Die neue ostdeutsche Welle
Neue Erkenntnisse über die vielen Facetten der DDR oder nur eine neue Geschichtsvergessenheit? Eine doppelte Buchkritik von Wolfgang Templin.
Wolfgang Templin
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Die Historikerin Katja Hoyer und der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann erheben beide den Anspruch, neue Blicke auf die DDR-Geschichte und den Umgang mit ihr zu werfen. Aber beide blenden einiges aus.
Jeder Jahrestag verbunden mit der Geschichte der DDR befördert Rückschau und Resümees. Ob es um die Gründung dieses Staates DDR 1949 geht oder seinen Untergang 1990, die Errichtung der Berliner Mauer 1961 oder ihren Fall 1989 – großangelegte Programme, Feiertagsreden und umfangreiche Dokumentationen gehören dazu.
In diesem Jahr, dem 70. Jahrestag des Volksaufstandes vom Externer Link: 17. Juni 1953, erregen zwei Publikationen besondere Aufmerksamkeit: Die Historikerin Katja Hoyer und der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann erheben in ihren Büchern "Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR" (Hoyer) und "Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung" (Oschmann) beide den Anspruch, neue, besondere Blicke auf die DDR-Geschichte und den Umgang mit ihr zu werfen. Ihre Arbeiten sind sehr unterschiedlich angelegt, erleben zumindest in Ostdeutschland eine hohe Nachfrage und ein vielfältiges Echo.
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Gemeinsam ist ihnen ein weitgehendes Ausblenden bisheriger Autor*innen und des Materials, das mittlerweile für ein differenzierteres Verständnis der zweiten deutschen Diktatur zur Verfügung steht.
Bereits vor 1989 gab es zahlreiche Versuche, die Geschichte der DDR in den Blick zu nehmen. Häufig biographisch und autobiographisch, wie die Bücher von Wolfgang Leonhard und Externer Link: Heinz Brandt, oder auch die Ulbricht-Biographie von Carola Stern. All diese Bücher fanden ihren Weg in die DDR und wanderten dort als verbotene Literatur von Hand zu Hand. Sie halfen den Nachgeborenen zum Verständnis der eigenen Gesellschaft und Geschichte.
Vergessene Aufarbeitung der Geschichte
Akteur*innen der Friedlichen Revolution von 1989/90 und ihre westdeutschen Unterstützer*innen setzten sich dafür ein, dass die Dokumentenflut des Ministeriums für Staatssicherheit, dass staatliche Archive und die Archive der Parteien und Massenorganisationen vor der geplanten Vernichtung bewahrt wurden, damit sie der Auseinandersetzung mit der DDR-Diktaturgeschichte, der Rehabilitierung der Opfer und der zeitgeschichtlichen Forschung zur Verfügung stehen, mittlerweile öffentlich zugänglich unter dem Dach des Externer Link: Bundesarchivs.
Anhörungen statt Tribunalen
Unter den an diesen Rettungsaktionen Beteiligten setzte sich die Idee durch, eine parlamentarische Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ zu schaffen. Die Idee eines Tribunals stieß auf rechtsstaatliche Bedenken und wurde mehrheitlich abgelehnt.
Das Format der Enquetekommission bot die Möglichkeit, Abgeordnete des Bundestages und den externen Sachverstand von Expert*innen und Betroffenen zusammenzuführen, Anhörungen zu organisieren und Expertisen in Auftrag zu geben. Im Ergebnis der Arbeit der ersten Enquetekommission, die von 1992 bis 1994 tagte, entstand ein Material von über 15.000 Seiten, das im Abschlussbericht zahlreiche Handlungsempfehlungen beinhaltete. Es steht seitdem Interessierten Externer Link: online zur Verfügung.
In einer zweiten Enquete-Kommission „Zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, die von 1995 bis 1998 arbeitete, wurden erneut zahlreiches Material gesammelt und konkretere Empfehlungen gegeben.
Die Mitglieder der Enquete-Kommissionen konnten und wollten weder die juristische Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur ersetzen noch ein Ersatz für die wissenschaftliche Aufarbeitung sein. Es ging ihnen darum, wirksame Anstöße für die weitere Forschung und die politische Bildung zu geben.
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An einem Konsens hielten die Beteiligten der jeweiligen Kommissionen unverrückbar fest: Der Diktaturcharakter der DDR resultierte nicht aus Fehlern oder individuellem Machtmissbrauch – der kam verschärfend hinzu –, sondern war in den historischen und individuellen Grundlagen des Systems angelegt.
Das Hauptgewicht und die Hauptverantwortung für das Funktionieren der Diktatur lag im Machtmonopol der Sozialistischen Einheitspartei (SED), für welche das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und die anderen Repressionsorgane als Werkzeuge dienten. Mit dieser Verantwortung der SED, so die Kommissionen, sei nicht automatisch eine Verantwortung der ihr unterworfenen Menschen verbunden.
Diese hätten den weitaus schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt. Durch den Zusatz der SED-Diktatur „in Deutschland“ im Namen der Kommission wurde zudem festgehalten, dass eine losgelöste Betrachtung der DDR-Geschichte, frei von allen jahrzehntelangen deutsch-deutschen Verbindungen und Verstrickungen, nicht ausreichte.
Die wichtigsten Handlungsempfehlungen beider Kommissionen mündeten 1998 in der Schaffung einer Externer Link: bundeseigenen Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die mittlerweile seit über zwei Jahrzehnten Projekte, Archive, Verbände, Wissenschaftler*innen und Bildungseinrichtungen unterstützt. Millionenbeträge aus dem beschlagnahmten SED-Vermögen, die nicht dauerhaft versteckt und auf die Seite geschafft werden konnten, flossen in das Stiftungskapital ein und erlaubten es, die Arbeit zu intensivieren.
In der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentralen für politische Bildung nahm die DDR-Thematik einen erheblichen Raum ein, sei es in Form von Büchern, DVDs oder Externer Link: Schwerpunktwebseiten. In allen Teilen der ehemaligen DDR – in Haftanstalten, den Orten von Verfolgung und Repression, entlang der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze – entstanden Gedenkstätten und Dokumentationszentren. Kulturelle Orte und Museen des Alltagslebens der DDR sowie entsprechende Ausstellungen kamen hinzu.
Umstrittener Stellenwert der DDR-Geschichte
In der akademischen Sphäre Deutschlands, an den Universitäten und Hochschulen und unter etablierten Zeithistoriker*innen, blieb der Stellenwert der DDR-Geschichte für die gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte lange Zeit umstritten. So gab es durchaus die Lesart von der DDR als unerheblicher Fußnote zur bundesdeutschen „normalen“ Nachkriegsgeschichte. Dem wirkten in der DDR sozialisierte jüngere Historiker*innen entgegen, die für einen differenzierten Blick auf die DDR-Geschichte, jenseits von Verteufelung und Verklärung, eintraten.
Zu ihnen zählten Stefan Wolle und Sascha Ilko Kowalczuk, die wie zahlreiche weitere Autor*innen dazu beitrugen, Kontinuitäten wie Veränderungen kommunistischer Gewaltherrschaft in den Jahrzehnten der DDR-Diktatur deutlich zu machen. Sie wandten sich gegen eine Verharmlosung der späten DDR, bei allen Veränderungen, die es dort gab.
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In den ersten Jahren der Wiedervereinigung erwies sich der politisch genährte Glaube an eine schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern als Illusion. Frustration und Depression traten an die Stelle von Euphorie. Jede Folgedekade zeigte, dass der Weg zum wirklichen Zusammenwachsen viel länger und mühsamer war, als ursprünglich angenommen.
Zäher Prozess des Zusammenwachsens
Angesichts der anhaltenden Klüfte und zahlreicher Daten, die das belegten, gab 2020 eine Kommission der Bundesregierung unter dem Titel „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ die Empfehlung für die Schaffung eines „Externer Link: Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ ab, das seinen Standort in einem der neuen Bundesländer haben sollte. Es wird nun in Halle entstehen und soll in wenigen Jahren zum Knotenpunkt eines europäischen Netzwerkes werden, das die Erfahrungen des Umbruchs und die Leistungen der Menschen in unseren mittelosteuropäischen Ländern mit aufnimmt.
In die Entstehungsphase des Zentrums fällt mit dem Terrorkrieg des russischen Staates gegen seinen ukrainischen Nachbarn die größte Krise und Umbruchssituation seit 1989. Ein solches Zukunftszentrums kann mit seinen Analysen und Empfehlungen helfen, Schieflagen anzugehen, die den deutsch-deutschen Vereinigungsprozess immer stärker belasten:
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Ein deutliches Anwachsen sozialer Ungleichheit und damit verbundene Verteilungskämpfe, ungleicher Lohn für gleiche Arbeit, eine ungleichmäßige Verteilung von relevanten öffentlichen Institutionen, Behörden und Einrichtungen, die den Osten eklatant benachteiligen, gehören zu diesen Schieflagen dazu.
Hier fehlt es weniger an Erkenntnissen und Empfehlungen als an der Bereitschaft der öffentlichen Hand und verantwortlicher Politiker*innen, diese umzusetzen. Jahrzehntelang gesammeltes und analytisch vertieftes soziologisches und zeithistorisches Material steht schon lange zur Verfügung, zuletzt facettenreich dokumentiert 2021 von der bpb in zwei Bänden über "Externer Link: (Ost)Deutschlands Weg" seit 1990.
Die aktuelle Bedeutung der historischen Auseinandersetzung in Ostdeutschland liegt, angesichts fortdauernder Verdrängung und Verzerrung der Realgeschichte, auf der Hand. In einer hochgradig krisenhaften, für die politische Stabilität der Bundesrepublik kritischen Situation, schickt sich die AfD mit ihrem "Externer Link: autoritären Nationalradikalismus" (Heitmeyer) an, in den ostdeutschen Flächenländern zur stärksten politischen Kraft zu werden und sich wirksam institutionell zu verankern, ein jüngst errungener erster Landratsposten in Thüringen und ein Bürgermeisterposten in Sachsen-Anhalt gehören dazu.
Das häufig gebrauchte Argument, zu ihren Unterstützern würden vor allem Denkzettelwähler*innen zählen, die im nächsten Moment wieder ihren Weg zu den Parteien des demokratischen Spektrums fänden, erweist sich als zunehmend brüchig.
Vielmehr kommt es darauf an, den Unterstützern der AfD im politischen Alltagsleben West wie Ost inhaltlich zu begegnen und es nicht bei ideologiegeladenen Antifa-Kampagnen zu belassen. Für all das sind solide zeithistorische Arbeiten und historisch orientierte Initiativen von großer Bedeutung.
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Die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann tragen jedoch kaum etwas dazu bei, diese Aufgabe zu lösen, trotz der vollmundigen Ankündigungen der Autor*innen und ihrer Verlage. Sie sind im Gegenteil geeignet, erneut Vorurteile und Ressentiments zu bedienen und populistische Tendenzen mannigfacher Art, zu befördern.
Katja Hoyers verschwimmender Blick
Katja Hoyer wurde 1985 in der DDR als Tochter eines Armeeoffiziers und einer Angestellten geboren, studierte an der Friedrich-Schiller-Universität inJena Geschichte und ging anschließend nach England. Sie ist Kommentatorin für die BBC und weitere englische Medien, forscht am King`s College und ist Fellow der Royal Historical Society. Ihr erstes Buch „Blood and Iron. The Rise and Fall of the German Empire 1871-1918“ wurde von der Kritik gefeiert. Die Autorin hat den Anspruch, eine neue Geschichte der DDR und ihrer Vorgeschichte (1918-1990) zu schreiben, endlich einen neuen Blick auf die DDR zu wagen.
„Wer dies mit offenen Augen tut, wird eine bunte Welt entdecken, keine schwarz-weiße. Es gab Unterdrückung und Brutalität, ja, aber auch Chancen und Zugehörigkeit. In den meisten ostdeutschen Gemeinden haben die Menschen sowohl das eine als auch das andere erlebt. Es gab Tränen und Wut, und es gab Lachen und Stolz. Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt. Sie fuhren in den Urlaub, machten Witze über ihre Politiker und zogen ihre Kinder auf. Ihr Schicksal verdient einen Platz in der gesamtdeutschen Geschichte. Es ist Zeit einen ernsthaften Blick auf das Deutschland diesseits der Mauer zu werfen“ (Hoyer S. 23).
In zehn chronologisch gegliederten Kapiteln des Buches, die von 1918 bis 1990 reichen, versucht sich Hoyer an diesem ernsthaften, neuen Blick. Nahezu jedes Kapitel und viele Unterabschnitte beginnen mit der Schilderung von individuellen Situationen und Ereignissen, in denen bekannte Personen der Zeitgeschichte aber auch unbekannte Frauen und Männer vorgestellt werden. Das gibt der Lektüre Farbe und Spannung, verführt aber auch dazu, der Autorin bereitwillig zu folgen, wenn ihr Blick und Urteil strauchelt.
Es ist nicht so, dass Hoyer die DDR und die der Staatsgründung vorangehende Geschichte der KPD schönfärbt. Die Fraktionskämpfe der zwanziger Jahre, der Stellenwert von Verrat und Denunziation in der Geschichte der KPD werden von ihr beschrieben. In den dreißiger Jahren macht sie das Ausmaß des stalinistischen Terrors sichtbar, der sich auch gegen die deutschen Genossen im Exil richtete. Die mit den Säuberungen verbundenen Massenmorde, das Imperium des Gulag, Verfolgung und Repression in allen Phasen der DDR-Diktatur werden nicht ausgespart und immer wieder mit individuellen Schicksalen verbunden.
Für die nachfolgende DDR-Geschichte lässt die Autorin in Briefen und Aufzeichnungen eine Vielzahl ostdeutscher Stimmen zu Wort kommen:
„In der Mehrzahl diejenigen, die den Staat funktionieren ließen, von Lehrerinnen, Buchhalterinnen und Fabrikarbeitern, bis hin zu Polizisten und Grenzsoldaten“ (Hoyer, S. 22).
Alle Facetten des Staates sollen gezeigt werden, von der großen Politik bis zum Arbeitsleben. An sich ein legitimer Anspruch.
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Was lässt das Kommunismus- und DDR-Bild von Hoyer dennoch so schief und ungenau erscheinen? Die Verkürzungen beginnen bereits bei der Vorgeschichte.
In den knapp vierzig Seiten des ersten Kapitels „Gefangen zwischen Hitler und Stalin (1918-1945)“ sind die dort vorgestellten Funktionär*innen und Anhänger*innen der deutschen Kommunisten nicht etwa mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik, sondern stehen für die ausgebeuteten Klassen, die einen gerechten Kampf führen und nach der Machtergreifung Hitlers zu den ersten Opfern nationalsozialistischen Terrors zählen. Das wurden sie auch, an der Spitze ihr Führer Ernst Thälmann.
Der gleiche Thälmann war es aber auch, der in den zwanziger Jahren als bedingungsloser Erfüllungsgehilfe der Moskauer Zentrale der Komintern dafür sorgte, dass unabhängige Sozialist*innen keinen Platz mehr in der KPD hatten und als Abweichler verfolgt wurden, und der das Zusammengehen mit Sozialdemokraten und bürgerlichen Kräften zur Rettung der Republik vereitelte.
Mit dem rechtskonservativen Reichspräsidenten Hindenburg, der Hitler die Tür zur Macht öffnete, wurde Thälmann zu einem der Totengräber der Weimarer Republik. Unterstützt von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, die als hohe Funktionäre der Partei der Verfolgung entkamen und im Moskauer Exil landeten. Tausende Anhänger der KPD, aber auch angeworbene Spezialisten und mit der Linken sympathisierende bürgerliche Intellektuelle, nahmen den gleichen Weg.
Hoyer führt die Angst vor Spionen an, die sich bei Stalin zur Paranoia steigerte, um die großen Säuberungen von 1936 bis1938 zu erklären, denen auch zahlreiche Funktionär*innen und Anhänger*innen der deutschen Kommunisten zum Opfer fielen. Sie landeten in den Erschießungskellern der Lubjanka oder verbrachten Jahre oder Jahrzehnte im sibirischen Gulag. Katja Hoyer nennt hier die Zahlen:
„Stalins Säuberungen waren so weitreichend, dass nur ein Viertel der deutschen Exilanten in Russland sie überlebte. Von den neun deutschen Mitgliedern des Politbüros der KPD, die ins Exil in die Sowjetunion gegangen waren, lebten bei Kriegsende nur noch zwei: Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht“ (S. 53).
Als bloßer Paranoiker hätte sich Stalin aber nie auf eine langfristig angelegte Zusammenarbeit mit Adolf Hitler eingelassen. Er war von kommunistischer Rationalität geleitet. Machtinstinkt, Skrupellosigkeit und strategisches Geschick ließen ihn den erklärten „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ nur als notwendige Atempause verstehen, um mit Hilfe Hitlers seinen Hauptfeind, die liberalen Demokratien des Westens, niederzuzwingen. Wie bereits 1918 bei der Gründung der KPD spielte Deutschland auf dem Weg nach Westen eine entscheidende Rolle, brauchte Stalin einen Kern deutscher kommunistischer Funktionär*innen und idealistische, von der Sache der Weltrevolution überzeugte Genoss*innen.
Wer die eigenen Genoss*innen, unter welchen phantastischen Anschuldigungen auch immer, denunzierte, verriet und auslieferte, hatte die größten Chancen, selbst zu überleben und zum künftigen Führungskern der deutschen Partei zu gehören. Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck gehörten dazu.
Hoyer beschreibt zahlreiche erniedrigende Prozeduren der Selbstanklage und Abbitte, denen sich die Angeklagten unterwarfen, um dann doch in den Kellern der Lubjanka oder im Gulag zu landen.
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Wenn sie die Rolle von Walter Ulbricht, der beim Denunzieren und beim Verrat führend war, um dann in Einzelfällen bei Stalin um Milde für Familienangehörige zu bitten, mit dem Begriff der „moralischen Ambivalenz“, dem „Fehlen eines moralischen Kompasses“ beschreibt, ist das eine eigentümlich eingeschränkte Sicht. Ähnlich verengt beschreibt sie die Folgen dieser Jahre für die Überlebenden:
„Solche Muster von Verdächtigungen, Denunziationen und Verrat hinterließen bei den deutschen Kommunisten, die sie überlebten, tiefe Spuren, die sie nach dem Krieg in ihr Heimatland mitnahmen“ (Hoyer, S. 42).
Andreas Petersen, ein deutscher Historiker, den Hoyer heranzieht und zitiert, ist hier viel genauer. Er schildert in seinem Buch „Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte“, wie ein Großteil der Rückkehrer*innen nicht nur von tiefen Spuren gezeichnet, sondern innerlich völlig gebrochen war. Sie hassten und verachteten ihre Anführer*innen und waren dennoch bereit, dem geliebten Genossen Walter Ulbricht zu applaudieren, dem verehrten Staatspräsidenten Wilhelm Pieck auf der Tribüne zuzujubeln und beim Märchen vom antifaschistisch-demokratischen Neubeginn auf deutschem Boden ihre Rolle mitzuspielen. Dies galt aber nicht für alle.
Einzelne folgten den bekannten internationalen Beispielen von Artur Koestler, Manès Sperber und Ignazio Silone, lösten sich früher oder später aus der eigenen Verstrickung, ließen den Götzenglauben hinter sich. Sie flüchteten in den Westen oder landeten nach 1945 im deutschen Gulag, neben Sozialdemokrat*innen und bürgerlichen Demokrat*innen. Tatsächliche oder vermeintliche Nazitäter waren ihre Mithäftlinge. Sie konnten den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR nicht mehr teilen, den Hoyer noch positiv beschreibt.
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Es ist die Generation der ostdeutschen Nachgeborenen, die die Historikerin am meisten interessiert, an denen sie die Wirkung davon entdeckt. Eine Generation, zu der auch ihre Eltern gehören. Den Glauben, im besseren deutschen Staat auf deutschem Boden zu leben, der erst durch die Eiseswinde des Kalten Krieges und die Übermacht des offensiven Westens zu einschränkenden, repressiven und diktatorischen Maßnahmen gezwungen wurde.
In dieser Lesart, die sich die Autorin immer wieder selbst zu eigen macht, gibt es in den ersten Jahren nach 1945 einen vom Krieg gezeichneten, angsterfüllten, defensiven Stalin, der bereit ist, ein neutrales, entmilitarisiertes Deutschland zu akzeptieren, um der militärischen Übermacht des Westens und der Nato zu entgehen. Eine von zahlreichen Historiker*innen mittlerweile zu Recht infrage gestellte Lesart der europäischen Nachkriegsgeschichte wird so wieder nach vorn gebracht.
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Nach ihr liegt die Verantwortung für die Jahrzehnte des Externer Link: Kalten Krieges entscheidend im Westen. Die politische Strategie der Sowjetunion und der führenden DDR-Kommunist*innen, die von ihnen geschaffenen Tatsachen, sprechen hier eine andere Sprache. Die Wiederbewaffnung hatte im Osten längst eingesetzt, als Mitte der fünfziger Jahre die Bundeswehr aus der Taufe gehoben wurde.
In der DDR existierte mit der kasernierten Volkspolizei (KVP) eine mehr als hunderttausend Mann umfassende Rumpfarmee mit See- und Luftstreitkräften, war der Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit weit ausgebaut und der Aufbau der Betriebskampfgruppen im vollen Gange. Die später entstandene Nationale Volksarmee (NVA) war alles andere als eine Berufsarmee mit ideologischen Beigaben. Sie war in all ihren Untergliederungen durchideologisiert, zahlreiche ihrer Angehörigen zeigten auch lange Zeit nach der Auflösung der Armee, welchem Geist sie sich verpflichtet fühlten.
Amputierte Biografien
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Hoyer macht sich die antiwestliche Lesart nicht völlig zu eigen, verliert aber den Blick für die verschwimmenden Grenzen von Zustimmung, Anpassung, Einordnung, Unterordnung und Mittäterschaft im normalen Leben der DDR. Ihr Bild wäre genauer geworden, hätte sie nicht Biographien, in denen sich Entscheidungen und das individuell mögliche Überschreiten von Grenzen manifestierten, verkürzt und förmlich amputiert.
So etwa die von Wolfgang Leonhard, der in den dreißiger Jahren als Sohn der deutschen Kommunistin und Schriftstellerin Susanne Leonhard in Moskau aufwächst. Seine Mutter gerät in das Räderwerk der Säuberungen und muss zwölf Jahre in sowjetischen Straflagern verbringen. Wolfgang bleibt elternlos zurück, erfährt erst später vom Schicksal seiner Mutter und besucht gemeinsam mit Markus Wolf die Komintern-Schule in Kuschnarenko.
Als glühender Jungkommunist und talentierter Agitator wird er das jüngste Mitglied der „Gruppe Ulbricht“, die im April 1945 nach Berlin gelangt, um dort die kommunistische Machtübernahme vorzubereiten.
Während sich der intelligente und kultivierte Markus Wolf in den Dienst der primitiven Mörder und Schläger vom Schlag eines Erich Mielke begibt und zum Chef der DDR-Auslandsspionage wird, wählt Leonhard den „argen Weg der Erkenntnis“, stellt sich den eigenen Erfahrungen, die er als Dozent an der Parteihochschule der SED in Kleinmachnow macht. Stationen seines weiteren Weges sind im März 1949 die Flucht über Prag nach Belgrad, da Leonhard kurzzeitig im Titoismus eine Alternative zum Moskauer Kommunismus sieht. 1952 dann die Übersiedlung in die Bundesrepublik und seine jahrzehntelange Präsenz als Sowjetexperte.
Leonhard bleibt dabei immer um Differenzierung bemüht, lehnt einen primitiven Antikommunismus ab und nimmt am Schicksal der Menschen in Ostdeutschland intensiven Anteil. Nach 1989 besucht er frühe Kampfgefährten, darunter seinen alten Schulkameraden Markus Wolf, der nicht die geringste Bereitschaft aufbringt, seinen eigenen Weg als Täter infrage zu stellen. In Leonhards Stasi-Akten finden sich detaillierte Entführungspläne in die DDR, die bei anderen Entführungsopfern auch tödlich endeten. Ohne die tätige Mitwirkung der HVA wären viele dieser Entführungen nicht zu realisieren gewesen.
Hoyer fixiert sich auf die frühe Biographie Leonhards und nimmt sich dadurch die Möglichkeit, den Fragen von Schuld und Verantwortung in einem Unrechtssystem nachzugehen, selbst wenn der funktionierende Einzelne darin nicht zum kapitalen Schuldigen werden musste, sondern eine Nische des Überlebens fand, wenn er nicht offen widersprach. Leonhards kritischer Umgang mit der eigenen Biographie ist dabei ein gutes Beispiel, ebenso wie das seiner Genossin an der Kleinmachnower Parteihochschule, Carola Stern, die ihren Weg in die Freiheit fand. In ihrer bewegenden Autobiographie „Doppelleben“ erzählt sie davon.
Katja Hoyer hätte die Möglichkeit gehabt, zahlreiche neuere biografische Arbeiten zu nutzen, in denen sich Nachgeborene mit der Sozialisation und der Rolle ihrer Familienangehörigen auseinandersetzen und nicht deren Lesart der Geschichte folgen, sondern ohne Verdammungsurteile zu eigenen Schlussfolgerungen, eigenen Bewertungen kommen. Ihr Buch bleibt somit eine vertane Chance.
Dirks Oschmanns einseitige Westdiskreditierung
Dirk Oschmanns Ansatz ist hier ein anderer, denn er versucht nicht vordergründig, die Mitläufer, Funktionsträger und Angepassten im DDR-System zu entlasten. Für ihn war das nur ein verschwindender Anteil der Gesamtbevölkerung. Bis auf die Funktionärselite und die abgehobenen Systemprivilegierten war für ihn die DDR ein Land voller Desillusionierter, die eigentlich alle mit der Faust in der Tasche lebten und das Ende des Zwangssystems herbeisehnten. Deren äußerliche Anpassung war für ihn eine aufgezwungene. Ihre später behauptete DDR-Identität sei maßgeblich eine Erfindung des Westens, von dem nach Oschmann „eine dreißigjährige Geschichte individueller und kollektiver Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und eiskalter Ausbootung“ ausging (Oschmann, S. 32).
All das gab es tatsächlich in diesen dreißig Jahren einer schwierigen Ost-West-Beziehung – die Diffamierung, Diskreditierung, Verhöhnung und das eiskalte Ausbooten. Nur, dass es sie eben auch in umgekehrter Richtung gab.
Wer die Witze vergleicht, welche die „Westler“ über den „Ostler“ rissen und die Witze, welche in umgekehrte Richtung gingen, und die darin enthaltenen Diffamierungen und Diskreditierungen analysiert, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Nur dass der Osten in diesem Spiel in der schwächeren und benachteiligten Position war, weil seinen Bewohnern die gemeinsame Kriegsschuld auferlegt wurde, sie abgeschottet durch Grenze und Mauer Jahrzehnte in einem System verbrachten, das sie sämtlicher Freiheitsrechte beraubte und ökonomisch absolut dysfunktional war.
Dadurch waren auch die Gelegenheiten so selten, in denen clevere Ostler den arglosen Westler eiskalt ausbooten oder sich erfolgreich gegen tatsächliche westliche Glücksritter wehren konnten.
Was Oschmann absolut unterschätzt und ausblendet, sind die ideologischen Prägekräfte und das abgestufte System an Privilegien, das den positiven Kitt der DDR ausmachte und die Leute im System funktionieren ließ, selbst wenn sie sich vermeintlich staatsfern verhielten. So eingeschränkt, wie Oschmanns Bild von der DDR ist, ist auch sein Blick auf die Realitäten des Vereinigungsprozesses.
Situationen und Biografien, die bei ihm kaum vorkommen und im Osten des Landes spielen, zeigen uneigennützige Helfer*innen West, die beim Aufbau demokratischer Strukturen mitzuwirken suchen. Sie scheitern häufig an den Netzwerken, die blitzartig zwischen stabilen Altkadern Ost und westlichen politischen und ökonomischen Kompradoren geknüpft wurden. Hier zählte der wechselseitige Vorteil auf Kosten von Demokratie und Gerechtigkeit. Es gab aber auch genügend Beispiele gelingender Befreiung aus den Fesseln verordneter Unmündigkeit in der DDR, eines guten Ankommens in der neuen Realität.
Eine frustrierte Männerwelt
Differenzierungen sind Oschmanns Sache nicht, wie er selber freimütig zugibt. Er arbeitet mit Provokationen und Generalangriffen. So in seiner Charakteristik des Schicksals von Männern, die ihre frühe Sozialisation noch im Arbeiter- und Bauernstaat erfuhren:
„Man grenzt diese Männer seit über 30 Jahren systematisch aus, indem man ihnen die Selbstentfaltungschancen nimmt, man verhöhnt sie, macht sie lächerlich und demütigt sie in jeder denkbaren Weise, ja man nimmt ihnen ihre Würde und anschließend wundert man sich, dass diese Männer eine „Problemzone“ bilden. Erst fabriziert man das Problem, dann stellt man überrascht fest, dass es eines ist“ (Oschmann, S. 37).
Dabei ist der Leipziger Literaturprofessor selbst ein prägnantes Gegenbeispiel seiner generalisierenden Zuschreibungen. Geboren 1967 im thüringischen Gotha, studierte er in Jena Germanistik, nutzte nach 1989 die Gunst der Freiheit und sammelte akademische Erfahrungen in den USA und Westeuropa.
Nach erneuten Stationen in Jena und Leipzig, hatte er ab 2011 dort eine Professur für neuere deutsche Literatur. Wie bei vielen seiner Befunde hat Oschmann Recht, wenn er die flagrante Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in akademischen Führungspositionen konstatiert. Wer jedoch die Hack- und Beißrituale bei der Besetzung von Professuren je aus der Nähe wahrgenommen hat, wird sich hüten, darin nur eine Benachteiligung Ost zu sehen. Hier geht es um das Funktionieren des gesamtdeutschen akademischen Betriebes.
Es stimmt, dass der Anteil ostdeutscher Frauen und Männer in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Medien, Justiz und Wirtschaft noch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung viel zu niedrig ist. Hier operiert Oschmann mit verschiedenen Zahlen, welche die hohe Unterrepräsentanz belegen sollen, kommt aber wieder über ein unproduktives Generalisieren nicht hinaus. Andere Studien sind da längst weiter.
Angesichts der Zahlen, welche die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, die vielfältigen Formen der Benachteiligung, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie insgesamt die Existenz einer dicken, undurchdringlichen gläsernen Decke belegen, ist das dem Osten unterstellte „Jammern“ in der Tat der völlig falsche Ansatz, „ja man wundert sich, dass die Leute noch keine Gelbwesten tragen“ (Oschmann, S. 119).
Eine solche Unterrepräsentanz ist ebenso wie ungleiche Löhne, Renten und Vermögenswerte hochproblematisch. Dagegen anzugehen, ohne in den Modus eines Generalangriffs West zu verfallen, ist eine dringende Aufgabe. Dazu braucht es realistische Vorschläge und Handlungsalternativen. Sie liegen längst auf dem Tisch und müssen nur umgesetzt werden. Generalangriffe aber taugen hier nicht.
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Wenn Oschmann Menschen sieht, die 1989 die Diktatur in die Knie gezwungen und sich in die Mündigkeit und Freiheit gekämpft haben, um dann sofort wieder entmündigt zu werden, übersieht er leider einiges (Oschmann, S. 72).
Verkannter Widerstand
Die Blicke von Katja Hoyer und Dirk Oschmann bleiben sehr vage, wenn es darum geht, die langen Linien von Widerstand und Opposition zu erfassen, die es in der Vorschichte und Geschichte der DDR gab. Immer wieder unterbrochene Linien, zwischen dem frühen massiven Widerstand gegen die Machtübernahme der Kommunisten, der mit stalinistischer Härte gebrochen wurde und Hunderttausende Opfer forderte und der bis 1961 in die Massenflucht von über vier Millionen Einwohnern der DDR mündete. Die für den Staat erzwungene Ruhe durch den Bau der Mauer und nie eingehaltene Reformversprechen unter Ulbricht und später Erich Honecker riss spätestens im Jahre 1976 ab.
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Die Selbstverbrennung des Zeitzer Pfarrers Oskar Brüsewitz im August 1976 und die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers Externer Link: Wolf Biermann im November 1976 prägten in der DDR mehr als nur einen Herbst. Hoyer schildert den Kontext beider Ereignisse und widmet beiden Personen eine eingehende Schilderung, verkennt aber ihre tatsächliche Wirkung völlig:
„Die Ironie bestand 1976 vor allem darin, dass weder Brüsewitz noch Biermann an den durch sie ausgelösten Oppositionsbewegungen aktiv beteiligt waren. Keiner von ihnen hatte daran nennenswerten Anteil. Beide Männer waren aus freien Stücken aus dem Westen in die DDR gekommen. Beide besaßen eine schwierige Vergangenheit, waren seelisch etwas vorbelastet und nahmen mit einer gewissen Naivität an, ihre Botschaften könnten das Land besser machen. Keiner von ihnen konnte damit ein breiteres Publikum erreichen oder gar namhafte Personen oder bestehende Oppositionsgruppen mobilisieren“ (Hoyer S. 375).
Die Tragik von Brüsewitz‘ Tod zeigte, wie tief der Riss war, der in der DDR durch Kirchenleitungen und Gemeindevertretungen, durch die Gemeinden selbst ging. Brüsewitz wollte ein Fanal gegen die Anpassung der Vertreter einer „Kirche im Sozialismus“ setzen, die für verordnete Freiräume und Privilegien unbequeme Kritiker*innen, Pastor*innen und Gemeindegruppen als Außenseiter*innen und Störenfriede verurteilte. Ein Konflikt, der die DDR-Kirche bis in das Jahr 1989 begleitete und immer auch mit dem Namen und Handeln von Oskar Brüsewitz verbunden war.
Beim drei Monate später ausgewiesenen Liedermacher Externer Link: Wolf Biermann von fehlender Wirkung und Mobilisierungskraft über 1976 hinaus zu sprechen, geht noch mehr fehl. Seine Lieder und Auftritte über die Grenze hinweg wirkten in die subkulturelle Szene der späten DDR hinein, in der sich Künstlerinnen wie Bärbel Bohley, vom Berufsverbot erfasste Intellektuelle und Angestellte, aber auch junge Arbeiter*innen zusammenfanden – zunächst in den vielfältigen Formen der kirchennahen Friedenskreise, bis sich in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die ersten offenen Oppositionsgruppen als Keimzellen der Massenbewegung des Herbstes 1989 fanden.
Im Dezember 1989 traf Wolf Biermann, der dann endlich wieder in die DDR gelassen wurde, auf ein begeistertes Publikum in Leipzig und wenig später auch Erfurt. Bereits vorher und spätestens dann waren die Übergänge fließend.
Für die siebziger und achtziger Jahre galt, dass der um seine Familie und sein Alltagsleben in der Nische besorgte DDR-Bürger die eigene Anpassungsleistung begrenzen konnte und nicht jeder Zumutung nachgeben musste. Er konnte aber auch den Ordnungskräften zustimmen und zuklatschen, wenn diese vermeintlichen Unruhestiftern zusetzten. Der längst mit der geballten Faust in der Nische verharrende desillusionierte Ostler konnte etwas mehr zum Ende der DDR beitragen als er es tat.
In dieser Spanne entschied sich manches für das spätere Erinnerungsvermögen und Verhalten im vereinigten Deutschland. Ein Verhalten, welches nicht nur durch Systemnähe oder Systemferne geprägt war. So gab es zahlreiche Züge von Externer Link: Frauenemanzipation in der DDR, vor allem aus dem Arbeitskräftemangel geboren, die das auf allein auf Männer bezogene Überwältigungsbild Oschmanns widerlegen. Viele selbstbewusste, in der DDR sozialisierte Frauen stellten sich den Herausforderungen und Zumutungen der Vereinigungsjahre offensiver und stärker als ihre männlichen Altersgenossen, wurden findiger im Ergreifen neuer Möglichkeiten oder wanderten ab.
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Überall dort, wo DDR-Geschichte und Vereinigungsgeschichte mit all ihren ungelösten Problemen auf die Gegenwart treffen, hilft nur die differenzierte und, wenn es sein muss, harte Auseinandersetzung mit dem fortwirkenden Erbe der DDR. In allen Formen und Foren, welche die Demokratie dabei zur Verfügung stellt. Leichter ist der Abschied vom Erbe der Diktaturen und ein besseres Miteinander nicht zu haben.
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Die neue ostdeutsche Welle“, in: Deutschland Archiv, 05.06.2023, Link: www.bpb.de/522739. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine. Er arbeitet gegenwärtig an einer Biografie über den polnischen Revolutionär, Marschall und Staatsgründer Józef Piłsudski, die im März 2022 erscheint.
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