Die Frage scheint leicht zu beantworten: Ja, Politik verliert sichtbar und tagtäglich an Steuerungskraft, dieser Anschein wächst, allein schon wenn man nur Schlagzeilen seit dem jetzt zu Ende gegangenen Sommer 2023 betrachtet, hier allein ein paar Beispiele aus dem August: „Was tun gegen die Wirtschaftsflaute? Die Kakofonie der Koalitionäre“ prangerte der Berliner Tagesspiegel am 25. August 2023 an
Demokratiestörung? Verliert die Politik an Steuerungskraft? Zum Wandel des Politischen in zeithistorischer Perspektive, auch angesichts der Zäsur des 7. Oktober 2023 in Israel. Ein Essay
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Gleichwohl, wohin mögliche Fehler und politische Verantwortung geschoben werden – spätestens seit der Migrationskrise von 2015 stehen deutsche Regierungen im Pauschal-Verdacht des Versagens, und begleitet ihre Arbeit das Prädikat mangelnder Professionalität. Darin kommt ein charakteristisches Merkmal der gegenwärtigen Bundespolitik zum Vorschein: Heutige Regierungskoalitionen binden mühsam kompromisssuchend politische Strömungen zusammen, die in der bundesdeutschen Geschichte gewöhnlich in Opposition zueinander stehen.
Der Gegensatz der konservativen CDU und der im Godesberger Programm 1959 zur Reformpartei gezähmten SPD beherrschte die Bonner Republik seit ihren Anfängen, und die wenigen Jahre der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger 1966 bis 1969 wurden – nicht ganz zu Recht – zeitgenössisch als Ära eines künstlichen Stillstandes gesehen, gegen den dann die Kleine Koalition von SPD und FDP unter Willy Brandt und Walter Scheel das Konzept einer fundamentalen Erneuerung entwickelte.
Aber auch für die FDP war die SPD niemals der natürliche Partner, und 1982 fand die von Hans Dietrich Genscher geführte Freie Demokratische Partei mit dem abrupten Koalitionswechsel zu ihrer liberalkonservativen Wunschregierung zurück. Noch größer wiederum war über Jahrzehnte der Abstand, den seit den Achtziger Jahren die grüne Parteienneugründung zu den etablierten Kräften wahrte. Wer heute die Werbung des Grünenpolitikers Anton Hofreiter für eine entschlossene militärische Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland erlebt, möchte nicht glauben, dass er für eine Partei spricht, der der Einsatz für den Frieden seit ihrer Gründung als Wesenskern diente, bis in den Neunziger Jahren im Kosovokrieg der damalige Außenminister Joschka Fischer das grüne Ja zum NATO-Einsatz mit der Formel „Nie wieder Auschwitz“ begründete.
Exkurs: Die historische Perspektive
Was kann die Zeitgeschichte beitragen, um diesen Befund zu sichern oder im Gegenteil zu relativieren, um so in dem einen wie anderen Fall Orientierung für die Gegenwart zu geben?
In der Zeit der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert stand die Steuerungskraft der Politik nicht in Frage, sofern sich die Monarchien und Fürstenhäuser wie in Preußen mit dieser Nationalstaatsbildung verbanden. Die Unterwerfung des in der 1848er-Bewegung nicht an die Macht gelangten Liberalismus unter die Einigungspolitik Bismarcks eröffnete erst in Preußen und dann im Deutschen Reich eine Ära des fast unbeschränkten politischen Handelns.
„Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen - sondern durch Eisen und Blut“, erklärte der neuberufene preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck 1862 während des Verfassungskonflikts im Preußischen Landtag.
In der Folge wurde der Begriff nach den Reichseinigungskriegen zum Gründungsmythos des Deutschen Reichs und zerfiel der bürgerliche Liberalismus in einen schwächer werdenden Flügel der Deutschen Fortschrittspartei und einer nationalliberalen Neugründung von 1866/67, die nach der Reichsgründung zur stärksten Kraft im Deutschen Reichstag aufstieg. Das Zeitalter Bismarcks war geprägt durch eine politische Haltung, die Bismarck selbst so charakterisierte: „Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.“
Doch bei genauerem Hinsehen ist dieses Bild des souveränen Handelns ein Trugbild. Schon die Annexion Elsaß-Lothringens die sich im Nachhinein als „ein Fehler (erwies), der sich nicht wieder ausbügeln ließ“
Bismarck sperrte sich diesem Annexionstaumel nicht, in dem ungestüm die „Wiedereroberung der alten deutschen Provinzen Elsass und Lothringen" als „Kriegsbeute“ gefordert wurde, auch wenn er ihn nicht billigte und die Behauptung, dass das Elsaß deutscher Boden sei, als unsinnige „Professorenidee“ abtat. Besseren Wissens beugte er sich der öffentlichen Meinung und dem Druck der Militärs, die die Inbesitznahme der Festung Metz für unabdingbar erklärten.
Anders als der preußisch-österreichische Krieg, der mit maßvollen Friedensbedingungen und einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Schleswigs zu Preußen oder Dänemark endete und so die Voraussetzungen zum späteren Zweibund schaffte, ging der deutsch-französische Krieg angesichts der deutschen Territorialforderungen weiter, bis Frankreich im Januar 1871 in die Abtretung einwilligte. So endete der letzte Reichseinigungskrieg mit einem verhängnisvollen Gewaltfrieden, der in die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ mündete, um so dem Ersten Weltkrieg und letztlich auch dem Frieden von Versailles Vorschub zu leisten. Bismarck wusste um seine verlorene politische Steuerungskraft und schrieb seiner Frau, es sei „mehr erreicht worden, als ich für meine persönliche Berechnung für nützlich halte", am Ende seines politischen Wirkens gestand er sogar das Versagen seiner Politik ein, als er feststellte, Russland dürfe nicht "unser geborener und revanchebedürftiger Gegner" werden, "wie das heutige Frankreich es im Westen ist".
In einer analogen Verbindung von Politik und Massenstimmung trieb Europa vierzig Jahre später in den Ersten Weltkrieg. Die lange dominante These, dass die deutsche Führung den Krieg planmäßig und von langer Hand vorbereitet habe, gilt heute für überholt. Sie ist einer abwägenderen Betrachtung gewichen, die den fortschreitenden Steuerungsverlust in den Wochen nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand herausgearbeitet hatte.
Schon zuvor hatte sich die politische Führung des Kaiserreichs zum Gefangenen einer militärischen Strategie gemacht, die in Gestalt des Schlieffenplans einen Zwei-Fronten-Krieg mit Hilfe eines möglichst raschen Vorgehens erst im Westen und nach dem schnellen Sieg im Osten vorsah. Den damit gebotenen Angriff über das neutrale Belgien hatte man auch in Frankreich als Möglichkeit erwogen. Dort aber siegte die Politik über das Militär und wies die französische Regierung 1912 das Verlangen ihres Generalstabschefs Joseph Joffre zurück, im Kriegsfall die belgische Neutralität verletzen zu dürfen.
Anders in Deutschland – hier behielt das militärische Denken die Oberhand, das der Politik in der sich Tag für Tag zuspitzenden Julikrise den Handlungsspielraum nahm, ohne dass die Protagonisten es im Tiefsten erfassten – nachdem er durch seinen Kanzler den k.u.k Botschafter in Berlin, Layos Graf von Szögény, mit dem sogenannten „Blankoscheck“ und markigen Worten der deutschen Bündnistreue versichert hatte, ging Kaiser Wilhelm II. am 6. Juli 1914 wie jedes Jahr auf seiner Jacht Hohenzollern auf Nordlandfahrt und kehrte erst am 27. Juli zurück, einen Tag vor Kriegsausbruch. Andere taten es ihm nach: Generalstabschef Helmut von Moltke war schon am 28. Juni nach Karlsbad abgereist; ebenso Kriegsminister Erich von Falkenhayn und Marinestaatssekretär Alfred von Tirpitz, selbst Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg zog sich in den kritischen Wochen auf sein Gut Hohenfinow in der Mark Brandenburg zurück.
In der Zwischenzeit entwickelte sich aus dem Balkankonflikt, den Wien und Berlin zur Stabilisierung ihrer imperialen Stellung hatten nutzen wollen, im Zusammenspiel von militärischer Handlungslogik auf deutsch-österreichischer Seite und fester Haltung der Alliierten ein Weltenbrand, der die Geschichte des Jahrhunderts in eine andere, verhängnisvolle Richtung lenken sollte. Ende Juli sprach der durch die russische Mobilmachung und das Drängen der deutschen Militärs überspielte Reichskanzler vom Kriegsausbruch als „einem Fatum, größer als Menschenmacht“.
Weniger fatalistisch und ebenso hilflos agierte der aus den norwegischen Gewässern zurückgekehrte Kaiser, über den sein Kriegsminister Falkenhayn am 28. Juli notierte: „Der Kaiser hält wirre Reden, aus denen nun klar hervorgeht, daß er den Krieg jetzt nicht mehr will und entschlossen ist, um diesen Preis selbst Österreich sitzen zu lassen. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß er die Angelegenheit nicht mehr in der Hand hat.“
Auffressen musste sie am Ende auch der Kaiser selbst, der im Verlauf des Krieges zugunsten der OHL unter Hindenburg und Ludendorff gänzlich entmachtet wurde. Noch den Moment, an dem die ungeachtet einer Friedensresolution des Deutschen Reichstags vier Jahre lang zur Untätigkeit verdammte Politik am Ende des Krieges ihre Steuerungskraft zurückgewann, bestimmte die militärische Führung, und sie tat es im Bestreben, die Schuld an der Niederlage auf die Reichstagsmehrheit und namentlich die Sozialdemokratie abzuwälzen: Er habe, erklärte Erich Ludendorff am Abend des 29. September gegenüber seinen um ihn versammelten Offizieren, „Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß“, befand Ludendorff mit nahezu den gleichen Worten wie Wilhelm vier Jahre zu vor. „Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.“
So geschah es bekanntlich.
Aber eine Rückgewinnung der politischen Steuerungskraft erlebte auch die Weimarer Republik zeit ihrer Existenz nur rudimentär. Die Fesseln des Versailler Vertrages, die harte Haltung der Alliierten und besonders Frankreichs engten den Handlungsspielraum der deutschen Politik über das krisenhafte Gründungsjahrfünft der ersten deutschen Demokratie hinaus dramatisch ein.
Wenige Monate, nachdem der Industrielle, Intellektuelle und Politiker Walther Rathenau 1921 sein erstes Weimarer Ministeramt angetreten hatte, skizzierte er sein Aufgabenfeld vor dem Reichsverband der deutschen Industrie unter Berufung auf die berühmte Unterredung zwischen Napoleon und Goethe in Erfurt am 2. Oktober 1808 so:
„Die beiden Männer sprachen über Dramatik. Es war die Rede von den Schicksalsdramen, die damals aufgekommen waren, und Napoleon sagte: ‚Was will man immer von dem Schicksal? Politik ist das Schicksal!‘ Dieses große Wort ist hundert Jahre lang wahr geblieben, es ist in den letzten Jahren der Kriegsentscheidung auf seinen Gipfel gestiegen, und es lastet mit seiner ganzen Schwere auf uns. Aber, meine Herren, auch dieses Wort hat seine begrenzte Dauer. Es wird der Tag kommen, wo es sich wandelt, und wo das Wort lautet: Die Wirtschaft ist das Schicksal. Schon in wenigen Jahren wird die Welt erkennen, daß die Politik nicht das Letzte entscheidet.“
Die Steuerungskraft der Politik kehrte in voller Ausprägung in Deutschland erst mit dem Ende der ersten deutschen Demokratie und der nationalsozialistischen Machtnahme zurück. Aber welche analytische Reichweite besitzt der Begriff der Politik als Bezeichnung für alle Tätigkeiten und Gegenstände, die das Gemeinwesen betreffen, überhaupt in entdifferenzierten Gesellschaften, in denen Staat und Monopolpartei ebenso ineinanderfließen wie die unterschiedlichen Gewalten und die Handlungssphären von Politik und Verwaltung?
Otto Suhrs Definition von Politik als Kampf um die rechte Ordnung oder Niklas Luhmanns Beschreibung von Politik als Komplex sozialer Prozesse, die die Akzeptanz administrativer Entscheidungen gewährleisten sollen, ist kaum auf eine totalitäre Diktatur anwendbar, die in der Person des „Führers“ die charismatische Letztbegründung sah, die alle Regeln und Normen zu überspielen vermochte und von der gesellschaftlichen Bereitschaft zehrte, ‚dem Führer entgegenzuarbeiten‘.
Anders steht es um die andere Ausbildung diktatorischer Herrschaft des 20. Jahrhunderts in Deutschland: Die kommunistische Diktatur bezog ihre Legitimation nicht aus der mystischen Verschmelzung mit einem Führer, sondern aus der behaupteten Richtigkeit ihrer auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage entwickelten Politik. Den sozialistischen Gesellschaftsentwurf trieb ein politischer Machbarkeitsglaube an, der buchstäblich keine unüberwindbare Hindernisse kannte: Einen gewaltigen Schub nach vorne beschwor der ukrainische Parteiführer und Stalin-Vertraute Lasar Kaganowitsch welcher der ganzen Welt zeigen wird, dass die Stunde nicht mehr fern ist, wo wir das fortgeschrittenste Land – die Vereinigten Staaten von Nordamerika – eingeholt und überholt haben werden (...) Der Sozialismus wird siegen. (...) Ihr werdet die Herren der Welt sein.“
Auf demselben suggestiven Pathos der Machbarkeit, in dem sich Vernunftbesessenheit und Allmachtsglaube begegneten, fußte die sozialistische Herrschaftslegitimation in der frühen DDR. „Auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden können“, rief Walter Ulbricht 1952 auf einer SED-Parteikonferenz aus und ließ sich durch die frenetische Zustimmung der Delegierten zu dem Ausruf verleiten, der das institutionelle Charisma des Kommunismus wie kaum ein anderer veranschaulicht: „Wir werden das Wort ‚unmöglich‘ aus dem deutschen Lexikon streichen!“
Doch auch die DDR-Machthaber mussten erfahren, dass ihre politische Steuerungsfähigkeit zügig abnahm und am Ende erlosch. Ulbricht selbst scheiterte in den Sechziger Jahren an den verkrusteten Strukturen des Parteiapparats, als er mit einem 1953 beschlossenen Neuen Ökonomische System der Planung und Leitung die ostdeutsche Wirtschaft zu dezentralisieren hoffte und sogar die Einführung von Marktpreisen ventilierte.
Sein Nachfolger Erich Honecker löste Ulbrichts Vorhaben durch eine proklamierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ab, die besonders mit ihrem ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm zunächst die Handlungsmacht des sozialistischen Staates unter Beweis stellte, aber im Folgejahrzehnt die wirtschaftlichen Probleme und namentlich die Auslandsverschuldung der DDR so stark erhöhte, dass das SED-Regime ohnmächtig in seine finale Krise rutschte und sich im November/Dezember 1989 praktisch widerstandslos ablösen ließ.
Krise der Politik oder Wandel des Politischen?
Wie der historische Überblick zeigt, ist ein Nachlassen der politischen Steuerungskraft in der Moderne durchaus kein historischer Ausnahmefall. Auch Konrad Adenauers Westintegration, Willy Brandts Ostpolitik, Helmut Schmidts pragmatisches Krisenmanagement, Helmut Kohls Europapolitik und Gerhard Schröders Bekämpfung des sozialstaatlichen Reformstaus – Rentenversicherung, Gesundheitsreform, Arbeitsmarkt – stellten politische Aushandlungsprozesse dar, die erst im Nachhinein den Eindruck unbeirrter Durchsetzungskraft vermitteln, zeitgenössisch aber nur in langwierigen Auseinandersetzungen realisiert werden konnten.
Adenauers Westkurs stieß auf erbitterten Widerstand der SPD, weil er die deutsche Wiedervereinigung verspiele, und auch die vom ersten deutschen Bundeskanzler betriebene Wiederbewaffnung traf parteiübergreifend auf heftigen Widerstand, der sich besonders am Aufbau der Bundeswehr und der Frage der Atombewaffnung entzündete.
Streit und Obstruktion begleiteten ebenso Willy Brandts Politik des Wandels durch Annäherung und führten 1972 zu vorgezogenen Neuwahlen, nachdem ein von Oppositionsführer Barzel eingebrachtes Misstrauensvotum an nur zwei Stimmen gescheitert war, von denen nach 1989 bekannt wurde, dass sie von der DDR-Staatssicherheit gekauft worden waren.
Die Kanzlerschaft Helmut Schmidts wiederum lässt sich als ständiges Lavieren zwischen sozialdemokratischem Reformversprechen und realpolitischen Sachzwängen beschreiben, das sich in der Nachrüstungsfrage und dem NATO-Doppelbeschluss ebenso manifestierte wie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und 1982 zum Zerbrechen der bis 2021 einzigen sozialliberalen Koalition auf Bundesebene in Deutschland führte.
Die Ära Kohl wiederum begann mit der Ausrufung einer „geistig-moralischen Wende“, die ebenso schnell in der Versenkung verschwand wie in der Ära Merkel die marktliberale Programmatik des CDU-Wahlkampfs 2005. Lediglich in seiner Europapolitik konnte Kohl politische Handlungskraft unter Beweis stellen, während er in seiner Deutschlandpolitik nahtlos an die Vorgängerregierung Schmidt anknüpfte und mit dem Zusammenbruch des SED-Staates eine historische Chance zur Wiedervereinigung erhielt, auf die er keineswegs hingearbeitet hatte.
Die Politik seines Nachfolgers Gerhard Schröder hingegen konnte ihr Motto „Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser“ nur sehr bedingt einlösen. Sie blieb in ihrer Gestaltungsfreiheit durch die wachsende Stimmenmehrheit der Opposition im Bundesrat eingeschränkt und verlor nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl 2002 rasch an Zustimmung, was Schröder nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 zur vorgezogenen Anberaumung von Neuwahlen brachte.
"Permanentes Regieren im Krisenmodus"
Die sechzehn Jahre währende Ära Merkel schließlich stellt sich rückblickend als ein permanentes Regieren im Krisenmodus dar, das weniger von weitsichtigen Strategien bestimmt war als von erzwungenen Reaktionen auf immer neue Notlagen: die Weltfinanzkrise 2008, der Kampf gegen die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands von 2010 bis 2018, die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011, die Flüchtlingskrise 2015, die weltweite Ausbreitung des SARS-Coronavirus 2020. Mehrfach wahrte Merkel als Kanzlerin ihre politische Handlungsfähigkeit durch fast chamäleonartige Richtungswechsel, so 2005 mit der Absage an ihren ursprünglich neoliberalen Kurs und 2011 mit dem überraschenden Ausstieg aus der Atomenergie, deren Förderung sie eben noch wiederaufgenommen hatte.
In historischer Perspektive stellt das Nachlassen politischer Steuerungsfähigkeit also keine Ausnahme, sondern eher die Regel dar. Diese zeithistorische Auskunft befriedigt freilich nicht; wir spüren doch alle, dass die Gestaltung und Regelung unseres Gemeinwesens, als die sich Politik im weitesten Sinne definieren lässt, sich in Deutschland und der westlichen Welt einschneidend gewandelt haben. Aber ist der Fokus womöglich falsch gewählt und geht es vielleicht weniger um die Ausübung von Regierungsverantwortung durch die politische Klasse als um deren Orchestrierung durch die Gesellschaft? In der Tat spricht viel dafür, dass wir es weniger mit einer Krise des politischen Handelns als mit einem Wandel der politischen Kultur zu tun haben. Denn in sachlicher Hinsicht kann die jetzige Bundesregierung durchaus für sich in Anspruch nehmen, den mit dem Ukrainekrieg und dem Klimawandel auf sie gekommenen Herausforderungen konsequent und erfolgreich entgegengetreten zu sein.
Anders als etwa die Deflationspolitik Reichskanzler Heinrich Brünings in der Weltwirtschaftskrise hat die Bundesregierung angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine bemerkenswert energisch und zugleich mit Augenmaß agiert – auch dank der deutschen Unterstützung vermag die Ukraine zu allgemeiner Überraschung dem russischen Kriegspotential seit anderthalb Jahren standzuhalten, ohne dass die von Moskau aus immer wieder angedrohte atomare Eskalation eingetreten ist. Jedenfalls bis jetzt.
Ebenso konnten die das gesellschaftliche Leben schwer beeinträchtigende Covid-19-Pandemie und auch die im Herbst 2022 fast apokalyptisch herannahende Energiekrise dank staatlicher Handlungsentschlossenheit weit besser aufgefangen werden als zunächst befürchtet.
Deutschland leidet strukturell nicht an einer im Ländervergleich hervorstechenden Unfähigkeit seiner politischen Klasse. Im Gegenteil: Korruption und Selbstbegünstigung, Privilegiensucht und ausschweifende Inszenierung sind hierzulande ebensolche Randerscheinungen wie offensichtliche Amtsüberforderung und Handlungsschwäche; die durch nüchterne Bescheidenheit geprägte und affärenarme Amtsführung deutscher Spitzenpolitiker kontrastiert denkbar scharf zur Selbstinszenierung von Politikstars wie Nicolas Sarkozy in Frankreich, Silvio Berlusconi in Italien oder auch Boris Johnson in England.
Nicht die Steuerungsfähigkeit der staatlichen Politik hat sich in Deutschland strukturell verändert, sondern ihr gesellschaftlicher Widerhall; im vermeintlichen Versagen der Politik kommt in Wirklichkeit ein Wandel der Wahrnehmung von Politik in der Bevölkerung zum Ausdruck. 61 Prozent der Bundesbürger sind nach eigenem Bekunden "von den andauernden Streitigkeiten der drei Regierungsparteien inzwischen so genervt, dass sie gar nicht mehr genau hinhören, worüber genau gestritten wird".
Aber ist nicht Streit geradezu ein notwendiges Wesenselement einer lebendigen Demokratie auf der Suche nach tragfähigen Kompromissen? Als jüngst der der Frankfurter Auslandskorrespondent Jochen Buchsteiner nach zwanzigjährigem Aufenthalt in Neu-Delhi, Jakarta und London nach Deutschland zurückkam, begleitete ihn die Annahme, dass sich alles verschlechtert haben solle. Aber er fand sie durchaus nicht bestätigt: „Ist es in Deutschland wirklich so schlimm geworden, wie fast alle außer dem Bundeskanzler sagen? (...) Zumindest aus meinem neuen Zuhause nicht weit vom Theodor-Heuss-Platz kann ich davon nicht berichten.“
Aber Buchsteiner fand etwas anderes; er beobachtete er vor allem, dass „die politische Klasse unter den Druck derer geraten ist, die ‚das System‘ als Ganzes infrage stellen“. Es brodele im Land, die Stimmung wirke rauer als vor 20 Jahren, besonders im Osten äußern sich immer unverblümter Unmut und Trotz, und die politischen Pole fänden sich nicht mehr zwischen Kohl und Schröder im inneren Politikbetrieb, sondern weiter außen zwischen Klimaklebern und Reichsbürgern.
Welche Veränderungen der politischen Kultur im vereinigten Deutschland können helfen, dieses Phänomen zu begreifen? Drei Faktoren drängen sich zur Erklärung auf: erstens der Verfall der politischen Fortschrittshoffnung, zweitens der Trend zur Subjektivierung und Individualisierung der Gegenwartsgesellschaft und drittens die Erfahrung einer zeitgenössischen Zeitenwende.
Die verlorene Zukunftsperspektive
Der Weg in die Moderne war von der Hoffnung getragen, dass die bessere Zukunft die schlechtere Vergangenheit überwinde. Die Aufklärung etablierte die Fortschrittsidee als weltgeschichtliches Bewegungsprinzip, das später der Liberalismus und die sozialistische Arbeiterbewegung übernahmen. Keine soziale Verelendung und keine politische Unterdrückung raubten der Linken seit dem späten 19. Jahrhundert den Glauben, dass hell aus dem dunklen Vergangenen die Zukunft leuchte hervor, und dass trotz aller Rückschläge die gesetzmäßig siegende Revolution auf friedlichem oder gewaltsamem Wege aller Sklaverei ein Ende machen würde.
Noch in der Bedrängung durch tobende SA-Horden fand Otto Wels in diesem Fortschrittsglauben die Kraft, bei der Beratung zum Ermächtigungsgesetz im März 1933 seine Stimme zu erheben, um ein letztes freies Wort aus dem Reichstag in die Welt zu rufen: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“
Dieses Versprechen einer besseren Zukunft ist in vielen Bereichen des sozialen Lebens ins Wanken geraten, wenn nicht gänzlich geschwunden, und der Fortschrittsgedanke spätestens mit dem Ende der trente glorieuses des Wirtschaftsbooms nach 1945 weitgehend obsolet geworden.
Unsere heutige Zeitordnung hat die modernisierungseuphorische Vision einer besseren Welt und ihres Fortschrittsparadigmas seit den späten 1970er Jahren immer stärker abgelöst durch eine konsensorientierte Politik der Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft. Fortschritt wird in unserer Zeit weit stärker als apokalyptische Bedrohung gelesen, wie sie in der 2002 geprägten Definition des Anthropozäns als Ära der menschlich bewirkten Veränderung der Welt zum Ausdruck kommt, die geprägt sei durch „den rasanten Anstieg der Weltbevölkerung und Verstädterung, (...) den beschleunigten Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, auf die Versauerung des Ozeans, (...) die hohe Belastung der Natur durch chemische Schadstoffe, (...) das zunehmende Artensterben und (...) die Freisetzung von Radionukliden durch Atombombenexplosionen“.
Der gesellschaftliche Verlust der Fortschrittskategorie hatte und hat Konsequenzen für das politische Handeln. Wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen, will schon Helmut Schmidt um 1970 als Bonmot in die Welt gesetzt haben
, und tatsächlich ist der politische Raum heute programmatisch radikal entkernt. „Die Mitte im Programmloch“ diagnostizierte der Parteienforscher Franz Walter schon um die Jahrtausendwende , und hat mit dieser Feststellung bis heute Recht behalten.
Keine deutsche Partei verspricht in ihrem Wahlprogramm mehr eine bessere Zukunft. Die letzten drei Bundeskanzler verkörpern einen Politikstil ohne programmatische Perspektive, den der Politologe Gerd Langguth hellsichtig der CDU-Kandidatin Angela Merkel schon vor der Bundestagswahl 2005 attestierte: „Sie entspricht in ihren politischen Grundüberzeugungen eigentlich (...) dem normalen Typus des Wechselwählers, der auch in vielen Punkten gar nicht so sehr festgelegt ist. Sie kann sehr schnell, wenn es sein muss, inhaltlich die Positionen wechseln. Sie ist unideologisch und sie ist pragmatisch.“
In keinem Begriff kommt dieses Konzept einer nur mehr reaktiven Politik, die keiner programmatischen Agenda mehr folgt, so präzise zum Ausdruck als in dem 2010 zum „Unwort des Jahres“ gekürten Ausdruck „alternativlos“, das nicht nur die Ära Merkel prägte, sondern mit Margaret Thatchers Diktum „There is no alternative“ auch in den englischen Sprachraum einzog. Mit dem Etikett ‚alternativlos‘ stellt sich Politik als ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals hin“, stellte eine Pressekommentatorin mit Recht fest und schlussfolgerte: „Das schafft Verdruss beim Wähler. Warum soll er überhaupt noch seine Stimme abgeben, wenn Regierungshandeln so alternativlos ist, wie behauptet?“
Was für die Mitte gilt, gilt auch für die Ränder: Eine postkapitalistische Zukunftshoffnung entwickelt offenkundig auch die Linkspartei nicht mehr, die sich in der Tradition der sozialistischen Bewegung sieht, ihren programmatischen „Mut zur Veränderung“ auf solidarische Gemeinplätze und systemkonforme Verbesserungsvorschläge beschränkt.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums überblendet der unaufhaltsam scheinende Zulauf, den der Rechtspopulismus in einer Art Nachholbewegung mittlerweile auch in Deutschland zu verzeichnen hat, dessen programmatische Leere. Die AfD begnügt sich mit der populistischen Abwehr politischer Neuansätze und einer schadenfrohen Befriedigung an der Herabsetzung der Altparteien, wie zuletzt der Rechtsextremist Björn Höcke wieder vorführte, als er in einem Sommerinterview den Austritt Deutschlands aus der EU forderte: In seiner Äußerung „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann“ spiegelte sich ein politisches Selbstverständnis, das auf Destruktion statt Konstruktion setzt und sich dabei einer Sprache bedient, die von der Provokation lebt, ohne eine konsistente Gegenvorstellung zu entwickeln.
In politikwissenschaftlicher Sicht stellt Populismus eine antielitäre und antiplurale Ausdrucksform politischer Partizipation dar, die durch eine „dünne Ideologie“ (Michael Freeden) beziehungsweise ein „leeres Herz“ charakterisiert ist. Zur Entfaltung und Existenz braucht sie den demokratischen Rahmen einer (angeblichen) Mehrheitsgesellschaft, an der sie sich reaktiv abarbeitet und der sie in institutioneller Verfassung und inhaltlicher Ausrichtung überwiegend episodal und krisengesteuert gegenübertritt – erst in der Euro-Krise, dann in der Flüchtlingskrise und heute in der politischen Vertrauenskrise insgesamt.
Die Individualisierung der Gesellschaft
Die in der Zukunft heimatlos gewordene Glückshoffnung richtet sich seither umso stärker auf die Gegenwart – nicht mehr auf der künftigen sozialen Befreiung und den Enkeln, die es besser ausfechten würden, liegt die Hoffnung, wie es nach dem Bauernkrieg im16. Jahrhundert tröstend hieß, sondern im Recht auf individuelle Teilhabe und Selbstverwirklichung im Hier und Heute.
Mit dieser Entwicklung verbindet sich ein Rollentausch gesellschaftlicher Leitvorstellungen. In der Denkmalsprache des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dominierte die Figur des außeralltägliche Leistungen für einen übergeordneten Zweck erbringenden Helden, der „durch tapfere Thaten Ruhm erlanget und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben“ hat, wie ihn Zedlers Lexikon im 18. Jahrhundert definierte.
An die Stelle des Helden ist in der öffentlichen Aufmerksamkeit seit 1945 immer sichtbarer das Opfer getreten, wie vielleicht am sinnfälligsten die sich wandelnde Denkmallandschaft im Berliner Tiergarten veranschaulicht, in der die mit Patina überzogenen Skulpturen von Otto von Bismarck, Albrecht von Roon und Helmuth von Moltke längst gegenüber dem Holocaust-Mahnmal, aber auch dem Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in den Hintergrund getreten sind und die Siegessäule nur mehr als architektonische Sehenswürdigkeit, nicht aber mehr als kriegerisches Triumphzeichen wahrgenommen wird.
Der Fokus der politischen Gegenwartskultur liegt weniger aúf der Leistung überragender Ausnahmegestalten als auf der Zurücksetzung benachteiligter und verletzter Personen und Gruppen. Es gibt heute schlechterdings keine soziale oder politische Gruppierung, die ihr Anliegen und die Legitimität ihres Handelns nicht im Opfergestus vorträgt.
Auch der jüngst wegen eines Schüler-Flugblatts, das den Holocaust in widerwärtiger Manier bespöttelte, in Bedrängnis geratene Bayernpolitiker Hubert Aiwanger erklärte sich in seiner Erklärungsnot zum Opfer einer „Schmutzkampagne“, die ihn politisch und persönlich zerstören solle, um so das Ende seiner politischen Karriere zu verhindern.
Klassische kollektive Identitätskonzepte wie Religion, Klasse, Volk und Nation wurden im Verlauf der letzten Jahrzehnte von konkurrierenden Identitätsansprüchen abgelöst, die den gesellschaftlichen oder milieubezogenen Zusammenhalt erodieren ließen. Die Krise des Allgemeinen, die der Soziologe Andreas Reckwitz unserer „Gesellschaft der Singularitäten“ attestiert, offenbart sich in der zunehmenden Abkehr vom Prinzip des Universalismus zugunsten des Prinzips des Partikularismus.
Greifbar wird diese Entwicklung insbesondere im Umgang mit der Vergangenheit: Während das Projekt der historischen Aufklärung über 50 Jahre hinweg in der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch allgemeine Lehren zu gewinnen trachtete, zielt der gegenwärtig zu beobachtende Erinnerungstrend auf eine Individualisierung und gruppenbezogene Differenzierung, des Gedenkens, wie exemplarisch in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück zu beobachten ist, in der sich gegen alle Bedenken die Forderung nach national separierten Gedenkräumen durchgesetzt hat.
Beschleunigt durch die kommunikative Macht der sozialen Medien und den Zerfall traditioneller Milieubindungen, macht sich auf diese Weise eine wachsende politische Entfremdung innerhalb der Gegenwartsgesellschaft bemerkbar, die Parteienverdruss und politische Desintegration befördert. Sie resultiert in der ungestümen Einforderung gesellschaftlicher Anerkennung, wie sie sich in der jüngsten Diskussion um die Ausgrenzung und Benachteiligung der Ostdeutschen zeigt und nicht anders im Anspruch auf unmittelbare und außerinstitutionelle Anerkennung, wie ihn gegenwärtig die Blockadeaktionen der Letzten Generationen formulieren.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wächst eine Tendenz zur Flucht in die politikferne Verantwortungslosigkeit bis hin zur kollektiven Selbstschädigung, wie besonders nachdrücklich in den gegenwärtigen Zustimmungswerten zur AfD hervortritt. Dass sie mit ihrem Forderungen neben ihrem harten rechtsextremen Kern auch eine immer breitere Protestwählerschaft hinter sich versammelt, die besonders unter einer Erfüllung dieser Forderungen zu leiden hätte, ist prägnant als das „AfD-Paradox“ bezeichnet worden.
Aber es wäre nur dann als Ausdruck von „Verblendungszusammenhängen“
Opposition und extreme Positionen aus Prinzip um Unzufriedene zu gewinnen? AfD-Anhänger am 18.09.2017 auf dem Domplatz in Regensburg (Bayern) halten bei einer Wahlkampfveranstaltung der CSU AfD-Plakate und symbolische Protest-Plakate mit Tomaten in die Höhe. Laut Wahlanalysen nach der Landtagswahl am 8.10.2023 brachte der AfD ihr Stil vor allem Zuwächse unter Jungwählenden und in der Altersgruppe zwischen 25 und 44. (© picture-alliance/dpa, Sven Hoppe)
Die Verunsicherung der Zeitenwende
Als dritter Faktor zum Verständnis des politisch-kulturellen Wandels in der Gegenwart drängt sich die verunsichernde Umbruchserfahrung der Gegenwart auf, die die ontologische Ohnmacht der Politik in das Bewusstsein hob.
Insbesondere mit dem Ausbruch erst der Covid-Pandemie Anfang 2020 und dann des russisch-ukrainischen Krieges ging das Empfinden einer historischen Zäsur einher, die die Welt umstürzen könnte und die Politik vor einer unlösbare Aufgabe stellte: In der Nacht der gestapelten Särge von Bergamo im März 2020 schien für einen Moment die lebensgeschichtliche Zeitgewissheit zu zerbrechen, die sich der erfolgreich verarbeiteten Vergangenheit ebenso sicher war wie der Hoffnung auf eine trotz des immer bedrohlicher aufscheinenden Klimawandels grundsätzlich noch beherrschbare Zukunft.
Die Corona-Epidemie ebenso wie der bis zuletzt nicht als möglich gedachte Angriff Russlands auf die Ukraine verwandelten schlagartig Zeitgewissheit in Zukunftsunsicherheit; sie bedeuteten den Einbruch des „Unverfügbaren“ in einen Lebensstil der Moderne, für den das immer weiter ausgreifende ‚Verfügbarmachen der Welt‘ eine selbstverständliche Grunderfahrung darstellte.
Zwar wurden beide Herausforderungen existenzieller Verunsicherung rasch eingehegt. Im Fall der Covid-Seuche leistete dies eine Flut von mit dem Pathos der Wissenschaft vorgetragener Handlungsanweisungen des Staates, der sogar den Primat der politischen Entscheidung zugunsten des „evidenzbasierten“ Handelns
Zeitenwenden zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass sie mit den politischen Handlungsgrundlagen auch die Sinnhorizonte ihrer Zeit verschieben. Plötzlich erscheint rückblickend als politisches Versagen, was vor der Zeitenwende als kluge Politik gegolten haben mag.
„Wenn es um die frühere Russland-Politik der SPD geht, hat auch Klingbeil einiges aufzuarbeiten“, rief die Frankfurter Allgemeine Zeitung dem SPD-Parteivorsitzenden im März 2023 auf dessen Kiew-Reise nach; denn er sei ja bekanntlich früher „Teil der Schröder-Connection“ gewesen und habe in „prorussischen Lobbyorganisationen“ mitgewirkt, ohne dass von ihm kritische Äußerungen zu Putin bekannt geworden seien.
Erkennbar projizieren solche Einlassungen ein heutiges Russlandbild auf frühere Zeiten, ohne die unterschiedlichen Handlungskontexte und den zwischenzeitliche Paradigmenwechsel von einer interessenbasierten zu einer wertebasierten Außenpolitik in Rechnung zu stellen. In dieser ahistorischen Sicht wird der heutige Ukrainekrieg zum Maßstab des Urteils über die Entspannungspolitik der Ära Schmidt und Breschnew vor vierzig Jahren und zieht die SPD den Vorwurf auf sich, dass sie „in den Achtzigerjahren (..) im Namen der Entspannung den Ausgleich mit den Unterdrückern gepflegt hat“.
Die Zeitenwende schrumpft auf diese Weise im zeitgenössischen politischen Diskurs zur Erkenntnis der eigenen Verblendung oder zur Brandmarkung endlich enttarnter Verführern: „Länger als eine ganze Generation ist uns vorgebetet worden, dass Frieden nur ohne Waffen möglich sei.“
Wie sich hieran zeigt, sind Zeitenwenden dem Vertrauen in die Kunst des politischen Handelns nicht eben förderlich; sie etablieren Urteilsmaßstäbe, die die Zeitgenossen nicht haben konnten, und diskreditieren das vorzeitige Handeln nachzeitig so effektvoll wie unfair. Im Fall der gegenwärtigen Zeitenwende kommt hinzu, dass in ihr allem Anschein einem neuen nationalen Selbstverständnis Kredit verschafft Raum gibt, das der nach 1989 etablierten Befreiungserzählung das Paradigma des Verfalls entgegenstellt.
Die mit dem Zusammenbruch des SED-Staates und der deutschen Vereinigung gekrönten Erfolgsgeschichte der wirtschaftlich prosperierenden und politisch siegreichen Demokratie erscheint heute wie Schnee von gestern. Nur scheinbar ging das „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm) so endgültig zu Ende, wie die Rede von einem überwundenen Jahrhundert der Systemkonkurrenz mit der Demokratie als „Überraschungssieger“ (Hans Günter Hockerts) verhieß.
Die Utopie einer friedlichen Ausdehnung der wertebasierten Gesellschaftsordnung westlicher Prägung hat sich als Illusion erwiesen; die 1990 zum Greifen nahe scheinende Ausmusterung nationaler und kultureller Grenzen als überlebtem Ordnungsprinzip ist in der erneuerten Polarisierung der Welt und auch in der Realität einer sich überdies mit schlechtem Gewissen abschottenden Festung Europa zuschanden geworden.
Führungskrise? Vertrauenskrise? Titelschlagzeilen über die amtierende Bundesregierung Ende November 2023. (© bpb / H.Kulick)
Führungskrise? Vertrauenskrise? Titelschlagzeilen über die amtierende Bundesregierung Ende November 2023. (© bpb / H.Kulick)
Statt ihrer stellt eine Kumulierung von Umbrüchen in der Gegenwart die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von der digitalen Revolution bis zur ethnischen Diversifizierung vielleicht stärker als je nach 1945 in Frage. Überall gewinnt die Sorge vor dem Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts an Raum und erscheint das Land bürokratisch gelähmt, wirtschaftlich im Abstieg und kulturell gespalten. Die Frage nach dem Verlust politischer Steuerungskraft lässt sich auf dieser Grundlage zwar empirisch zurückweisen; zugleich aber ist sie selbst Ausdruck des Problems einer Gesellschaft, der die Zukunftsperspektive verlorengegangen ist.
Nachsatz: Der 7. Oktober 2023. Oder: Vom Ende des Universalismus
Auch historisch argumentierende Gegenwartsdiagnosen altern schnell. Nur wenige Wochen, nachdem dieser Essay im Deutschland Archiv erschienen war, erschütterte der heimtückische Überfall der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel und das bestialische Massaker an 1.200 wehrlosen Zivilisten auch die deutsche Gesellschaft in ungeahnter Weise. Das Entsetzen über eine seit dem Holocaust nicht mehr gekannte Vernichtungswut gegenüber einer jüdischen Bevölkerung erzeugte eine Welle staatlicher und gesellschaftlicher Solidarität, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Bundestag in die Worte „Nie wieder ist jetzt“ kleidete.
In ihrer Stärke einigermaßen unerwartet aber erhob sich in der westlichen Welt eine muslimische Gegenbewegung, die nicht den Anschlag der Hamas verurteilte, sondern den folgenden Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen. Von Berlin bis Duisburg, Chemnitz bis Dortmund brachte sie auch in Deutschland ihre antiisraelische Gesinnung mit Parolen wie „From the River to the Sea – Palastine will be free“ zum Ausdruck. Schulen mit hohem Anteil muslimischer Jugendlicher erlebten Sympathiebekundungen für den islamistischen Terror; die Sonnenallee in Neukölln, die mit der Filmkomödie von Leander Haußmann und dem Roman „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ von Thomas Brussig zu einem Inbegriff der Teilung Berlins während des Kalten Krieges geworden war, wandelte sich zu einem „Seismografen für deutsche Befindlichkeiten“
Bestätigt oder relativiert sich im Licht dieser Entwicklung der Befund eines tiefgreifenden Wandels des Politischen in unserer Zeit?
Wieder ist zu konstatieren, dass von einer Krise des politischen Handelns keine Rede sein kann. Israel und seine Verbündeten mit den USA und Deutschland an der Spitze ließen zu keinem Zeitpunkt Zweifel an ihrer Entschiedenheit aufkommen, dem Terroranschlag der Hamas mit allen ihnen zur Verfügung stehenden militärischen und politischen Mitteln zu begegnen.
In Deutschland bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung den bereits von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 zur „deutschen Staatsräson“ erklärten Willen der Bundespolitik, Israels Existenz und Sicherheit zu sichern: „In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz. Den Platz an der Seite Israels.“
Die Bundesregierung kündigte in diesem Zusammenhang „eine klare Kante“ gegen Antisemitismus und Gewaltverherrlichung in Deutschland an; kurz darauf erließ die Bundesinnenministerin ein Betätigungsverbot des der radikal-islamistischen Hamas-Organisation und des palästinenischen Netzwerks Samidoun. Auch die öffentliche Bekundung von Parolen wurde unter Strafe gestellt, die Israels Existenzvernichtung forderten.
Aufkleber an einem Brückengeländer in der Berliner Tucholskystraße im November 2023. (© bpb / Holger Kulick)
Die Unzweideutigkeit der deutschen Haltung trug dazu bei, Gräben zwischen Israel unterstützenden Ländern wie Österreich und Tschechien auf der einen Seite und Israel kritisch gegenüberstehenden Staaten wie Belgien und Spanien auf der anderen zu vertiefen, und sie ruft immer vernehmlicher mahnende Stimmen auf den Plan, die der Bundesregierung einen undifferenzierten Umgang mit dem Antisemitismusvorwurf entgegenhalten.
Wieder zeigt sich, dass nicht der politische Handlungswille, sondern die ihn tragende politische Kultur im Wandel begriffen ist.
Zu beobachten ist hier zunächst ein weiterer Verlust politischen Vertrauens. 76 Prozent der Deutschen beunruhigt der aktuelle Krieg im Nahen Osten stark oder sogar sehr stark
In Deutschland wie in anderen Staaten befindet sich das Vertrauen in die Demokratie auf einem historischen Tiefstand, wie zuletzt in Argentinien die überraschende Wahl des als „Mann mit der Kettensäge“ apostrophierten „Anarchokapitalisten“ Javier Milei und in den Niederlanden der Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders vor Augen führten
Zugleich macht der Überfall der Hamas auf Israel die fortschreitende Zerklüftung westlicher Gesellschaften sichtbarer denn je.
Sie zeigt sich mit verstörender Deutlichkeit im enthemmten Jubel muslimischer Communities auch in der deutschen Einwanderungsgesellschaft über die Untaten der Hamas, der nach dem 7. Oktober selbst ein harmloses Fußballländerspiel zwischen Deutschland und der Türkei im Berliner Olympiastadion in eine kulturelle Kriegserklärung an den Westen verwandelte, wie ein türkischer Beobachter resigniert feststellte.
Nicht weniger tief reicht der politisch-kulturelle Riss innerhalb der tradierten sozialen Milieus der Bundesrepublik, der dem seit über vier Jahrzehnten geltenden Aufarbeitungskonsens ein Ende setzte. In ungeahnter Schärfe sieht sich seit dem 7. Oktober die an keine Bedingung geknüpfte Solidarität mit dem Staat Israel, die sich aus der schamvollen Einsicht in das von Hitler-Deutschland verübte Menschheitsverbrechen begründet, einer besonders unter Jüngeren und in der akademischen Welt verbreitete Haltung gegenüber, die den jüdischen Staat als koloniales Projekt begreift und sich selbst mit der Parteinahme für die palästinensische Sache in die Traditionslinie des antiimperialistischen Kampfes einordnet.
Zwar lief in der deutschen Nachkriegslinke, wie Wolfgang Kraushaar zeigen konnte, immer schon eine allerdings nie dominante antizionistische Strömung mit, die in den Worten Dieter Kunzelmanns die „Vorherrschaft des Judenkomplexes bei allen Fragestellungen“ oder kürzer den „Judenknax“ 1969 nicht anders verspottete als 2023 der türkische Präsident Erdoğan, der die europäischen Staats- und Regierungschefs jüngst zu „Geiseln“ wegen der „Schande des Holocaust“ erklärte.
Doch der Hamas-Überfall vom 7. Oktober und seine Folgen sorgte nicht nur für unerwartete Allianzen zwischen Links und Rechts, sondern brachte vor allem ein Dilemma innerhalb des linken und liberalen Spektrums zum Vorschein, das die hergebrachten Konzepte des Kampfes für die Befreiung der Menschheit aus den Fesseln von Gewalt und Unterdrückung bislang verdeckt hatten: Mit dem Menschenrecht auf ein Leben in Würde des lässt sich die Notwendigkeit zur entschlossenen Selbstverteidigung des Staates Israel, der seit seiner Gründung von Vernichtung bedroht ist, ebenso begründen wie die Empörung über die israelische Diskriminierung und Unterdrückung der 1948 und abermals 2023 aus ihrem vertriebenen Palästinenser.
Hellsichtig notierte ein „Spiegel“-Journalist in diesem Zusammenhang, dass einstige Verständigungscodes des lagerübergreifenden Kampfes gegen Ressentiment und Intoleranz mittlerweile zu identitätspolitischen Diskurswaffen geworden sind, die auf die soziale Existenzvernichtung des jeweiligen Gegenübers im eigenen Lager zielen.
Die Vielzahl der nach dem 7. Oktober gestrichenen Veranstaltungen mit Bezug zu muslimischem Leben und dem Nahostkonflikt bestätigt diesen Befund: Selbst die Bundeszentrale für Politische Bildung sagte ein Symposium zur deutschen Erinnerungskultur und dem Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus ab, denn „in der derzeitigen Situation sehen wir uns nicht in der Lage, diese Debatte konstruktiv zu führen und zu moderieren, um das angestrebte Bildungsziel in einer sachlichen und respektvollen Weise zu erreichen. Zu einem späteren Zeitpunkt stellen wir uns der Debatte nochmals neu“.
Mit dem Verstummen endet die Verständigung, und sie macht dem schweigenden Verharren in der eigenen Position Platz. Es trägt dem Umstand Rechnung, dass Freunde wie Feinde Israels sich in ihren gegensätzlichen Anschauungen gleichermaßen auf die Maximen der Befreiung von Unterdrückung und Willkürherrschaft berufen können, und deutet auf einen Zerfall des gesellschaftlichen Konsenses, der sich durch die publizistisch eingeforderte Beachtung von empathiegetragenen Diskursregeln wie „Mitgefühl zeigen, das Gespräch offen halten, denen, die sich raushalten wollen, ihre Ruhe lassen“ nicht mehr beheben lässt.
Der neuerliche Nahostkrieg nährt nicht nur die resignierende Überzeugung, dass die fortwährende Bekräftigung des alttestamentarischen Racheprinzips jede Hoffnung auf einen Fortschritt in der Lösung der Palästinenserfrage und eine zukünftige Zwei-Staaten-Lösung zunichte macht. Er führt auch zu der Erkenntnis, dass die Idee der universalen Werte eine Fiktion ist: „Die jüdisch-israelische Lebenswelt – insbesondere nach dem 7. Oktober – ist an die Partikularität gebunden“, erklärte der Soziologe Natan Sznaider unter dem Eindruck der Hamas-Angriffs.
Die Zäsur des 7. Oktober 2023 unterstreicht die Annahme, das hinter dem Verlust der politischen Steuerungsfähigkeit nicht ein Versagen der politischen Klasse steckt, sondern ein kultureller Epochenwechsel: Das 1789 mit der Französischen Revolution und 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte so wirkmächtig eingeläutete Zeitalter des Universalismus steht in unserer Zeit im Begriff, mehr und mehr durch das Paradigma eines Partikularismus abgelöst zu werden, der keine gemeinsamen Wertehorizonte mehr kennt.
Zitierweise: Martin Sabrow, "Demokratiestörung? Verliert die Politik an Steuerungskraft?", in: Deutschland Archiv, 24.9.2023, erweitert: 29.11.2023 Link: www.bpb.de/540840. Der Beitrag basiert in seiner ersten Hälfte auf einem Vortrag des Autors auf der 36. Berliner Sommeruniversität an der Freien Universität Berlin am 2.9.2023.
Ergänzend:
- Wilhelm Heitmeyer, Externer Link: Autoritärer Nationalradikalismus
- Externer Link: "Im Osten gibt es eine vererbte Brutalität". Ein Gespräch mit der Autorin Anne Rabe.
- "Externer Link: Hört uns Zu. Wir Ostdeutschen und der Westen". ARD-Reportage mit Jessy Wellmer.
- Externer Link: (K)Einheit. Ein neuer Ost-West-Konflikt? Vier studentische Perspektiven anno 2023
- Externer Link: Drei Jahrzehnte später. Texte aus Schüler*innenzeitungen zur Deutschen Einheit.
- Dörte Grimm, Sabine Michel, Externer Link: "Die anderen Leben. Generationengespräche Ost"
- Wolfgang Templin, Externer Link: "Die neue ostdeutsche Welle"
- Christian Bäucker, Externer Link: Der Film "Heimatkunde" über die Folgen der Schulsystems der DDR.
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Weitere Inhalte
Prof. Dr. Martin Sabrow (geb. 1954) ist ein deutscher Historiker. Er war Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: sabrow@zzf-potsdam.de
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