Aktion, Reaktion und Gegenreaktion im „Schlüsseljahr“ 1952
Westdeutsche DDR-Zuwanderungspolitik in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz
Arne Hoffrichter
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Der Aufsatz beruht auf dem Manuskript eines Vortrags, der vom Autor am 9. November 2022 im Grenzlandmuseum Eichsfeld in Teistungen gehalten wurde.
„Die 650 Kilometer lange Zonengrenze von der Ostsee bis nach Bayern wurde im Rahmen sogenannter Schutzmaßnahmen auf sowjetzonaler Seite durch einen fünf Kilometer tiefen Sperrgürtel in eine echte Staatsgrenze umgewandelt,“ wusste die Hannoversche Presse Ende Mai 1952 zu berichten Obwohl DDR und Bundesrepublik staatsrechtlich bereits 1949 aus der Taufe gehoben worden waren, zeigt der kleine Ausschnitt aus der Berichterstattung doch sehr plakativ, wie man die Grenzsicherung der Ulbricht-Regierung vom 27. Mai 1952 in Westdeutschland aufnahm: Wenn aus einer Zonengrenze eine Staatsgrenze wird, ist dies ein deutliches Indiz dafür, dass sich auch die Existenz von zwei deutschen Staaten in den Köpfen festsetzte – ungeachtet des beiderseits der Grenze weiterhin propagierten Alleinvertretungsanspruchs.
Schon auf den ersten Blick war das Jahr 1952 gespickt mit politisch bedeutungsvollen Vorkommnissen: Neben der militärischen Befestigung der Grenze durch die DDR hatten etwa die Diskussion um die sogenannten Stalinnoten im Frühjahr und der Abschluss des in der Bundesrepublik so bezeichneten Deutschlandvertrages mit den Westalliierten eine große Bedeutung. Speziell für die DDR waren gleichermaßen wichtige Weichenstellungen die 2. SED-Parteikonferenz im Juli 1952 als Auftakt des „planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“, die Aufstellung der Kasernierten Volkspolizei sowie die Abschaffung der föderalen Strukturen:
Aus Ostberlin und den fünf Ländern wurden 14 zentralistisch geführte Bezirke neuen Zuschnitts.
Der zweite Blick auf die genannten Begebenheiten offenbart indes, dass diese sämtlich im Zusammenhang mit der Verfestigung staatlicher Strukturen und der Einbindung beider Teile Deutschlands in den östlichen und westlichen Machtbereich standen. Das „Schlüsseljahr“ 1952 ist mithin einzubetten in die Entstehungsgeschichte der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und den schrittweisen Fortgang der „Doppelten Staatsgründung“ (Christoph Kleßmann) ab etwa 1947. Dies gilt zu weiten Teilen auch für die Abwanderungsbewegung von Ost- nach Westdeutschland. Durch den Mauerbau und die endgültige Abriegelung der DDR-Westgrenze 1961 kam die Massenabwanderung aus der DDR zum Erliegen, die bis dahin einer der sichtbarsten Ausdrücke der Verflechtung beider deutscher Staaten, aber auch der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz war. In besonderer Weise offenbarten sich die temporär unterschiedliche Intensität, aber auch die Hintergründe der innerdeutschen Ost-West-Migration in den Aufnahmeeinrichtungen des Bundes: In den Aufnahmelagern Uelzen-Bohldamm und Gießen – ab 1953 auch Berlin-Marienfelde – wurde die deutsche Spaltung bereits vor der Grenzschließung deutlich sichtbar. Dort wurde gewissermaßen die „Abstimmung mit den Füßen“ ausgezählt.
Allerdings hatten die Ankommenden entsprechend den Normen des Gesetzes über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet, kurz Notaufnahmegesetz, darzulegen, dass sie aufgrund politischer Verfolgung die DDR verlassen hatten. Mit Blick auf das Jahr 1952 stellt sich fast unweigerlich die Frage, welche Bedeutung der Grenzschließung und den anderen Geschehnissen des Jahres für die deutsch-deutsche Migrationsbewegung innewohnte und welche Folgen sie für die Notaufnahmelager hatte, hier dargestellt am Beispiel des Lagers Uelzen-Bohldamm im Norden Niedersachsens.
Das Lager Uelzen und die westdeutsche DDR-Zuwanderungspolitik bis 1952
Das Notaufnahmegesetz war das Ergebnis einer längeren Entwicklung, die sich parallel zur Gründung der Bonner Republik ab etwa 1947 vollzog und die in ihren Anfängen auf das Engste verbunden war mit dem Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm. Dieses war in der britischen Besatzungszone unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Durchgangslager für Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten errichtet worden. Doch mussten sich dort abseits der organisierten Transporte auch diejenigen registrieren lassen, die allein oder in kleineren Gruppen die Demarkationslinie zur Britischen Besatzungszone von Osten her überschritten. Im Frühjahr 1947 waren dies immer weniger Ost-Vertriebene, sondern vielmehr Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) oder solche, die dort für einige Zeit gelebt hatten. Lenkten nach 1961 vor allem die spektakulären, mitunter tragischen Fluchtversuche das öffentliche Interesse auf die Berliner Mauer und den sogenannten Eisernen Vorhang, hatte die Flucht- und Abwanderungsbewegung aus der SBZ beziehungsweise DDR ihren Anfang denkbar unauffällig genommen. Auch die niedersächsischen Flüchtlingsbehörden wurden ein Stück weit von der Veränderung innerhalb der in Uelzen ankommenden Menschengruppen überrascht, obwohl erwartbar war, dass die ab Ende 1946 erkennbaren deutschlandpolitischen Gegensätze von Sowjetunion und Westalliierten nicht folgenlos bleiben würden – stand doch bereits zu diesem Zeitpunkt das autoritäre und rustikale Vorgehen von Sowjetischer Militäradministration und SED bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen im Gegensatz zu den größeren wirtschaftlichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die die US-Amerikaner, Briten und Franzosen den Menschen in Westdeutschland beließen. Exemplarisch für die ostdeutschen Maßnahmen können hier etwa die gewerblichen und landwirtschaftlichen Kollektivierungen sowie die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED genannt werden.
Westlich der Grenze wurden die Menschen aus der SBZ – und auch hier wieder ein Gegensatz zu der Zeit nach dem Mauerbau – keineswegs immer als Flüchtlinge gesehen, sondern häufig als zusätzliche Belastung für die ohnehin stark belasteten Wohnraum- und Nahrungsmittelkapazitäten. Verkürzt gesagt, entsprach die niedersächsische Reaktion einem Abwehrreflex, der auf die Situation in der SBZ rekurrierte und mithin das Grundschema festlegte, welchem alle späteren westdeutschen Regelungen in der SBZ/DDR-Zuwandererfrage folgen sollten. Der Erlass der niedersächsischen Staatskommissarin für das Flüchtlingswesen Martha Fuchs vom 6. Mai 1947 ordnete an, dass im Flüchtlingsdurchgangslager Uelzen-Bohldamm nur noch folgende Personengruppen aufgenommen werden sollten: „[E]chte Flüchtlinge, ehemalige DPs […], entlassene Kriegsgefangene […], politisch Verfolgte, die einen Nachweis hierfür erbringen können[, und] Personen, die im Besitze einer Zuzugsgenehmigung eines Ortes des Landes Niedersachsen sind.“ Zur Begründung und Rechtfertigung ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Landsleuten aus dem anderen Teil Deutschlands führten die niedersächsischen Politikerinnen und Politiker ins Feld, dass ein großer Teil der Ankommenden aus der SBZ „asozial, kriminell und arbeitsscheu“ sei – ein semantischer Dreiklang, der dem NS-Jargon entstammte. Vor allem der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin Heinrich Albertz (SPD) ebnete dieser verunglimpfenden Sichtweise als niedersächsischer Flüchtlingsminister auch auf Bundesebene den Weg. Im Ergebnis knüpfte das Notaufnahmegesetz von 1950 die Aufenthaltserlaubnis ebenfalls an eine Gefährdungs- oder Verfolgungssituation und schränkte damit die durch Artikel 11 des Grundgesetzes eigentlich „allen Deutschen“ garantierte Freizügigkeit für DDR-Bürginnen und -Bürger ein. Das NAG legte in § 1 Absatz 2 entsprechend fest, dass die Erlaubnis für den Verbleib in der Bundesrepublik Personen nicht verweigert werden dürfe, „die wegen einer drohenden Gefahr für Leib und Leben, für die persönliche Freiheit oder aus sonstigen zwingenden Gründen die in Absatz 1 genannten Gebiete [SBZ und Ostberlin; d. Verf.] verlassen mußten“. Das Notaufnahmegesetz war dementsprechend nichts anderes als ein innerdeutsches Asylgesetz, mit dem die junge Bundesrepublik die Zuwanderung aus der DDR steuern und begrenzen wollte. So rigide das Motiv und so strikt der Klang der Normen dem ersten Anschein nach waren, drohte bei Zuwiderhandeln keine wirkliche Sanktion. Denn es wurde niemand in die SBZ oder DDR zurückgeschickt. Die britische Militärregierung hatte sich einem solchen Ansinnen der deutschen Politikerinnen und Politiker mit Verweis auf die sich „sowjetisierenden“ Verhältnisse östlich der Zonengrenze stets verweigert. Der Aufnahmebescheid war damit vor allem im administrativen Sinne von Vorteil für die Zuwandernden, was Wohnraumversorgung und Arbeitsvermittlung anbetraf. Doch abgesehen von dem im Gesetz festgeschriebenen Zweck hatte das Notaufnahmeverfahren zwei weitere Funktionen, die westdeutschen Regierungen und ihren nachgeordneten Behörden von Nutzen waren: Zum einen konnten die Geheimdienste die Zuwanderer und Zuwanderinnen als nicht versiegendes Informationsreservoir nutzen. Zum anderen aber wohnte dem Verfahren eine kaum zu überschätzende Symbolwirkung inne: Konnte die westdeutsche Politik doch mit dem Verweis auf die bloße Notwendigkeit eines Asylrechts für politisch Verfolgte aus dem anderen Teil Deutschlands die eigene moralische Überlegenheit in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz stetig untermauern. Diese „Nebenfunktionen“ avancierten spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre zum Hauptzweck und Grund, das deutsch-deutsche Asylverfahren trotz eines veritablen Arbeitskräftebedarfs im westdeutschen „Wirtschaftswunder“ nicht komplett abzuschaffen.
Die Grenzschließung vom 27. Mai 1952 in der „reaktiven Mechanik“ des Kalten Krieges
Die Erschwernis der Abwanderung aus der DDR war in gleicher Weise nur ein Nebeneffekt der Grenzschließungsmaßnahmen vom 27. Mai 1952. Die DDR errichtete an der Grenze einen Stacheldrahtzaun und legte dahinter einen zehn Meter breiten „Kontrollstreifen“ an, aus dem die Vegetation weitgehend entfernt wurde. Daran schloss sich ein 500 Meter breiter „Schutzstreifen“ an, dessen Betreten grundsätzlich verboten war. Aus der abschließenden, fünf Kilometer breiten „Sperrzone“ wurden schließlich im Rahmen der sogenannten „Aktion Ungeziefer“ unmittelbar alle Personen ausgewiesen, die die DDR-Behörden als politisch „unzuverlässig“ einstuften. Richtete sich der Mauerbau 1961 eindeutig gegen einen weiteren „Braindrain“ gut ausgebildeter Menschen, ist die Grenzschließung einzubetten in den eingangs beschriebenen außenpolitischen Kontext. Sie steht unmittelbar im Zusammenhang mit dem sogenannten Deutschlandvertrag, den die Bundesrepublik einen Tag zuvor am 26. Mai 1952 mit den drei Westalliierten schloss. Der Vertrag gab der Bundesrepublik zumindest in Teilen die staatliche Souveränität zurück. Auch die Wiederbewaffnung im Rahmen der später nicht umgesetzten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wurde mit dem Vertragsschluss ermöglicht. Zweifelsohne war die Grenzschließung einen Tag nach der Vertragsunterzeichnung keine spontane Reaktion von DDR und Sowjetunion, sondern von langer Hand vorbereitet, hatte sich doch die Einbindung der Bundesrepublik in den westlichen Machtbereich bereits langfristig angekündigt. So nimmt auch eine Verordnung, die die Grenzschließung zeitgleich flankierte, direkt Bezug auf den propagandistisch so bezeichneten „Generalkriegsvertrag“ und weist die Verantwortung für die weitere Verfestigung der deutschen Teilung dem Westen zu: „In Befolgung ihrer Kriegspolitik haben die Bonner Regierung und die westlichen Besatzungsmächte an der Demarkationslinie einen strengen Grenz- und Zolldienst eingeführt, um sich von der Deutschen Demokratischen Republik abzugrenzen und dadurch die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.“ Der „reaktiven Mechanik des Kalten Krieges“ folgend musste auf die feierliche Vertragsunterzeichnung fast zwangsweise die öffentlichkeitswirksame Grenzschließung folgen.
Das Lager Uelzen und die „Sperrzonenflüchtlinge“
Im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“ hatten die DDR-Behörden bis Mitte Juni 1952 etwa 8.300 Menschen aus ihrem sozialen Umfeld gerissen und anderweitig angesiedelt. 4.500 sogenannte „Sperrzonenflüchtlinge“ verließen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Grenzschließungsmaßnahmen die DDR. Für viele kam die neue Situation vollkommen überraschend, sodass sie sprichwörtlich „alles stehen und liegen ließen“ und ohne jegliches Gepäck, häufig in Arbeitskleidung, über die sich schließende Grenze nach Westen flohen. Das ostdeutsche Regime maß der spontanen Flucht wenig Bedeutung bei. Teils wurde die Abwanderung der Unzufriedenen sogar als Erleichterung empfunden. Dementgegen fiel die Reaktion in Westdeutschland deutlich aufgeregter aus. Am 18. Juni 1952 beschäftigte sich der Bundestag mit der Grenzschließung und ihren Auswirkungen für die westdeutschen Grenzgebiete, vor allem aber mit den „Sperrzonenflüchtlingen“, für deren lagermäßige Unterbringung schließlich insgesamt 30 Millionen D-Mark bewilligt wurden. In Niedersachsen stand zur Aufnahme neben dem Lager Uelzen-Bohldamm zusätzlich auch das eigentlich für Kriegsheimkehrer sowie Aussiedlerinnen und Aussiedler vorgesehene Lager Friedland zur Verfügung. Bis Mitte Juni 1952 erhielten in beiden Lagern zwischen 1.600 und 2.000 Menschen ihren Aufnahmebescheid – zumeist aus „zwingenden Gründen“. Obwohl Niedersachsen eigentlich nach der bundesweiten Verteilung anhand des „Uelzener Schlüssels“ von Einweisungen befreit war, erklärte sich das Land bereit, „Sperrzonenflüchtlinge“ zu übernehmen. Denn nach Möglichkeit wurde deren Unterbringung in der Nähe des alten Heimatortes angestrebt. Bricht man die „reaktive Mechanik des Kalten Krieges“ auf die innerdeutsche Ebene herunter, ist davon auszugehen, dass bundesdeutsche Politikerinnen und Politiker aus einer gewissen Staatsraison heraus reagierten. Doch ist darüber hinaus auch davon auszugehen, dass die öffentliche Meinung der Politik den Weg einer unbürokratischen Hilfe und Flüchtlingsaufnahme vorzeichnete. Exemplarisch kann hier ein Artikel aus der Wochenzeitung Die Zeit herangezogen werden, der rund zwei Wochen nach der Grenzschließung erschien. Im Telegrammstil informierte der Autor Dieter Beste seine Leserschaft zunächst über die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, die die stärkere Befestigung der deutsch-deutschen Grenze durch die DDR Ende Mai 1952 nach sich gezogen hatte:
„Sämtliche Grenzen zur Bundesrepublik und nach Westberlin sind hermetisch abgeschlossen worden. Trotzdem versuchen zahllose Bewohner der Sowjetzone in die Bundesrepublik zu gelangen. Einer der entscheidenden Gründe für die Flucht sind die Stellungsbefehle für junge Deutsche, die in der Volkspolizei Dienst tun sollen. Die Mehrzahl der in Berlin nach Westen einströmenden Menschen besteht aus jungen Männern. Dort allein sind es bisher täglich über 200. Diesem Ansturm stehen aber westdeutsche Gesetze entgegen, nach denen nur jenen Hilfssuchenden Asyl gewährt wird, die nachweisen können, daß sie für Ihr Leben und ihre Freiheit zu fürchten haben.“
Klingen die ersten Zeilen noch nach einer nüchternen Schilderung des Zeitgeschehens, wird im letzten Satz ein kritischer Unterton vernehmbar. Der Autor nannte nicht nur die Maßnahmen des SED-Regimes in einem Atemzug mit der westdeutschen Asylgesetzgebung für DDR-Zuwanderer, sondern machte das Notaufnahmegesetz zum Hauptzielpunkt seiner Kritik. Unter dem Titel „Grenzen auf!“ hielt er ein engagiertes Plädoyer für eine pragmatische Anwendung der westdeutschen Aufnahmeregeln, wie es schließlich kurz darauf auch geschah.
„Schlupfloch“ Berlin
Der Zeit-Artikel verwies über die Kritik am Notaufnahmeverfahren hinaus noch auf eine weitere Entwicklung, die Folge der Grenzschließung war und die deutsch-deutsche Migration in den Folgejahren bestimmen sollte: die weitgehende Verlagerung der Abwanderung von der ehemaligen Zonengrenze auf die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin, das nunmehr zum „Schlupfloch“ oder gar zu einer „Insel der Hoffnung“ für die Abwanderungswilligen aus Ostdeutschland wurde. Die Absperrung der Grenze war keineswegs so hermetisch, wie der Zeitungsausschnitt glauben machen wollte. Die ehemalige Demarkationslinie war aber auch keine „grüne Grenze“ mehr, deren Überquerung problemlos möglich war. Mit einer Abwanderung über Westberlin hingegen konnte das Risiko einer drohenden Verhaftung zumindest stark verringert werden. Zwar war Westberlin auch schon vor Mai 1952 das Ziel von rund der Hälfte der Abwandernden gewesen. Doch bildete sich ein veritables Missverhältnis erst aufgrund der Grenzsperrung heraus. In der zweiten Jahreshälfte 1952 wurden etwa 90.000 Anträge in Berlin und nur noch rund 20.000 zusammen in Uelzen und Gießen gestellt. Der „Strom“ – so eine häufige zeitgenössische Metapher – wandelte sich mehr und mehr zu einem „Rinnsal“.
Zur Lösung des Problems wurden verschiedene Szenarien durchgespielt, die allerdings jeweils deutliche Schwachpunkte aufwiesen. Einerseits wurde eine Erhöhung der Aufnahmequote im Westberliner Notaufnahmeverfahren ins Spiel gebracht. Aufgenommene konnten, im Gegensatz zu Abgelehnten, im Rahmen der föderalen Verteilungsquoten ausgeflogen werden. Dies hätte die Halbstadt am meisten entlastet, aber die Länder der Bundesrepublik in eine höhere Übernahmeverpflichtung gebracht und das Problem nur verlagert. Auch die zweite Überlegung, Abgelehnte oder ungeprüfte Personen zur Durchführung des Notaufnahmeverfahrens nach Uelzen oder Gießen auszufliegen, wurde schnell wieder verworfen. Aufseiten westdeutscher Politikerinnen und Politiker wog hierbei am schwersten, dass sich weitere Menschen in der DDR ermuntert hätten sehen können, ihre Abwanderungspläne nun in die Tat umzusetzen – zumal eine Rückführung von Abgelehnten ja nicht stattfand. In der Argumentation wurde der Ausflug mit einer vorgezogenen Aufnahmeentscheidung gleichgesetzt. Letztlich hatten auch die Alliierten kein Interesse an dieser Verlegung des Aufnahmeverfahrens, da ihre geheimdienstlichen Apparate in der Halbstadt weitaus besser ausgestattet waren als in Gießen oder Uelzen. Ein Kompromiss sah schließlich Anfang 1953 vor, dass Berlin außerhalb der eigentlichen Verteilungsquote monatlich weitere 10.000 Aufgenommene ins Bundesgebiet ausfliegen durften und so kaum noch DDR-Flüchtlinge in der geteilten Stadt verblieben. Im Februar 1953 wurde schließlich der monatliche Ausflug aus Westberlin auf 30.000 dort Aufgenommene festgesetzt und zeitgleich unter dem Dach des Bundesvertriebenenministeriums eine zentrale Stelle für die Verteilung der Zuwanderinnen und Zuwanderer auf die Länder eingerichtet. Einzig bei jugendlichen Zuwanderern unter 25 Jahren kam es 1953 zu einem Ausflug von gänzlich ungeprüften Personen – anfangs sogar noch inoffiziell.
Nachdem Mitte der 1950er-Jahre das DDR-Regime die Absperrung der deutsch-deutschen Grenze etwas gelockert hatte, überquerte mehr als die Hälfte der Zuwanderer wieder direkt die deutsch-deutsche Grenze zwischen Ostsee und Erzgebirge. Zu einer stärkeren Verlagerung der DDR-Abwanderung nach Westberlin kam es erst wieder ab 1957, als das SED-Regime die „Republikflucht“ und den Versuch zu dieser zu einem Straftatbestand erklärte. Obwohl die Ostberliner Sicherheitskräfte fluchtverdächtige Personen kontrollierten – etwa solche, die mit besonders viel Gepäck reisten –, waren innerhalb der Viermächte-Stadt die Verbindungswege zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt noch vergleichsweise gut passierbar. Im Ergebnis nahm die zahlenmäßige Flüchtlingsbelegung in Westberlin zwar wieder wesentlich zu, belastete die Stadt allerdings deutlich weniger als noch 1952/53. Die Berliner Notaufnahmeeinrichtungen verfügten im Spätsommer 1958 inklusive des 1953 eingeweihten großen Notaufnahmelagers in Berlin-Marienfelde über eine Kapazität von 8.000 Personen. 1953 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass jeder Antragsteller aufgenommen werden müsse, der eine „ausreichende Lebensgrundlage“ in der Bundesrepublik vorweisen könne. Entsprechend lagen die Aufnahmequoten im Westberliner Verfahren mittlerweile konstant bei 90 Prozent. Ein Rückstau von Abgelehnten entstand nicht. Darüber hinaus waren nun auch die Befragungsstellen der Alliierten in den westdeutschen Aufnahmelagern erweitert worden, sodass westdeutsche Politikerinnen und Politiker einen Sofortabflug von nicht-geprüften Zuwanderern weniger kritisch sahen. Dieser Einstellungswandel zeigte sich zuletzt auch darin, dass aus dem Zuwandererabflug aus Berlin kein Geheimnis mehr gemacht wurde. Vielmehr wurde dieser öffentlichkeitswirksam ausgenutzt, um auf die Missstände in Ostdeutschland verweisen zu können. Zu diesem Zweck stattete etwa auch der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer (CDU) den Berliner Flüchtlingslagern einen Besuch ab. Ungeachtet der historischen Dynamik zwischen 1952 und 1958 – erwähnt sei hier nur der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – offenbarte sich in der unterschiedlichen Handhabung des Berlinabflugs abermals die Bedeutung des „Schlüsseljahres“ 1952 für die deutsch-deutsche Binnenmigration. Die überwiegende Verlagerung der Abwanderung in die geteilte Stadt rückte die Problematik in den medialen Fokus der deutschen, wenn nicht gar der Weltöffentlichkeit. War noch vor 1952/53 die Abwehr zusätzlicher Zuwanderung aus der DDR das Hauptziel westdeutscher Politik gewesen, wurden ab 1952 die Nebenfunktionen des Notaufnahmegesetzes zunehmend wichtiger. Die Sogwirkung auf weitere Zuwanderungswillige spielte 1958 kaum noch eine Rolle, die bestmögliche geheimdienstliche Informationsabschöpfung aber sehr wohl. Zuletzt wurde – nahezu umgekehrt proportional – die politische Symbolwirkung des Notaufnahmeverfahrens immer wichtiger. Dies lässt sich auch am Umgang mit dem Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm ablesen. Die in Uelzen Ankommenden aus der DDR, die noch Ende der 1940er-Jahre – gar verleumdet als „asozial, kriminell und arbeitsscheu“ – zu großen Teilen keinen Aufnahmebescheid erhielten, sollten nun einen möglichst günstigen ersten Eindruck von der Bundesrepublik erhalten. So wurde in Bonn ersonnen, die Einrichtung offiziell gar als ein einladendes „Schaufenster zur Bundesrepublik“ herzurichten. Die Grenzschließung vom Mai 1952 war keineswegs der alleinige Grund für diesen Paradigmenwechsel. Doch gab sie den westdeutschen Akteurinnen und Akteuren einen guten Grund von ihrer bisher strikt gehandhabten Zuwanderungspolitik langsam abzurücken und diese den neuen Gegebenheiten anzupassen. Dies wurde durch den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und das erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts im gleichen Jahr noch verstärkt. Entscheidend war aber auch, dass mit der Umwandlung der Demarkationslinie in eine Staatsgrenze der Status Quo in der deutschen Frage fürs Erste geklärt war.
Zitierweise: Arne Hoffrichter, Aktion, Reaktion und Gegenreaktion im „Schlüsseljahr“ 1952 - Westdeutsche DDR-Zuwanderungspolitik in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz, in: Deutschland Archiv Online, 23.11.2022, Link: http://www.bpb.de/515590.
Dr. phil., ist Referent beim Niedersächsischen Landesarchiv in Hannover und wurde mit einer Studie zum Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm (1945-1963) in Göttingen promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hierbei vor allem in der niedersächsischen Landesgeschichte und der deutsch-deutschen Zeitgeschichte.
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