Der Überläufer Der Deal mit "Schneewittchen". Die Affäre Schalck-Golodkowski im Spiegel von Akten des Bundesnachrichtendienstes BND. Mit Dokumenten. (Teil 1)
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Eine mehrteilige Auswertung von rund 1.400 Aktenseiten des Bundesnachrichtendienstes (BND) über die Flucht des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski im Herbst 1989 in die Bundesrepublik. Anhand der Dokumente lässt sich ein lehrreiches Mosaik erstellen, was alles Schalck im Westen über den Zustand von DDR, SED und Stasi an die Bundesregierung verriet, zu welchen Gegengeschäften es kam, und wer sich daran beteiligte. Eine Recherche von Andreas Förster.
Es ist eine eiskalte Dezembernacht, als sich Alexander Schalck-Golodkowski aus der DDR davonstiehlt. Der 3. Dezember 1989, ein Sonntag, ist erst ein paar Minuten alt, da besteigt der damals 57-jährige Staatssekretär in der Wallstraße in Mitte einen dunkelblauen BMW mit Ostberliner Kennzeichen. Seine Frau Sigrid, 49 Jahre alt, nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Auf der Invalidenstraße, den Grenzübergang schon in Sichtweite, müssen die Schalcks anhalten. Mit anderen Fahrzeugen, Trabbis und Wartburgs, stehen sie im Stau. Vor knapp einem Monat erst ist die Mauer gefallen, und auch nachts strömen Berliner und Berlinerinnen aus dem Osten rüber in den nunmehr offenen Westteil der Stadt. Dann sind die Schalcks am Schlagbaum. Der Posten nimmt ihnen die Papiere ab, geht in seine Baracke und kommt nach ein paar Minuten zurück. Das Fahrzeug darf unbeanstandet passieren.
Über die Umstände seiner spektakulären Flucht ist in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach berichtet worden. Vor anderthalb Jahren hatte zudem der Bundesnachrichtendienst (BND) erstmals einige Unterlagen dazu freigegeben, die einen kleinen Einblick gestatteten in das Agieren des Pullacher Geheimdienstes und des Bundeskanzleramtes in jenen Dezembertagen 1989. Ein längerer Artikel dazu, in dem auch bis dahin weitgehend unbekannte Dokumente aus dem Stasiarchiv über Schalcks Flucht und die Tage danach ausgewertet wurden, ist bereits
Mehr als drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung und der Öffnung des ostdeutschen Geheimdienstarchivs hat der BND mittlerweile einen noch deutlich umfangreicheren Aktenbestand über Alexander Schalck
Diese rund 1.400 Seiten starke Akte umfasst den Zeitraum vom 8. Dezember 1989 bis zum 11. Juni 1991 und dokumentiert im Wesentlichen die vom Pullacher Geheimdienst so bezeichnete „Operation Schneewittchen“. Hinter diesem Codewort verbarg der BND die Befragung und Betreuung des prominenten Überläufers aus der DDR. Die bisher unbekannten Unterlagen, deren Freigabe auf einen vom Autor im Jahre 2016 gestellten Antrag auf Akteneinsicht zurückgeht, beinhalten neben Zusammenfassungen der Aussagen Schalcks beim BND auch interne Absprachen zwischen dem Geheimdienst und dem Bundeskanzleramt über den Umgang mit „Schneewittchen“, wie der Deckname des BND für seine hochrangige Quelle lautete. Ebenso finden sich in den vier Aktenteilen Details über das bayerische Netzwerk von Anwälten und Unternehmern, auf das sich das Ehepaar Schalck nach seiner Flucht in den Westen stützen konnte.
Überblick
In den ersten beiden Teilen dieser Artikelserie wird es vorrangig um das Agieren von BND und Bundeskanzleramt in der „Operation Schneewittchen“ gehen. Die nachfolgenden Teile drei und vier werden die Aussagen Schalcks beim westdeutschen Geheimdienst analysieren sowie einen Einblick geben in die persönlichen Lebensumstände des Ehepaars nach der Flucht in den Westen, soweit diese vom BND dokumentiert wurden. Darüber hinaus werden ausgewählte Bestandteile der nun freigegebenen Schalck-Akte online veröffentlicht werden.
Die Flucht Schalcks nach West-Berlin in der Nacht zum 3. Dezember 1989 hatte nicht nur in der DDR, sondern auch in Bonn und Pullach für erhebliche Aufregung gesorgt, wenngleich man im Westen zunächst abwartete, wie sich die Situation entwickeln würde. Denn auf jeden Fall wollte die Bundesregierung angesichts der gerade sehr heiklen Phase einer Annäherung zwischen der neuen DDR-Führung und Bonn den Eindruck vermeiden, den Seitenwechsel des Staatssekretärs forciert zu haben.
Zwar hatte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im November 1989 bei seinen damals zahlreichen Gespräche mit Schalck Hilfe zugesichert, sollte es für den KoKo-Chef notwendig werden, sich aus der DDR abzusetzen.
Auf Rat von Schäuble nach Moabit?
Offenbar auf Schäubles Rat hin meldete sich Schalck schließlich am 6. Dezember abends in der Haftanstalt Moabit und begab sich dort freiwillig in Haft, nachdem er und seine Frau sich drei Nächte lang bei einer befreundeten Unternehmerin in West-Berlin verborgen hatten. Aber wie sollte Bonn weiter verfahren mit dem heiklen „Gast“ aus Ost-Berlin? Die DDR hatte umgehend einen Auslieferungsantrag gestellt, nachdem der KoKo-Chef wiederaufgetaucht war und sich ins Gefängnis begeben hatte. Diesen mit dem Verdacht auf mehrere schwer wiegende Straftaten in der DDR - unter anderem Untreue, persönliche Bereicherung, illegaler Waffenhandel und Korruption - begründeten Antrag konnte die Bundesrepublik nicht einfach vom Tisch wischen.
Allerdings drängte der Bundesnachrichtendienst darauf, den wertvollen Überläufer auf keinen Fall wieder zurückzuschicken. Mit einem gewichtigen Argument: Sollte es gelingen, dem KoKo-Chef eine zukunftssichere Perspektive im Westen schmackhaft zu machen, dann wäre dieser sicher auch bereit, umfassend über das gerade im Umbruch befindliche politische System in der DDR und deren maßgebliche Protagonisten auszupacken.
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In diesen Dezembertagen 1989 war zwar noch nicht konkret absehbar, wie sich die deutsch-deutschen Beziehungen künftig gestalten werden; aber für die bereits in Gang gekommenen Verhandlungen mit Ost-Berlin könnte Bonn durch einen so hochrangigen Überläufer einen erheblichen Informationsvorsprung gewinnen. Diese Argumentation verfing in Bonn. Zunächst entschied das Kanzleramt Mitte Dezember die Freigabe von BND-Erkenntnissen über illegale Waffenhandels- und Technologiegeschäfte von Schalcks KoKo an die West-Berliner Staatsanwaltschaft.
Überlegungen von Generalstaatsanwaltschaft und BND-Präsident
Doch so richtig überzeugt davon, eigene Ermittlungen anzustellen, war die Generalstaatsanwaltschaft nach Sichtung der BND-Unterlagen offenbar noch nicht. Also schaltete sich BND-Präsident Hans-Georg Wieck persönlich ein. Am 19. Dezember 1989 traf er in Bonn mit dem Berliner Generalstaatsanwalt Dietrich Schultz zusammen. Dabei erklärte Wieck, dass der BND zwar „die Durchführung eines rechtsstaatlich einwandfreien Verfahrens [gegen Schalck in der DDR - d.A.] für wahrscheinlich hält, dass jedoch eine Gefährdung von Leib und Leben [Schalcks - d.A.] nicht ausgeschlossen werden kann“.
Andrerseits gebe es Anknüpfungspunkte für ein Strafverfahren in der Bundesrepublik. „Die Diskussion über eine mögliche Strafverfolgung Schalcks … ergab, dass … eine Ermittlung wegen Vergehens nach § 99 StGB [geheimdienstliche Agententätigkeit - d.A.] Erfolg verspricht, da die Organisation des Schalck-Golodkowski sehr eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR und in einigen Bereichen mit dem KGB der UdSSR zusammenarbeitete“, heißt es in einem BND-Vermerk über das Gespräch für das Bundeskanzleramt.
Offensichtlich signalisierte Generalstaatsanwalt Schultz in diesem Gespräch sein Entgegenkommen, denn schon einen Tag später gab es in Pullach eine Besprechung mit den Spitzen des Geheimdienstes „über den Fall Schalck-Golodkowski … unter dem Gesichtspunkt einer Nutzung seines Wissens über Aktivitäten des MfS“. BND-Präsident Wieck wies in diesem Zusammenhang an, „geeignete Wege und geeignete Mittel (zu prüfen), das Wissen nutzbar zu machen“. Nötig sein dafür aber auch eine „Abschätzung des politischen Risikos jedes entsprechenden Schrittes insbesondere jeder Form eines Deals“.
Einen Vorschlag Wiecks, mit Schalck noch in der Westberliner Haft über dessen Bereitschaft einer Zusammenarbeit mit dem BND zu sprechen, lehnte das Kanzleramt allerdings ab. Also schickte der Dienst die Bundesanwaltschaft vor, die am 9. Januar 1990 in der Haftanstalt Moabit mit dem Häftling „ein Vorgespräch zur Frage seiner Aussagebereitschaft“ führte. Schalck ließ keinen Zweifel daran, dass er mit seinem Insiderwissen nicht hinter dem Berg halten werde. „Ich erkläre, dass ich mich, sollte ich in der Bundesrepublik oder West-Berlin bleiben können, zu weiteren umfassenden Vernehmungen zur Verfügung halten werde. Dies erkläre ich ohne jeden Vorbehalt“, gab der Überläufer zu Protokoll.
Die augenscheinliche Einflussnahme des BND auf die Justiz hatte Erfolg. Unmittelbar nach dem Gespräch mit den Bundesanwälten wurde Schalck aus der Haft entlassen und flog mit seiner Frau nach München. Kurz zuvor hatte der West-Berliner Generalstaatsanwalt das Auslieferungsbegehren der DDR für den flüchtigen KoKo-Chef überraschend abgewiesen, nachdem er wenige Tage zuvor laut Schalck noch daran festgehalten habe.
Aber konnte sich der BND wirklich sicher sein, dass der Überläufer auch mit dem Geheimdienst sprechen werde? Protokollarisch festgehalten war seine Aussagebereitschaft ja lediglich gegenüber der Bundesanwaltschaft. Die nun freigegebenen BND-Akten geben eine interessante Antwort. Demnach war es offenbar Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der Schalck damals frühzeitig von einer Zusammenarbeit mit dem Pullacher Geheimdienst überzeugen konnte und die Verbindung zum BND vermittelte. So heißt es in einem BND-Vermerk vom 3. Januar 1991:
„Entgegen den Aussagen von Staatsminister Stavenhagen [der CDU-Politiker Lutz Stavenhagen war damals Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt - d.A.] hat sich nicht S. dem BND angeboten, sondern Innenminister Schäuble hat mit der damaligen Leitung des Dienstes die Kontaktaufnahme zu Schalck-Golodkowski vereinbart.“
22. Januar 1990: Aussagebereit gegenüber dem BND
Ehe es aber am 22. Januar 1990 zum ersten Treff des BND mit der Quelle „Schneewittchen“ in München kam, mussten über die beteiligten Anwälte des Überläufers erst einmal die Modalitäten ausgehandelt werden. Denn der Dienst hatte nach der Haftentlassung Schalcks zunächst keinen direkten Zugriff auf den Flüchtling. Dessen Flug von Berlin nach München, die unauffällige Schleusung des Ehepaares Schalck durch den Flughafen und seine diskrete Unterbringung im Collegium Augustinum, einer kirchlichen Seniorenresidenz am Münchner Stadtrand, hatte die Strauß-Familie vermittelt.
Am 12. Januar 1990 rief der CSU-Politiker Peter Gauweiler - damals Innenstaatssekretär in der bayerischen Staatsregierung und eng verbunden mit der Strauß-Familie - BND-Präsident Wieck an und kündigte eine Kontaktaufnahme des Münchner Rechtsanwalts aus der Strauß-Kanzlei, Bardia Khadjavi, an.
Noch am selben Abend fand in der Kanzlei ein Treffen mit dem BND-Abteilungsleiter Volker Foertsch - damals Chef der für Beschaffung zuständigen Abteilung I - und dem Angehörigen aus dem BND-Führungsstab, Gilm, statt. Anwalt Khadjavi informierte die beiden Gäste, das Schalck bereit sei, „mit dem Bundesnachrichtendienst direkt in Verbindung zu treten und seine Kenntnisse über DDR-interne Angelegenheiten offenzulegen.
Als Gegenleistung fordert er materielle und sicherheitsmäßige Absicherung sowie Integrationsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland.“ Auf Schalcks Wunschliste für sich und seine Frau standen laut Khadjavi zudem eine Straffreiheitszusage, BRD-Pässe auf den Namen Gutmann sowie eine schnelle Einbürgerung in die BRD. Darüber hinaus verlange sein Mandant Beraterverträge, Honorar vom BND, Krankenversicherung, Pensionsansprüche sowie eine Überführung seines noch in der DDR befindlichen Privatautos - ein SAAB - über Tegel nach München.
Auch ein Vorvertrag mit dem Spiegel, den Schalcks Berliner Anwalt Peter Danckert vermittelt hatte, kam bei dem Treffen in der Kanzlei zur Sprache. Dazu sei in ein paar Tagen ein Gespräch in München geplant, informierte Khadjavi. Demnach solle ein Paket mit Interview, einer Artikelserie und einer Buchveröffentlichung mit dem KoKo-Chef vereinbart werden.
BND-Mann Foertsch reagierte verärgert auf diesen offenkundigen Erpressungsversuch. Schalck sei frei in dem, was er tut, ließ er den Anwalt wissen, stellte aber auch klar:
„Wenn er … mit der Presse etwas vereinbart, präjudiziert das seine weiteren Schritte, u. U. seine Sicherheit und seine Integration. Wir gehen davon aus, dass seine finanzielle Lage nicht schlecht ist. Wenn das so wäre, sollte er das Gespräch (mit dem Spiegel - d.A.) verschieben, bis wir … unsere Vorstellungen erläutert haben.“
Am 16. Januar 1990 gab es eine Abstimmung im Kanzleramt über das weitere Vorgehen des Geheimdienstes im Fall Schalck. Geheimdienstkoordinator Stavenhagen gab grünes Licht für eine Befragung des Überläufers und stimmte zu, dass eine Honorierung Schalcks „in Erwägung gezogen werden“ kann. Eine Betreuung des Stasi-Obersts durch den BND habe aber zu unterbleiben.
Diese Vorgabe aus dem Kanzleramt wurde schon bald unterlaufen, auch wenn Stavenhagen bis zu seinem Rücktritt als Geheimdienstkoordinator Anfang Dezember 1991 an der Version festhielt, dass Schalck vom BND zwar befragt, aber nicht betreut worden sei. Die nun freigegebenen Akten widerlegen diese Behauptung nachhaltig. Der frühere DDR-Staatssekretär wurde nicht nur stundenlangen Befragungen unterzogen, sondern vom BND auch mit juristischem und publizistischem Beistand versorgt sowie mit VIP-Service und falschen Papieren geschützt.
Verzicht auf Spiegel-Interview
Schalck ließ sich ködern. Als erstes löste er den Vorvertrag mit dem Spiegel. Die Kooperation mit dem BND und die sich daraus von ihm erhofften Vorteile wogen offenbar schwerer als die Millionenofferte aus Hamburg. Möglicherweise hatte sich auch Schäuble noch einmal eingeschaltet, denn mittlerweile hatte der BND nach Rücksprache mit dem Kanzleramt auch eine mögliche Honorierung des Überläufers - in Rede stand ein Stundensatz von 300 DM für die Befragungen - vorgeschlagen.
Schließlich wurden sich der BND und die Anwälte Schalcks einig: Ein hochrangiger BND-Mann wird die Befragung durchführen, der Dienst kümmert sich um vorläufige Deckpapiere für den Überläufer und seine Frau und vermittelt ihnen überdies die private Sicherheitsfirma Securicon, die sich um die Sicherheitsbelange des Ehepaares kümmern soll; Schalck seinerseits sichert im Gegenzug umfassende Aussagebereitschaft zu und verzichtet sogar auf ein Honorar.
Auch diese in einem Vermerk vom 22. Januar 1990 festgehaltene Auskunft widerlegt im übrigen eine Aussage von Geheimdienstkoordinator Stavenhagen aus dem Jahr 1991 gegenüber dem Bundestag. Damals hatte Stavenhagen behauptet, das Kanzleramt habe das Ansinnen Schalcks, gegen Geld auszupacken, nach kurzem Nachdenken zurückgewiesen. Tatsächlich war es jedoch Schalck, der das Angebot einer Honorierung seiner Aussagen durch den BND ablehnte.
Nachdem sich Geheimdienst mit den Anwälten des Überläufers grundsätzlich einig war über das Prozedere, drückte Bundesinnenminister Schäuble aufs Tempo. Er rief BND-Präsident Wieck an, der daraufhin am 19. Januar 1990 „entgegen der bisherigen Planung“ anwies, „schnellstmöglich BND-Abschöpfungsgespräche mit Schalck zu führen“.
Die „Operation Schneewittchen“ konnte beginnen.
Die Eile in der Bundesregierung deutet daraufhin, dass man in Bonn offenbar erkannt hatte, dass eine zunehmende Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung mit der sich nur mühsam vollziehenden politischen Wende im Land sowie die wachsenden Konflikte am Runden Tisch und zwischen den Koalitionsparteien in der Modrow-Regierung auf einen vorgezogenen Wahltermin hinauslaufen könnten.
Tatsächlich beschloss der Runde Tisch am 8. Februar 1990 die Vorverlegung der ursprünglich für den 6. Mai geplanten Volkskammerwahlen auf den 18. März. Für die Unterstützung des Wahlkampfes der Ost-CDU aber, in den sich Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich einbringen wollte, benötigte Bonn so viele Informationen aus dem inneren politischen Zirkel der DDR und über die wirtschaftliche Lage des Landes wie möglich. Und die erhoffte man sich offenbar auch von Schalck.
Am 22. Januar kam es schließlich zu dem ersten Treffen mit Schalck. Die Befragung führte zunächst der BND-Mitarbeiter Burgdorf vom Referat 12E durch, der in den folgenden Monaten der Verbindungsführer für „Schneewittchen“ blieb.
Man habe „umfangreiche Erkenntnisse zu den derzeit handelnden Personen der PDS inclusive deren Verbindungen zur politischen Führung der USR“ in Moskau ebenso gewonnen wie „wirtschaftliche Detaildaten, Zusammenhänge und Zukunftsprognosen“ zur DDR-Wirtschaft sowie umfassende „Informationen mit operativem Zukunftsbezug“ über die DDR-Geheimdienste, ihre Reorganisation und die Verbindungen zu sowjetischen Nachrichtendiensten. Außerdem habe Schalck, der als die im Wirtschaftsbereich „wertvollste BND-Befragungsquelle“ eingeschätzt wird, detaillierte Angaben gemacht unter anderem zur Rolle Österreichs als Drehscheibe des Hochtechnologietransfers und zur aktiven Beteiligung deutscher Firmen an Verstößen gegen das CoCom-Embargo.
Der ehemalige DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski am 31. Januar 1996 im Kriminalgericht Berlin-Moabit. Schalck wurde damals zu einem Jahr Bewährungsstrafe verurteilt. Die Strafkammer sah es als erwiesen an, dass er mit der Einfuhr von Waffen und Nachtsichtgeräten gegen das Militärregierungsgesetz Nr. 53 von 1949 verstoßen hatte. Schalck zeigte sich damals überzeugt, dass der Bundesgerichtshof später eine andere Entscheidung treffen werde. (© picture-alliance/dpa, Andreas Altwein)
Originalunterlagen aus Ost-Berlin
Die ausführlichen Befragungen Schalcks durch den BND wurden bis Ende März 1990 fortgesetzt, auch danach kam es zu weiteren Informationsaustauschen und Übergaben von Unterlagen durch Schalck. Die Akten listen an die zwei Dutzend Treffs und knapp 100 Telefonate bis März 1991 auf
Der genaue Inhalt aller Berichte Schalcks an den Geheimdienst lässt sich aus den Akten nicht mehr nachvollziehen. Grund dafür ist eine Anweisung des BND-Präsidenten Wieck vom 20. April 1990, wonach keine Berichte mehr verfasst werden dürfen über Treffs und Telefonate mit „Schneewittchen“. Der Verbindungsführer soll seinem Vorgesetzten nur noch mündlich mitteilen, was besprochen oder von Schalck mitgeteilt wurde. Danach werde entschieden, ob ein Vermerk für die Leitung des Dienstes angefertigt wird oder nicht, heißt es in einem von Verbindungsführer Burgdorf handschriftlich festgehaltenen Vermerk vom 20. April 1990.
Anlass dieser mit dem Kanzleramt abgestimmten Anweisung dürfte unter anderem eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Wilfried Penner gewesen sein, der einen Monat zuvor am Rande einer Sitzung der für die Geheimdienstkontrolle zuständigen Parlamentarischen Kontrollkommission um Akteneinsicht in die Befragungsprotokolle Schalcks bat.
Geheimdienstkoordinator Stavenhagen übergab Penner daraufhin vier eher allgemein abgefasste BND-Berichte über wesentliche Ergebnisse der bisherigen Befragungen.
Ausschnitt aus zusammenfassendem BND-Bericht über die "Aktion Schneewittchen" des bundesdeutschen Geheimdienstes.
Außerdem wurde in jener Zeit im Bundestag und in den Medien immer heftiger über das Agieren des BND im Fall des prominenten Überläufers diskutiert. Dabei zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt bereits ab, dass der erste gesamtdeutsche Bundestag nach seiner Wahl im Dezember 1990 die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses beschließen würde, der sich auch mit der „Operation Schneewittchen“ befassen sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Einschränkung der schriftlichen Dokumentation im BND aus Sicht von Kanzleramt und BND nachvollziehbar.
In allen Gesprächen des Geheimdienstes mit Schalck blieb laut Aktenlage nur ein Thema von vornherein ausgespart, und das hatte der Überläufer schon Mitte Januar 1990 über seine Anwälte dem Dienst mitteilen lassen: „Keine Aussagen zu deutschen Politikern und Geschäftsleuten.“
Bonner Sorge vor MfS-Dossiers über Westpolitiker
Tatsächlich war die Nervosität in der Bundesregierung groß, dass Schalck möglicherweise über Dossiers zu bundesdeutschen Politikern verfügen könnte, in denen belastende Dokumente über deren Zusammenarbeit mit der ehemaligen DDR-Führung enthalten sein könnten. Schon im März 1990 war eine entsprechende Information in der Bonner Kabinettsrunde von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) vorgetragen worden. In einem Telex an Staatsminister Stavenhagen, Innenminister Schäuble, Innen-Staatssekretär Hans Neusel und BfV-Präsident Gerhard Boeden vom 21.3.1990 erklärt BND-Präsident Wieck dazu, „dass dem Dienst im Rahmen der Befragung Schalck-Golodkowskis keinerlei Hinweise auf das Vorhandensein eines derartigen Dossiers bekannt geworden sind. Ferner halte ich fest, dass der Bundesnachrichtendienst die Befragung … strikt auftragskonform durchführt und jedwede ‚Innenaufklärungsaspekte’ ausschließt.“
Im Kanzleramt wollte man aber sicher gehen, ob das auch so bleibt. Ende April 1990 meldete sich der Ministerialdirigent im Kanzleramt, Peter Staubwasser, noch einmal bei Schalcks Verbindungsführer Burgdorf und holte sich die ausdrückliche Zusage ein, dass bei der „Abschöpfung“ des Überläufers „sorgfältig darauf geachtet (wird), dass die bekannten Tabu-Themen vermieden werden“.
Aber war es tatsächlich so? Alexander Schalck hatte andere Erinnerungen an die Gespräche mit dem BND. In seiner im März 2000 erschienenen Autobiographie schreibt er über seine Befragungen: „Schließlich ging es um meine Tätigkeit als Unterhändler in den deutsch-deutschen Gesprächen: Seit wann haben Sie mit wem gesprochen? Worüber?“
Hier alle vier Teile im
Eine Momentaufnahme vom 8. Juli 1997. Mehrere Ordner füllten damals die Akten im Fall Alexander Schalck-Golodkowski beim Bundesgerichtshof in Berlin. Dessen 5. Senat hatte über den Einspruch des ehemaligen DDR-Devisenbeschaffers gegen ein Urteil wegen Verstoßes gegen das Militärregierungsgesetz zu befinden. Die Richter verwarfen die Revision und bestätigten am 9. Juli die Verurteilung des damals 65-Jährigen wegen illegaler Waffengeschäfte zu einem Jahr Bewährungsstrafe. (© picture-alliance/dpa, Wolfgang Kumm)
Zitierweise: Andreas Förster, Der Überläufer (Teil I) - Der Deal mit "Schneewittchen“, in: Deutschland Archiv, 17.07.2023, Link: www.bpb.de/523099. Belegdokumente liegen vor. Hier zu
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Andreas Förster ist Journalist und Publizist. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung als Experte für Rechtsterrorismus, Rechtsextremismus und Sicherheitspolitik.
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