Von LPG zu e.G., GbR und GmbH oder: Von „Alt-Kommunisten“ zu „Neu-Kapitalisten“?
Der Anpassungsprozess der ostdeutschen Landwirtschaft nach 1989 und seine Folgen bis heute
Elke Kimmel
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Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz schuf im Juni 1990 die Grundlage für die Umwandlung der DDR-Landwirtschaft. Elke Kimmel untersucht, wie die zeitgenössische Presse den Anpassungsprozess wahrnahm und welche Folgen er bis heute hat.
Endlose Raps- oder Maisfelder, verfallende Stallanlagen aus DDR-Zeiten, Ortschaften, die verlassen wirken – so präsentieren sich viele ländliche Regionen im Osten Deutschlands im Vorbeifahren. Medien berichten nach Wahlen über die Erfolge rechter Parteien und über einen steigenden Prozentsatz derer, die sich „abgehängt“ fühlen. Die medizinische Versorgung will hier kaum jemand übernehmen, der letzte Laden hat vor Jahren geschlossen, und spätestens nach der Grundschule müssen die Kinder weite Schulwege auf sich nehmen. Solche Regionen gibt es auch im Westen, aber die spezifischen Ursachen für besonders dramatische Entwicklungen in Ostdeutschland sind in der DDR-Vorgeschichte und dem Prozess der Vereinigung zu vermuten.
Die Folgen der Vereinigung auf dem Lande sollen im Folgenden beleuchtet werden. Als Grundlage dazu dienen in erster Linie Berichte in der ost- und westdeutschen Presse von 1989 bis heute. Vor allem wird danach gefragt, welche Akzente in der Berichterstattung gesetzt wurden, wen man als Protagonist_innen zu erkennen glaubte, aber auch, welche Fehler sich (rückblickend) als gravierend erwiesen haben und welche Entwicklungen vermeidbar gewesen wären. Vielleicht lässt sich so auch erkennen, welche Prozesse notwendig wären, um positive Perspektiven für die Zukunft des Landlebens oder Wege aus der entstandenen Misere zu entwickeln.
Die Ausgangssituation 1989/90: Landwirtschaft „vor dem Kollaps“
Während der gesamten Zeit der DDR hatte im Bereich der Landwirtschaft die Devise gegolten, dass – abgesehen von der Erfüllung von Lieferverpflichtungen für den Export – die möglichst vollständige Versorgung der eigenen Bevölkerung mit Lebensmitteln aus eigener Kraft Vorrang habe. Bodenreform und Zwangskollektivierung, Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft folgten dieser Vorgabe, selbst wenn einzelne Schritte der Annäherung an das Ziel nicht dienten und stillschweigend korrigiert wurden.
1989 gab es in der DDR große landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) mit teils mehreren tausend Hektar Grundbesitz und hunderten Beschäftigten. Viele dieser Angestellten waren in Bereichen beschäftigt, die mit Landwirtschaft wenig zu tun hatten – etwa in der Kinderbetreuung, in Kulturhäusern oder in LPG-eigenen Baubetrieben.
Die tageszeitung (taz) formulierte es im August 1990 so: „Ganze Dörfer leben nur von der LPG, die Kindergärten, Kantinen, Freizeitheime und sonstige Einrichtungen betreibt. Das alles hat mit effektiver landwirtschaftlicher Produktion nichts zu tun.“ Die LPG waren darüber hinaus verpflichtet, Arbeitskräfte anzustellen, die schon in anderen Wirtschaftsbereichen als wenig motiviert aufgefallen waren, und wie anderswo auch war die Ausstattung teils veraltet, teils reparaturbedürftig – fehlende Ersatzteile waren ein Dauerthema. Die im Vergleich mit den bundesrepublikanischen Landwirtschaftsbetrieben deutlich niedrigere Produktivität resultierte aus diesen systembedingten Faktoren.
Dass selbst massenhafte Entlassungen unumgänglich sein würden, zeichnete sich bereits im Frühjahr 1990 ab, aber mit der Währungsunion und der Entscheidung für eine möglichst rasche Vereinigung war den LPG ein Tempo vorgegeben, das sie so nicht erwartet hatten. Zwar bemühte man sich, mit Vorruhestandsregelungen wenigstens große Härten abzufedern, aber die Zahlen sprechen für sich: 1990 waren 923.000 Menschen in der ostdeutschen Landwirtschaft beschäftigt, 2007 noch knapp 150.000. Besonders dramatisch war die Entwicklung 1989/90: Allein bis Ende Oktober 1990 verloren 169.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz, weitere 500.000 folgten bis August 1992. In Brandenburg waren von ehemals 169.000 Beschäftigten in der Landwirtschaft Ende 1992 noch ganze 40.000 übriggeblieben. Gerade für weibliche LPG-Beschäftigte begann eine sich über Jahre hinziehende Odyssee durch Fort-, Weiterbildungs- und ABM-Maßnahmen.
Für die Medien wurde die Landwirtschaft nach der Verabschiedung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes (LAG) am 29. Juni 1990 durch die Volkskammer und durch die Probleme infolge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 interessant. Von einem Tag auf den anderen waren viele Agrarprodukte aus der DDR kaum noch (oder nur noch zu Preisen unter den Produktionskosten) verkäuflich. Der Lebensmitteleinzelhandel hätte ostdeutsche Waren aus dem Sortiment genommen, da die Konsument_innen (angeblich oder tatsächlich) explizit nach westdeutschen Produkten verlangten. Das Neue Deutschland (ND) vermutete, dass der Handel den Kunden ostdeutsche Waren mehr oder weniger bewusst vorenthalte. Auch diese Entwicklung hatte sich bereits im Frühjahr 1990 angekündigt, ohne dass allerdings wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Die eigens gegründete „Anstalt für landwirtschaftliche Marktordnung“ blieb wirkungslos – laut Spiegel fragte sich auch Regierungschef Lothar de Maizière (CDU), warum die ostdeutschen Zöllner so „konfliktscheu“ seien und kaum kontrollierend eingriffen; ihre westdeutschen Pendants seien da weniger zurückhaltend.
Fast zynisch mutete es an, dass sich der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle (CSU) über die gestiegenen westdeutschen Agrarexporte in die DDR freute und über die Sicherung von Arbeitsplätzen im Westen deren Vernichtung östlich der Elbe ignorierte sowie den Ost-Landwirten zu wenig Initiative unterstellte. Kurz zuvor hatte Kiechle indes selbst für Einfuhrbeschränkungen aus dem Westen plädiert.
Die taz mutmaßte, dass die Schwächung der ostdeutschen Konkurrenz möglicherweise beabsichtigt sei. Ähnliche Vermutungen hegte im Juli 1990 auch der Brandenburger Landwirt Bodo Schulz in der ehemaligen Ost-CDU-Zeitung Neue Zeit (NZ): Man könne nicht erwarten, dass die LPG mit nur geringer Unterstützung den momentanen Herausforderungen gewachsen seien – anscheinend wolle man diese eher schwächen als stärken. Die Berliner Zeitung (BZ) wies darauf hin, dass marktwirtschaftliche Argumente gerade im Agrarbereich wenig überzeugend seien – schließlich würden die westdeutschen Landwirte massiv subventioniert.
Das ND konstatierte: „Der künstlich organisierte Zusammenbruch des ostdeutschen Agrarmarktes widerspricht den Prinzipien und Bestimmungen der europäischen Landwirtschaftspolitik.“ Die „Zerschlagung der DDR-Landwirtschaft“ sei mehr als ein Kollateralschaden des viel zu hohen Tempos im Vereinigungsprozess; damit arbeite man denen in die Hände, die den Boden als Spekulationsobjekt nutzten. Zu den Absatzproblemen in der DDR kam der Wegfall der Märkte in Ost- und Südosteuropa, die ihre knappen Devisen nicht für Lebensmittel ausgeben konnten. Bei einer Großdemonstration am 15. August 1990 auf dem Berliner Alexanderplatz kulminierte der Frust der ostdeutschen Landwirte: Vor laufenden Kameras wurde DDR-Landwirtschaftsminister Peter Pollack (parteilos, für die SPD) niedergebrüllt und bedroht. Tags darauf wurde er von Regierungschef de Maizière amtsenthoben. Längst beschlossene Hilfsgelder für die Landwirtschaft wurden frei gegeben und angewiesen. Die akute Krise entschärfte sich zudem dadurch, dass sich einerseits der EG-Binnenmarkt – gegen Proteste aus Südeuropa – für DDR-Produkte geöffnet hatte und andererseits Exporte beispielsweise in die Sowjetunion massiv gestützt wurden.
Andere Probleme blieben: Ein Dauerthema in diesen Monaten war die fehlende materielle Basis der LPG – zwar hatte die Volkskammer beschlossen, die Ergebnisse der Bodenreform (und damit der Enteignungen zwischen 1945 und 1949) nicht anzutasten, aber von wirklicher Rechtssicherheit konnte kaum die Rede sein. Ein grundsätzliches Problem war, dass der Boden nicht den LPG gehörte, sondern den einzelnen Genossenschaftsmitgliedern oder dem Staat (wenn etwa die ursprünglichen Eigentümer in den Westen geflüchtet waren oder Bauern, die in der Bodenreform Land zugeteilt bekommen hatten, aus der LPG ausgetreten waren). Hatte dies unter den Bedingungen der DDR keine Rolle gespielt, war es nun, da Eigentum zur Bedingung für die Kreditvergabe wurde, entscheidend für die Zukunft vieler Betriebe. Kredite aber waren unabdingbar, um den meist nicht konkurrenzfähigen Maschinenbestand aufzustocken.
Anfang August 1990 kritisierte Agrar-Staatssekretär Peter Kauffold (SPD) Regierungschef de Maizière, der sich nicht energisch genug für die Fixierung der Ergebnisse der Bodenreform im Einigungsvertrag eingesetzt habe. Kauffold warnte auch davor, die DDR wie eine westdeutsche Kolonie zu behandeln und ihr Gesetze einfach überzustülpen. Deutlich war spätestens seit dem Juli 1990, dass den LPG nicht viel Zeit blieb, um sich in den veränderten Verhältnissen zurechtzufinden: Das LAG verlangte ihre grundsätzliche Neuorganisation. Die Umwandlung in eingetragene Genossenschaften war indes nicht unproblematisch, weil diese im Vergleich mit Einzellandwirten schlechtere Förderbedingungen seitens der Europäischen Gemeinschaft und bei den Kreditgebern riskierten. Nach dem LAG hatte eine Vollversammlung aller Genossenschaftsmitglieder darüber zu entscheiden, ob sie auch zukünftig im gewohnten Kollektiv arbeiten wollten, ob sie sich mit anderen selbstständig machen wollten oder als „Wiedereinrichter“ mit dem 1960 eingebrachten Vermögen als Einzelbauern einen Neustart versuchen wollten.
Selbst wenn einige Landwirte darauf gewartet haben mochten, wieder eigenverantwortlich zu wirtschaften, so darf nicht übersehen werden, dass es für alle Genossenschaftler darum ging, innerhalb sehr kurzer Zeit sehr weitreichende Entscheidungen zu treffen, auf die viele von ihnen nicht vorbereitet waren. Diese Entscheidungen hatten zudem fast immer direkte Auswirkungen auf die (Noch-)Kollegen, da der Ausstieg Einzelner durch den damit verbundenen Kapitalabfluss den Bestand der Genossenschaft gefährdete. Unsicherheit und die Suche nach Orientierungspunkten sowie vermeintlicher Expertise spielten vielfach unfähigen oder gar kriminellen Beratern aus der Bundesrepublik in die Hand.
In den folgenden Monaten berichteten vor allem ostdeutsche Medien wiederholt darüber, wie viele Landwirte in den LPG bleiben wollten und wie hoch der Prozentsatz von Wieder- und Neueinrichtern war. Im selben Kontext erwähnten die Berichterstatter_innen, dass einige Genossenschaftsmitglieder ihr Land lediglich zurückforderten, um es an westdeutsche Interessenten zu verkaufen – und tatsächlich gebe es viele, die anfingen, sich nach geeigneten Höfen und Flächen umzusehen. Sein Versprechen, Bodenspekulation zu verhindern, konnte der Bundeslandwirtschaftsminister nicht halten: In der Magdeburger Börde kaufe ein bayerischer Adeliger engros Flächen zu Preisen auf, bei denen die ostdeutschen Landwirte nicht mithalten könnten, berichtete ein Landwirt der NZ. Angesichts dieser Entwicklung gerieten die an sich guten Ausgangsbedingungen der ostdeutschen Landwirtschaft selten in den Blick. So konstatierte etwa der Spiegel am 14. Mai 1990, dass sich, verglichen mit den meisten LPG, selbst der Grundbesitz des westdeutschen Bauernpräsidenten Constantin von Heeremann reichlich bescheiden ausnehme. Dass große Flächen zukünftig gerade in Punkto EG-Förderung einen großen Vorteil bedeuten konnten, war 1990 (noch) nicht Konsens. So waren sich die deutschen Landwirtschaftsministerien einig, dass insbesondere kleinere Betriebe zu fördern seien: Ideal seien Höfe mit Wirtschaftsflächen zwischen 100 und 200 Hektar.
Nur wenige Politiker traten – wie der Volkskammerabgeordnete Fritz Schumann (PDS) im ND – für den Erhalt der vorhandenen Strukturen ein. Staatssekretär Kauffold meinte gegenüber der BZ: „Trotz der traurigen Situation in der Landwirtschaft gibt es dennoch den grundsätzlichen Vorteil der großen Einheiten. Zumal auch im Konzentrationsprozeß in Europa größere Einheiten entstehen werden.“ Er konnte sich dabei der Zustimmung einer Mehrheit der ostdeutschen Landwirte gewiss sein. Vor allem die südeuropäischen Bauern blickten eher kritisch auf die Entwicklungen in Deutschland, zumal die Öffnung des Binnenmarktes für Agrarprodukte aus der DDR eine weitere Konkurrenz bedeutete. Dass die ostdeutschen Produkte vor allem zu Dumpingpreisen Absatz fanden, schuf auf beiden Seiten der Elbe Verdruss.
Ab Herbst 1990 wurde es mit dem Ende der akuten Krise ruhiger um die Landwirtschaft. Die wachsende Arbeitslosigkeit und der ungebremste Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft beschäftigten die Medien, die Landwirtschaft geriet dabei zwar nie völlig aus dem Blick, blieb aber ein Nebenaspekt. Die Überschrift „Trügerische Ruhe auf dem Lande“ in der BZ entsprach dem, selbst wenn bereits jeder fünfte Arbeitsplatz im Agrarsektor weggefallen war. Besorgniserregend schien allenfalls, dass es für Erwerbslose auf den Dörfern kaum Alternativen gab, was soziale Spannungen befürchten lasse. Letztlich gehe es darum, den LPG genügend Zeit für den Umwandlungsprozess zu lassen: Im März sei man schließlich noch von einem mehrjährigen Prozess ausgegangen.
Die „Voraussetzungen für veränderte Agrarstrukturen“ seien vorhanden, beruhigte auch die NZ ihre Leser_innen. Die Ansichten über das erforderliche Tempo des Anpassungsprozesses lagen indes weit auseinander. Landwirtschaftsminister Kiechle räumte zwar ein, dass es sich um einen mehrjährigen Prozess handeln würde, und dass es absehbar weniger Einzelbauern in den „neuen Ländern“ geben werde, verstärkte aber an anderer Stelle den Druck auf die LPG. Ebenfalls aus Bonn kam die Forderung, nur noch ostdeutsche Einzelbauern in die Förderprogramme einzubeziehen. Pragmatisch äußerte sich die Außenstelle des Landwirtschaftsministeriums in Berlin. Man wolle vor allem dafür sorgen, dass es – unabhängig von der Organisationsform – zukünftig stabile Agrarbetriebe gebe.
Vereinzelt wurde darauf hingewiesen, dass es die unklaren Eigentumsverhältnisse seien, die den Prozess behinderten. Eher selten gab es auch Kritik am LAG selbst, dessen Regelungen zum Ausstieg von Bauern aus der LPG nicht konkret genug formuliert seien. Zudem fehle es an Beratung für die Ausstiegswilligen – dies sei ein Grund dafür, dass das Risiko der Selbstständigkeit gescheut werde. Die taz verwies mit Blick auf die höheren Zahlen an Ausstiegswilligen im Süden der DDR auf die traditionell kleinteiligere Landwirtschaft in diesen Regionen. Der NZ zufolge hätten in Brandenburg zwar bereits 30 Prozent den Umwandlungsprozess abgeschlossen, aber nur 400 Bauern wollten es allein versuchen.
Parallel machten die ersten Neugründungen von sich reden, weil es während der hastig vollzogenen Umwandlung zu gravierenden Fehlern gekommen war. Mancherorts hatten sich findige LPG-Mitglieder die Gunst der Stunde zunutze gemacht und ihre Kollegen übervorteilt. Andere Berichte widmeten sich den schwierigen Startbedingungen von Wiedereinrichtern, die sich nicht selten gegen den Widerstand ihrer Ex-Kollegen durchsetzen mussten. Ebenfalls angesprochen wurde die geplante Stilllegung von landwirtschaftlich genutzten Flächen, von der in der Ex-DDR wesentlich größere Gebiete betroffen seien als westlich der Elbe. Zudem würden die zu erwartenden Prämien im Osten geringer ausfallen, weil die Produktivität geringer sei. Grundsätzlich ablehnend gegenüber solchen Maßnahmen äußerte sich das ND: Solche Prämien zu zahlen sei widersinnig, solange es in anderen Teilen der Welt an Nahrung fehle. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die publicityträchtigen Demonstrationen im August 1990 ihre Wirkung auf Presse und Politik nicht verfehlten. Fast unbemerkt blieb hingegen, dass es niemanden gab, der die sozialen Funktionen, die die LPG im Zuge der Neustrukturierung auf dem Lande aufgeben sollten, übernehmen konnte.
Das Jahr 1991 – Countdown zum Jahresende
Im Laufe des Jahres 1991 beherrschte vor allem ein Thema die Berichterstattung über die ostdeutsche Landwirtschaft: deren mit dem LAG geforderte Umwandlung bis zum 1. Januar 1992. Einmal mehr gab es einen teilweise erbitterten Streit darüber, welches Tempo angemessen sei. Schon im Januar 1991 mahnte die NZ die Überarbeitung des Anpassungsgesetzes an: In seiner jetzigen Form behindere es den Neuordnungsprozess auf dem Lande. Es gefährde neben dem Wirtschaftssektor die Infrastruktur und generell das Leben auf dem Land. Unklarheit herrsche darüber, nach welchen Regeln die Aufteilung der LPG erfolgen solle. Die ohnehin vorhandenen Verteilungskämpfe würden dadurch zusätzlich verstärkt. So wie es sei, mache man sowohl den LPG als auch den Wiedereinrichtern das Leben schwer.
Eine im Mai 1991 geplante Änderung des Anpassungsgesetzes lehnten die Sozialdemokraten in den Ländern wegen der gesamtschuldnerischen Haftung der LPG-Vorsitzenden ab. Peter Kauffold als Vorsitzender des Landwirtschaftsausschusses in Mecklenburg-Vorpommern gab zu bedenken, dass wohl kaum jemand bereit sein werde, sich eine solche Verantwortung aufzuhalsen. Die im Mai beschlossene Novelle des LAG legte fest, dass zunächst die Inventareinträge der Bauern ausgezahlt werden müssten, später sollten anteilige Auszahlungen von eingebrachter Arbeitsleistung erfolgen. Geplant waren zunächst Abschlagszahlungen, die nach Feststellung der tatsächlichen Finanzlage ergänzt werden sollten. Für die SPD war insbesondere ausschlaggebend, dass mit der Novelle der Kapitalabfluss aus den LPG verzögert wurde, was deren Überlebenschancen erhöhte. Immer wieder wurden Zweifel daran laut, dass es bei den Umwandlungsprozessen mit rechten Dingen zugehe. Brandenburgs Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann (SPD) äußerte mehrfach, dass der ein oder andere LPG-Vorsitzende in „dubiose Geschäfte“ verwickelt sei und provozierte damit empörte Reaktionen der landwirtschaftlichen Interessenorganisationen: Der Minister habe offenbar vergessen, dass die Vorstände mittlerweile demokratisch legitimiert seien. Die BZ schilderte am 9. September 1991 beispielhaft den Fall eines ehemaligen LPG-Vorsitzenden, den Zimmermann zum Vorzeige-Buhmann gemacht habe – leider kein Einzelfall: „Hetzjagden, Verleumdungskampagnen und Intrigen begleiten die schwierige Umwandlung der ehemaligen LPG in marktwirtschaftlich orientierte Betriebe.“ Der soziale Friede bleibe auf der Strecke. Tatsächlich ergaben die Hausdurchsuchungen im Rahmen der Aktion „Gläserne LPG“ keine Anhaltspunkte für Unterschlagung. Mit dem nahenden Fristende für die Umwandlungen von LPG nahm die Presse die Landwirtschaft wieder stärker in den Blick. Wie Wasserstandsmeldungen wurden die Prozentsätze von bereits vollzogenen oder noch ausstehenden Umwandlungen angegeben, manchmal mit dem zusätzlichen Hinweis auf den Anteil der Betriebe, die Konkurs anmelden mussten, oder auf die wachsende Arbeitslosigkeit im Agrarsektor. Immer deutlicher wurde, dass der Umwandlungsprozess kaum termingerecht abzuschließen war.
Anfang Oktober 1991 verlangte deshalb der brandenburgische Landtag eine Fristverlängerung über den 31. Dezember hinaus. Diese sei erforderlich, wolle man nicht die Verödung ganzer Landstriche und eine sozial kaum abgefederte Massenarbeitslosigkeit riskieren. Zudem seien die LPG für die Verzögerungen nicht verantwortlich – vielmehr seien die Ämter dem jetzigen Ansturm nicht gewachsen. Es fehle an Steuerberater_innen, die Eröffnungsbilanzen für die neuen Unternehmen ausstellen könnten. Problematisch sei weiter, dass – falls man am rigiden Kurs festhalte – die Kommunen auf den Altlasten der LPG sitzenblieben, ohne dass sie Steuereinnahmen erzielen könnten.
Demgegenüber bekräftigten ostdeutsche Bauernverbände und Bundeslandwirtschaftsministerium Anfang November 1991, dass eine Fristverlängerung unnötig sei. Der brandenburgische Landtag protestierte umgehend, und Agrarminister Zimmermann erreichte, dass eine Sondersitzung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten im Bundestag einberufen wurde. Im Gegensatz zu seinem brandenburgischen Amtskollegen forderte der sächsische Minister für Umwelt und Landesentwicklung, Rolf Jähnichen (CDU), von „seinen“ LPG ein höheres Tempo bei der Umwandlung und warnte vor den Folgen einer ungeordneten Liquidation. Auch die NZ sah die meisten sächsischen LPG-Vorstände auf einem guten Weg: Dort gebe es bereits 4.800 Familienbetriebe. Anscheinend war die Umwandlung für Brandenburgs LPG besonders schwierig, weil viele unter Altschulden litten und Hilfszahlungen verspätet eingetroffen seien.
Am 16. November meldete sich in der NZ ein Betroffener zu Wort, der die Folgen des ausgeübten Drucks beklagte: „Die Vorgänge entarten zu einer Art Enteignung im neueren Sinn, weil ihnen [den Wiedereinrichtern, EK] schnellstens die zurückgegebenen Flächen von Immobilien-Dealern wieder abgejagt werden unter Ausnutzung ihrer Notlage, ihrer Unsicherheit oder ihrer Kapitalbedürfnisse als wiedergewonnene Privatbauern.“ Erst kurz vor dem Stichtag konnten sich die Brandenburger Politiker durchsetzen: Maßgeblich war, dass die LPG ihren Umwandlungsplan bei den zuständigen Ämtern eingereicht hatten – ein positives Signal für etwa 20.000 Beschäftigte in der Landwirtschaft.
Mitte Dezember 1991 gab es in Brandenburg 210 eingetragene Genossenschaften, 60 Personengesellschaften, 155 GmbH, 3.400 Einzelbetriebe und einige LPG, denen Ende des Monats die Liquidation drohte. Die Höhe der Altschulden übertraf laut NZ die Unterstützungszahlungen um ein Vielfaches und die Arbeitslosigkeit lag in einigen Gebieten bei 80 Prozent. Minister Zimmermann beklagte, dass die Bundesregierung (CDU/CSU-FDP) ihre Energie allein in die Zerstörung der alten Strukturen gesteckt habe, ohne Ideen für die Neugestaltung zu entwickeln. Zu einem ähnlichen Urteil kam die NZ am 21. Dezember 1991 unter dem Titel „Erst staatlich subventioniert, nun marktwirtschaftlich alimentiert?“
Im sächsischen Wachau hätten Dorfbewohner und die LPG „Einigkeit“ kapituliert. Die faktische Bevorzugung von „Puppenstubenbauern“ nach westdeutschem Vorbild sei fatal. Man rechne sich die Statistik schön, indem man viele als Wiedereinrichter zähle, die lediglich Nebenerwerbslandwirte seien, und schwäche die LPG zusätzlich, indem man Mitglieder ermuntere, Land und Inventar aus den Genossenschaften abzuziehen. Nicht selten würden die Aussteiger dadurch verleitet, dass ihnen westliche Berater hohe Gewinne für ihre bis dato kaum als wertvoll erachteten Böden vorgaukelten. Die Situation auf dem Lande sei desaströs – und ein Ausweg sei nicht zu sehen.
Im ersten Jahr der Einheit gerieten auch die westdeutschen „Wendegewinnler“ und Einheitsprofiteure in den Blick, wie jene Landwirte, die westlich der Elbe für stillgelegte Flächen Prämien bekamen und davon in den neuen Ländern günstig Flächen pachteten und gute Erträge erzielten. So werde auf Kosten der ostdeutschen Landwirte doppelt kassiert. Zeitungen sandten ihre Reporter wiederholt in ländliche Regionen. Im Oderbruch habe ein rheinischer Bauer 1.000 Hektar gepachtet, während die ansässigen LPG wegen ihrer Kapitalarmut in immer größere Schwierigkeiten kämen. Da westdeutsche Bauern zum einen kreditwürdiger seien und zum anderen meist eigene Rücklagen besäßen, hätten die LPG – aber auch die Neu- und Wiedereinrichter in Ostdeutschland – häufig das Nachsehen. Das Tempo des Anpassungsprozesses unterstütze auswärtige Spekulanten zusätzlich, äußerte auch der Präsident des thüringischen Bauernverbandes Klaus Kliem. Es ermuntere „finanzkräftige Investoren aus anderen Staaten, Flächen und Immobilien billig auf[zu]kaufen und zu einer tödlichen Konkurrenz für die sich mühsam neu strukturierenden bodenständigen Betriebe [zu] werden.“
In einer langen Reportage für die BZ schilderte der Journalist Peter Pragal, wie sich ein solches Spekulationsgeschäft in Torgau abgespielt habe. Dort habe ein Landwirt die von der LPG zurückerhaltenen Ackerflächen quasi umgehend an einen Oberbayern verkauft, der wenig von Landwirtschaft verstehe, aber ein dickes Bankkonto besitze. Gleiches komme in allen ostdeutschen Regionen vor, in denen es gute Böden gebe. Pragal kritisierte, dass Landwirtschaftsminister Kiechle mit dem ausgeübten Druck die Einheimischen verunsichere, sodass sie sich teils „windigen Existenzen“ anvertrauten. Der Spiegel schrieb in diesem Kontext von „Tieflader-Bauern“ – Landwirten vor allem aus Niedersachsen, die für kleines Geld Flächen in der Magdeburger Börde gepachtet oder gekauft hätten, und nur angereist kämen, wenn der Verwalter vor Ort sie per Funktelefon rufe. Spiegel und NZ beschäftigten sich näher mit einem Betrieb bei Beeskow. Der gerade aus der Haft entlassene bayerische Landwirt Georg Nebauer habe mit zwei Partnern die ehemalige LPG Tierproduktion „Neues Leben“ am 3. Oktober 1990 gekauft und in die GbR Gut Birkholz umgewandelt, angeblich, um ein Musterbeispiel für die Sanierung der ostdeutschen Landwirtschaft zu schaffen. Den Einheimischen sei der Mann etwas unheimlich, zumal er neben der Milchviehanlage schon 3.500 Hektar Ackerland gekauft habe und zusätzlich eine Schweinemastanlage von der Treuhand übernehmen wolle. Die LPG-Mitglieder, die in der GbR keine Anstellung mehr gefunden hätten, fühlten sich um den Lohn ihrer Arbeit gebracht, da sie nur für das eingebrachte Inventar entschädigt worden seien. Aber die immerhin 100 Bauern, die weiter auf Gut Birkholz arbeiteten, seien froh, dass überhaupt jemand investiere – gleichgültig, woher das Kapital komme. Das schlechte Gefühl trog die Dörfler nicht, denn nur ein Jahr später wurde Nebauer wegen Subventionsbetrugs verhaftet. Die Treuhand, die zunächst für die Verwaltung der zuvor volkseigenen Flächen zuständig war, erleichterte den ostdeutschen Landwirten den Schritt in die Marktwirtschaft nicht. Sie scheute sich angesichts der unklaren Eigentumsverhältnisse vielfach, längerfristige Pachtverträge mit den Noch-LPG abzuschließen. Aber auch Wiedereinrichter klagten darüber, dass der Aufbau einer eigenen Wirtschaft schwierig sei, weil zum einen die finanziellen Hilfen nicht an-, und zum anderen langfristige Pachtverträge nicht zustande kämen. Nur am Rande spielten in diesen Tagen bereits Überlegungen für eine umweltverträglichere Landwirtschaft eine Rolle, etwa in Verbindung mit „sanftem Tourismus“. Die BZ bedauerte, dass die Chance für einen ökologischen Umbau verpasst sei: Statt der umfangreichen Flächenstilllegungen wäre eine extensivere Nutzung der vorhandenen Böden sinnvoller. Problematisch sei außerdem, dass die jetzigen Regelungen vor allem den westdeutschen Landwirten nutzten – Ostdeutsche seien dazu verdammt, den Umwandlungsprozess lediglich passiv – als „Zaungäste“ – zu begleiten. Die NZ formulierte noch drastischer, dass ein „ökologisches, soziales und finanzielles Desaster“ drohe. Die Berichterstattung über die Landwirtschaft im Jahr 1991 wurde von den Problemen, die mit der unter Zeitdruck zu vollziehenden Umwandlung verbunden waren, dominiert. Gerade ostdeutsche Zeitungen ergriffen dabei für die LPG Partei. Sie erschienen zunehmend als erhaltenswerte Besitzstände aus DDR-Zeiten. Demgegenüber schien das einseitige Eintreten vor allem westdeutscher Politiker für kleinbäuerliche Strukturen kritikwürdig und kolonialistisch.
Eine marktwirtschaftliche Landwirtschaft?
Der komplette Zusammenbruch der ostdeutschen Landwirtschaft, den einige Medien befürchtet hatten, blieb auch 1992 aus. 18.000 landwirtschaftliche Betriebe gab es nach Angaben der NZ auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, noch aber sei der Umwandlungsprozess nicht abgeschlossen. Die BZ berichtete im Kontext der Umwandlung von über 400 Beschwerden (etwa über Veruntreuung durch LPG-Vorsitzende und Bereicherung von Beratern), die beim Potsdamer Landwirtschaftsministerium eingegangen seien; in drei Fällen habe man Verfahren eingeleitet. Eher selten berichten die Zeitungen von landwirtschaftlichen Betrieben, die bereits Fuß gefasst hätten wie die ehemalige Vorzeige-LPG „Dahlenwarsleben“. Vielerorts waren es die Nachfolgeeinrichtungen der LPG, die sich in den folgenden Monaten und Jahren in der Marktwirtschaft behaupten konnten. Einzelbauern, Wieder- wie auch Neueinrichter klagten demgegenüber über Probleme und Benachteiligungen, wie etwa ein Landwirt in Sachsen-Anhalt, den die taz 1993 porträtierte. Ein Hauptproblem für die „Kleinen“ sei es, an Pachtland zu gelangen, da die großen Kapitalgesellschaften den Markt beherrschten: „Aus Alt-Kommunisten wurden Neu-Kapitalisten. Die herrschen über acht Dörfer.“
In den Folgejahren befassten sich die untersuchten Medien mit der ostdeutschen Landwirtschaft, wenn es darum ging, Unregelmäßigkeiten im Kontext des Einigungsprozesses aufzudecken. Im Agrarsektor bedeutete dies, die angeblichen oder tatsächlichen „Machenschaften“ von ehemaligen LPG-Vorsitzenden zu entlarven. Der Spiegel schilderte ausführlich, wie diese „roten Junker“ bei der Umwandlung die einfachen LPG-Mitglieder übervorteilt hätten – manchmal unter Mithilfe von dubiosen westdeutschen Beratern.
Bei den derart übervorteilten Zeitgenossen überwog der Eindruck, es mit übermächtigen „alten Seilschaften“ zu tun zu haben, die im Zusammenspiel mit gewieften „Wessis“ ein neues „Bauernlegen“ in Szene gesetzt hätten: Während die einfachen Bauern das Nachsehen hätten, besäßen die ehemaligen LPG-Vorsitzenden nun „hochprofitable Agrarfirmen“. Sie wären außerdem gewieft darin, die Subventionstöpfe der Europäischen Gemeinschaft „anzuzapfen“ und sich die Unterstützung westdeutscher Agrarlobbyisten und ostdeutscher Länderressorts zu sichern. Wo sie nicht mit mächtigen Alt-Kadern konkurrieren müssten, seien es kapitalkräftigere westdeutsche Landwirte, die lieber fruchtbare Böden in der Börde bewirtschafteten und dafür die Flächen in Westdeutschland ruhen ließen. Auch der Rechtswissenschaftler Walter Bayer (Friedrich-Schiller-Universität Jena) wies im Rahmen eines Gutachtens im Auftrag des Brandenburgischen Landtags 2012 nach, dass tatsächlich die Mehrzahl der Umwandlungen fehlerhaft gewesen sei. In den meisten Fällen sei allerdings die Ursache dafür in dem gesetzlich erzwungenen Tempo der Umwandlungen zu sehen. Dieses Tempo habe viele Landwirte ebenso überfordert wie die Verwaltungen und auch die westdeutschen Berater. Bayer stellte fest, dass die an die LPG-Aussteiger gezahlten Abfindungen in fast allen Fällen (bewusst) zu niedrig und die Rücklagen in den Eröffnungsbilanzen zu hoch angesetzt worden seien.
Ganz anders interpretiert der Landwirt und Autor Jörg Gerke die Vorgänge. Er sieht im Zusammenwirken alter SED-Kader in Politik, Medien und auf den Höfen die Ursache für die aktuellen Strukturen in der ostdeutschen Landwirtschaft. „Dazu gehörte auch das in der Wendezeit in den SED-Bezirksleitungen entwickelte Agitationsmuster von der westdeutschen Landwirtschaft als ‚Museumslandwirtschaft‘, mit ihren nur störenden ‚Kleinbauern‘. Dieses benutzen bis heute die ostdeutschen Medien und Agrarpolitiker quer durch alle Parteien.“ Uwe Bastian, Soziologe und Publizist, bedauert ebenfalls, dass die alten Kader, denen nach seiner Einschätzung „bis zu 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche“ in Ostdeutschland gehören, sich behauptet hätten. Eine wesentliche Ursache dafür sieht er darin, dass die LPG-Leitungen die einzigen gewesen seien, die über umfassendes Fachwissen verfügt und wirtschaftlichen Weitblick besessen hätten. Dass diese überdies ihre guten Beziehungen zum landwirtschaftlichen Apparat ausnutzten, der sich in Windeseile den neuen Umständen anpasste, liegt nahe. Es scheint folgerichtig, dass sich die LPG-Vorstände ihr Fachwissen zunutze machten, sobald sich die Gelegenheit bot – in ähnlicher Weise haben sich auch ehemalige Leitungskader aus der Industrie in der Marktwirtschaft behauptet. Unstrittig dürfte sein, dass sich im Zuge des Umwandlungsprozesses einige wenige auf Kosten anderer bereichert haben – und sicher haben erstere dabei auch ihre aus der DDR-Zeit stammenden Verbindungen genutzt. Allerdings scheint es wahrscheinlicher, dass sich die Aktivitäten der „Altkader“ weniger explizit gegen die Kleinbauern richteten, als dass sie versuchten, die vorübergehende (und durch den Druck aus Bonn verstärkte) Rechtsunsicherheit zu nutzen, um eine gute Ausgangsposition in der Marktwirtschaft zu ergattern. Dass dabei Schwächere auf der Strecke bleiben mussten, war ihnen wohl gleichgültig. Die LPG-Vorsitzenden besaßen fraglos einen guten Blick dafür, wie gut das DDR-Agrarsystem mit den großen zusammenhängenden Flächen in die Förderschemata der EG passte.
Und sie waren nicht die einzigen: Auch außerhalb der DDR und der neuen Bundesländer erkannten viele dieses Potenzial. Nicht nur die LPG-Nachfolgeeinrichtungen waren darauf bedacht, möglichst große Flächen zusammenzuhalten. Westdeutsche und niederländische Landwirte versuchten vielfach erfolgreich, östlich der Elbe Fuß zu fassen. Die kleinteiligere Landwirtschaft in der alten Bundesrepublik wurde zwar von verschiedenen Seiten propagiert, aber kaum subventioniert. Die in der DDR angestrebte „Form der landwirtschaftlichen Massenproduktion konnte erst unter den Bedingungen der europäischen Agrarordnung, die diese Produktionsformen bevorteilt, ihre Stärken entfalten“, formulierte der Soziologe Bernd Martens 2020. Dass die ostdeutschen Landwirtschaftspolitiker (gleichgültig, ob mit oder ohne SED-Vergangenheit) häufig ebenfalls für die Beibehaltung der vorhandenen Strukturen eintraten (und für die bestehende Förderpraxis), überrascht nicht. Die westdeutsche Agrarlobby, namentlich der Deutsche Bauernverband, stellte sich auf die Seite der etablierten Kräfte. Organisationen wie die Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft konnten hingegen nur geringen Einfluss gewinnen.
Dabei sind die negativen Begleiterscheinungen dieses wirtschaftlichen Erfolgs rückblickend betrachtet gravierend. In den ersten Jahren war es der massive Abbau von Arbeitsplätzen – in einem Dorf in der Uckermark waren laut taz nun 143 von ehemals 170 LPG-Arbeiterinnen und -Arbeitern überflüssig. Wiederholt griffen Presseberichte die Folgen der Umwandlung für den ländlichen Arbeitsmarkt auf, und meist waren die Schilderungen drastisch. Da aber der Agrarsektor nicht der einzige war, in dem Tausende von Menschen arbeitslos wurden, und andernorts lauter protestiert wurde, richtete sich das Hauptaugenmerk meist auf die Entwicklungen in anderen Bereichen.
Dabei geriet aus dem Blick, dass sich der Arbeitskräftebesatz pro Hektar im Vergleich zur Alt-Bundesrepublik in nur drei Jahren umkehrte: Schon 1993 benötigte man jenseits der Elbe nur noch halb so viel Arbeitskraft pro Hektar, was eine gewaltige Produktivitätssteigerung bedeutete – ein zweifelhafter Erfolg, da die gewachsene Rentabilität mit enormen sozialen Belastungen erkauft wurde. Erschwerend kam hinzu, dass es häufig keinerlei langfristige Auffangeinrichtungen gab, da auch kleinere Industriebetriebe auf dem Land nicht überlebten. Wer konnte, versuchte andernorts sein oder ihr Glück – zurück blieben meist nur die Älteren. Aber es ging und geht nicht nur um Arbeitsplätze. Kaum jemand konnte 1989/90 übersehen, dass die LPG weit mehr als Arbeitgeber im ländlichen Raum waren und dass sie zahlreiche soziale Aufgaben übernommen hatten. Und dennoch sollten sie innerhalb kürzester Zeit aufgelöst werden, ohne einen Gedanken an ihre „Zusatzaufgaben“ zu verschwenden. Walter Bayer formuliert zutreffend: „Es ging hier nicht um die Änderung der Rechtsform eines landwirtschaftlichen Unternehmens, sondern um einen wichtigen und tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Prozess auf dem Lande.“
Es ist einer der gravierenderen Fehler des Vereinigungsprozesses, dass diese weitreichenden Folgen nicht gesehen oder bewusst ausgeblendet wurden. Hier entstand ein Vakuum, das die schwach ausgebildete Zivilgesellschaft auf dem Lande nicht füllen konnte, und das sich in einzelnen Regionen die politische Rechte zunutze machte. Selbst wo dies nicht der Fall ist, existiert meist keine nennenswerte Infrastruktur mehr. Nicht zu unterschätzen sind außerdem die Verwerfungen, die es zwischen den verschiedenen ortsansässigen Protagonisten im Zuge des Umwandlungsprozesses gab, in dem sich häufig jede/r selbst die/der Nächste war und in dem der Erfolg des einen eng verbunden sein konnte mit dem Misserfolg des anderen. „Es gab in dieser Zeit einen richtigen Krieg in den Dörfern“, bringt es der Oderbruch-Bauer Bernd Hoffmann auf den Punkt.
Der Neuaufbau funktionierender Strukturen wird zudem dadurch erschwert, dass sich vielerorts Kapitalgesellschaften als Landnutzer etabliert haben. Das mit dem Begriff „Landgrabbing“ bezeichnete Phänomen hat nicht nur ökologisch bedenkliche Folgen. Gegen die Macht dieser Großgrundbesitzer sind regional- oder lokalpolitische Entscheidungen kaum durchzusetzen, aber warum sollten sie, die bestenfalls zeitweise anwesend sind, Interesse an regelmäßigen Busverbindungen, an begehbaren Wegen oder einem Dorfladen haben?
Selbst rein ökonomisch betrachtet, lässt sich die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft nicht als Erfolgsgeschichte lesen. Zwar mögen etwa die Höfe in der Magdeburger Börde im deutschlandweiten Vergleich am profitabelsten arbeiten. Sie können es aber nur, weil sie Millionensubventionen von der EU erhalten, die nach wie vor nach bearbeiteter Fläche bezuschusst. Ausgeblendet bleiben die gesellschaftlichen Folgekosten, die fehlende Nachhaltigkeit und mangelhafte Klima- und Umweltverträglichkeit verursachen.
Noch schwerer zu beziffern ist die Zerstörung von Landschaften und Dörfern. Diese Folgekosten werden selten in die Erfolgsbilanzen einbezogen. Bislang kaum abschätzen lässt sich zudem das Artensterben infolge der intensiv beackerten Felder. Und mit welcher Summe möchte man die Schönheit oder Einzigartigkeit einer Kulturlandschaft bewerten, welchen Wert misst man attraktiver, erlebbarer Landschaft bei? Einige der Folgekosten rücken unvermutet in den Fokus, wie etwa 2011 die „Sandstürme“ in Mecklenburg-Vorpommern. Der rapide Abbau oder gar Zusammenbruch einer funktionierenden Infrastruktur in fast allen Lebensbereichen ist direkte Folge des Anpassungsprozesses auf dem Lande. Diesen ebenso wie die Erfahrungs- und Lebenswelten der ländlichen Bevölkerung während der 1990er Jahre näher in den Blick zu nehmen, ist eine dringende Forderung an Soziolog_innen und Zeithistoriker_innen. Dass sich ungeheuer viel verändert hat, ist allerorten deutlich sichtbar – was genau aber passiert ist und welche Einschnitte und Umbrüche damit verbunden waren, sollte möglichst bald von den noch lebenden Zeitzeug_innen erfragt werden.
Zitierweise: Elke Kimmel, „Von LPG zu e.G., GbR und GmbH oder: Von „Alt-Kommunisten“ zu „Neu-Kapitalisten“? Der Anpassungsprozess der ostdeutschen Landwirtschaft nach 1989 und seine Folgen bis heute", in: Deutschland Archiv, 1.02.2021, Link: www.bpb.de/326430
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Dr.; geb. 1966, Historikerin. Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin u. a. für das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt, die Stiftung Berliner Mauer, das Museum Neuruppin, das Deutsche Historische Museum und die Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Bis Ende 2020 Leiterin des Barnim Panoramas Wandlitz. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte.
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