redaktion und sehe mir verwackelte Youtube-Videos aus den Krawallnächten an. Sie sind heute noch online. Wer will, kann sich das „Wir sind das Volk“-Gebrüll anhören, das Splittern geworfener Flaschen, die krachenden Explosionen von Böllern. Veröffentlichungsdatum 21. August. Ich bin zwei Tage später vor Ort.
Mit dem Notizblock in der Hand stehe ich am Rand der Bundesstraße 172. Hinter mir, der alte Baumarkt, in den ich früher meinen Vater zur Shoppingtour begleitet habe. Jetzt leben Geflüchtete darin. Vor mir, auf der anderen Seite der Straße, steht brüllender Mob. „Volksverräter“, „Lügenpresse.“ Sie meinen das Kamerateam, das neben mir steht. Sie meinen mich. Noch schlimmer sind aber die Alten, die direkt vor der Flüchtlingsunterkunft stehen und im breitesten Sächsisch vor sich hin geifern. Der Prozentsatz an Männern, die sich angeblich in dem Flüchtlingsheim befinden, wird mit jeder Minute höher: „Die sin scharf of unsre Frauen“, brüllte einer. „Uns hat damals niemand geholfen – und die bekommen alles in den Arsch geschoben“, sagt ein anderer. Als ich mit einem Bewohner diskutiere, brüllt der mich an: Er lasse sich von mir, einem „Wessi“, gar nix sagen.
Sieben Jahre bin ich in Heidenau zur Schule gegangen. Trotzdem gehöre ich nicht dazu, weil ich hochdeutsch spreche – und will es schließlich auch nicht mehr. Tage später schreibe ich einen Text, der mit „Ich will kein Ossi mehr sein“ überschrieben ist. Eine wütende Deklaration, in der ich, entgegen früherer Pläne, erkläre, nie wieder nach Sachsen ziehen zu wollen. Nicht nach Dresden, nicht auf den Rietzschelhof. Meine Mutter ruft mich weinend an. Ein alter Bekannter aus Pirna meint: „Vielleicht wollen wir dich auch gar nicht zurück.“ Aus ganz Deutschland erhalte ich E-Mails von Menschen, die genau wie ich weggezogen und nun ratlos sind.
Ich kehre Sachsen also den Rücken, gebe es auf, mein Zuhause zu verteidigen. Vielleicht, weil ich hoffe, die Menschen kommen zur Vernunft. Wie ungezogene Kinder, nach einer deftigen Schelte. Doch ich werde immer wieder enttäuscht. Beispielsweise als auch in Clausnitz ein wütender Mob Geflüchtete anschreit, als unter dem Jubel Schaulustiger ein geplantes Asylbewerberheim in Bautzen niederbrennt und es zu Krawallen zwischen Rechtsextremen und jungen Geflüchteten kommt.
Zerrissenheit
Ende September 2016 explodiert dann vor einer Moschee in Dresden ein Sprengsatz. Einen Tag später soll ich in Dresden aus meinem Buch vorlesen, in dem es um die beiden Syrer geht, die ich begleitet habe. Der Schock sitzt immer noch tief –- bei mir, aber auch im Publikum. In einer der hinteren Reihen sitzt eine Frau, die in ihrer Freizeit Geflüchtete betreut. Die würden sie immer wieder fragen, ob sie aus Sachsen wegziehen sollen, die Frage käme immer häufiger auf. Und am liebsten, so die Helferin, würde sie mit „Ja"“ antworten. „Was denken Sie?“, fragt mich die Frau. Ihre Stimme zittert.
Meine Antwort:, „Ich habe das Bundesland aufgegeben“, hat einen erstaunlichen Effekt. Das Publikum fängt an zu diskutieren. Was solle denn werden, wenn einfach alle weg gingen? Das wäre eine absolute Katastrophe. Es gebe doch durchaus auch positive Entwicklungen. Zwar könne man sich nicht auf die Landesregierung verlassen, aber es habe sich doch zivilgesellschaftlich so viel getan. Die Diskutierenden stemmen sich so leidenschaftlich gegen das Aufgeben, dass mir eines klar wird: Wenn ich mich einfach abwende, dann auch von den Menschen, die versuchen, etwas zu ändern. Die zwischen dem „Wir“ und dem „Die“ hängen. Es ist der Moment, in dem ich mich frage, ob ich nicht doch wieder zurück will. Zurück muss.
Schließlich verliert aber auch das Dorf meiner Eltern seine Unschuld. Bei der Bundestagswahl 2017 wird die AfD stärkste Kraft in Sachsen, noch vor der CDU. In unserer Gemeinde holt sie 40 Prozent. Ich muss nach Hause, um zu berichten. Es ist ein beschissenes Gefühl, wenn man für die Recherche nicht mehr im Hotel übernachten muss, sondern im eigenen Kinderzimmer. Das Haus meiner Eltern, die 1000-tausendjährige Linde, die Felder, die Wälder –- das ist jetzt auch „Kaltland“.
Für eine Reportage besuche ich kurz nach der Wahl eine langjährige Freundin in Pirna. Sie sitzt an dem schweren Holztisch in der Küche. Geheult habe sie angesichts der Wahlergebnisse, erzählt sie. Vor ihr liegt die Sächsische Zeitung. Die erste Seite des Lokalteils zeigt eine lächelnde Frauke Petry, die im Wahlkreis ein Direktmandat für die AfD gewonnen hat. Ein paar Seiten weiter, das Foto meiner Bekannten. Für ihr Engagement für Flüchtlinge ist sie als „Botschafterin der Wärme“ ausgezeichnet worden. Wir legen die beiden Zeitungsseiten nebeneinander. Besser kann man die Zerrissenheit dieses Ortes nicht darstellen. Früher hat sich meine Freundin nie Gedanken gemacht, ob sie das Opfer eines Angriffs werden könnte. Jetzt habe sie durchaus Angst davor. Ich frage, ob, sie jemals darüber nachgedacht hat, weg zu ziehen. „Nein, das ist doch meine Heimat hier, die gebe ich nicht auf.“
„Den Osten“ gibt es nicht
Auch ich wollte nicht aufgeben und bin zurückgekehrt. Ich hatte die Schnauze voll von den Stempeln. Das Nachrichtenmagazin Stern nannte Sachsen mal „das dunkelste Bundesland Deutschlands“. Als käme ich aus einem Schattenreich. Ich hatte genug von der Krisenberichterstattung, immer nur vor Ort zu sein, wenn es knallt. Ich wollte verstehen, warum und wie sich „besorgte“ Bürger radikalisieren, Menschen zeigen, die sich gegen den raumgreifenden Rechtsextremismus stemmen. Und die ein oder andere Alltagsgeschichte erzählen.
Im Herbst 2018 sitze ich mit meiner Kollegin im Auto auf dem Weg nach Chemnitz. Ein Tag, nachdem in der Stadt Daniel H. durch Geflüchtete getötet wurde und rechtsextreme Hooligans in der Stadt randalierten. Für den Montag danach war eine Demonstration angekündigt. Wir fahren hin, im Glauben, dass der Abend eher ruhig verläuft, die Polizei vorbereitet ist.
Wir parken das Auto im Zentrum. Unser erstes Ziel ist der Ort, an dem Daniel H. mit mehreren Messerstichen niedergestochenverletzt wurde. Grablichter flackern in einem Meer aus Blumen. Jemand hat eine Packung Skat-Karten dazugelegt und eine Flasche Sternburger. Eine Art Gedenkstätte, die an diesem Abend zum Pilgerort wird. Für Menschen, die Daniel H. kannten, sich weinend in den Armen liegen und ihren Schmerz herausschreien. Aber auch für Neonazis und Hooligans.
Nicht jeder darf hier stehen, dafür sorgt ein Mann mit Glatze und schwarzem Hemd. „Geh weiter“, brüllt er einen Passanten an, den er als Journalisten erkannt haben will, stößt ihn weg. Dann schaut er auf den Berg Blumen vor sich. „Beim Adi wäre das nicht passiert.“ Stoßgebet eines Neonazis.
Die eigentliche Kundgebung der Rechtsextremen findet am Karl-Marx-Monument statt. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, steht auf der Hauswand. Unten vereinigen sich rechtsextreme Parteien wie der Dritte Weg oder die NPD mit Hooligans, mit Pegida –- und scheinbar auch mit ganz normalen Chemnitzer Bürgern. Eine Mutter hat ihre Kinder mitgebracht. Rosa Ballerinas zwischen Thor-Steinar-Pullovern. Ein kleines Mädchen läuft neben ihrem Vater her. Der trinkt ein Bier. Seine Tochter blickt zu ihm auf: „Du, die haben gerade gesagt, wir müssen jetzt alle zusammenhalten.“
5.000 Menschen versammeln sich an diesem Abend vor dem Karl-Marx-Denkmal. Auf der Gegenseite sind es etwa 1.500, für eine Stadt wie Chemnitz ziemlich viel. Aber es sind nicht genug.
Kurz vor 20 Uhr finde ich mich mitten auf der Straße wieder, die Rechtsextreme und Gegendemonstranten trennt. Erstere wollen mit ihrem Marsch durch die Innenstadt beginnen. Es fliegen Flaschen und Böller. Hooligans zünden Bengalos, Rauchschwaden steigen auf, Schwefelgeruch hängt über der Szenerie. Vor mir steht plötzlich ein Neonazi, zum Glück läuft er an mir vorbei. Es ist chaotisch. Wasserwerfer fahren vor, doch es tropft nur kurz aus den Düsen. Bis spät in die Nacht liefert sich die Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel mit Neonazis, die durch die Stadt ziehen. Meine Kollegin und ich beobachten das Schauspiel aus dem Fenster der Redaktionsräume der Freien Presse, wo wir Unterschlupf finden.
Am nächsten Tag wird der sächsische Innenminister erklären, dass gerade mal 600 Polizeibeamte in Chemnitz waren. Mir wird klar: Wenn sie gewollt hätten, dann hätten Rechtsextreme und Hooligans Polizeikette und Gegendemonstranten ohne Weiteres überrennen können. Aber Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer betont: „Der Einsatz war erfolgreich.“
Es folgen weitere Proteste, eine Dialog-Veranstaltung, bei der das sächsische Kabinett nieder getrillert wird, Pegida, AfD und Neonazis marschieren schließlich geneinsam auf. Auf Chemnitz folgt Köthen in Sachsen-Anhalt, wo nach dem Tod eines Einwohners ebenfalls Rechtsextreme zum „Schweigemarsch“ aufrufen. Ich bin dabei, als eine Kollegin aus der Menge heraus angegriffen wird.
Ich gehe auf die Beerdigung eines Neonazis mit 1000 „Trauernden“, ich verfolgesitze in Terrorprozessen, begleite die Bürgermeisterwahl in Görlitz, wo die AfD den ersten Oberbürgermeister stellen will – und es nicht schafft. Es folgt die Landtagswahl in Sachsen, das Zittern, ob der der CDU-Politiker und Ministerpräsident den Erfolg der AfD abbremsen kann. Der Ausnahmezustand ist zum Alltag geworden – das hat zuletzt auch die politische Krise in Thüringen gezeigt, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich Dank der Stimmen der AfD temporär ins Amt des Ministerpräsidenten gehievt wurde.
Warum bin ich also trotzdem hier? Als Journalistin würde ich sagen, dass es derzeit keinen spannenderen Ort gibt. Als Antonie Rietzschel, die aus einem kleinen sächsischen Dorf stammt und jetzt in Leipzig lebt, würde ich sagen, dass ich diesem „Die. Wir. Ossi. Wessi“ etwas entgegensetzen möchte. Ich gehöre genauso hierher, wie der Pegida-Demonstrant und, der Neonazi. „Den Osten“ gibt es für mich nicht.
Es gibt für mich politische Besonderheiten, die im Rest der Republik zu wenig wahrgenommen werden und aufgearbeitet werden müssen. Gleichzeitig ist der Hinweis auf die Massenarbeitslosigkeit in den 1990er Jahren für mich keine ausreichende Erklärung für den grassierenden Rechtsextremismus und Rassismus in einigen Teilen der neuen Bundesländer. Genauso wenig wie es für mich „den Osten“ gibt, gibt es für mich eine ostdeutsche Identität. Ich habe auch kein Interesse, sie mir anzueignen, nur um der AfD und ihrer Identitätsdebatte etwas entgegen zu setzen. Es würde mich viel zu sehr einengen.
„Ich bin ich“, habe ich im Herbst 2019 in München gesagt und sage ich auch jetzt: „Ich habe in den vergangenen Jahren viele Heimaten gefunden. In Bremen. In Berlin. In München, in Kasachstan und Russland – und jetzt in Sachsen. Kommen Sie uns besuchen.“
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Zitierweise: Antonie Rietzschel, „Die. Wir. Ossi. Wessi", in: Deutschland Archiv, 2.10.2020, Link: www.bpb.de/316540. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Weitere Beiträge im Rahmen dieser Reihe "Denkanstöße zur Deutschen Einheit" folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Antonie Rietzschel (Jahrgang 1986) wuchs in der Sächsischen Schweiz auf. Sie studierte Politikwissenschaft in Bremen und arbeitet nach mehreren Auslandsstationen als Journalistin in Leipzig, vor allem für die Süddeutsche Zeitung.