Die Rolle des Staats in der Wahrnehmung der Ostdeutschen
Rainer Eppelmann
/ 8 Minuten zu lesen
Link kopieren
Wie prägend war das Aufwachsen in der totalitär regierten DDR? Wie leicht ist seitdem die Demokratie gefallen? In der Reihe "ungehaltene Reden" des Deutschland Archivs reflektiert der Theologe Rainer Eppelmann, der 1990 den "Demokratischen Aufbruch" in der DDR-Volkskammer vertrat, über den oft fehlenden demokratischen Geist, fair zu streiten und unermüdlich um Kompromisse zu ringen. Am Ziel, so Eppelmann, stehe aber keineswegs eine "Kuschel-Demokratie".
Was ist der Staat? Ist er aus der Sicht der Herrschenden in der Demokratie und in der Diktatur nicht etwas gänzlich anderes? Sicher ist: Die jeweilige politische Weltanschauung bestimmt das Verhältnis zum Staat. Das kann man sehr gut an der Verfassung der DDR sehen, die die SED 1968 durchsetzte. Der Artikel 1 dieser Verfassung verkündete: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.“
Und diese Partei war, wie Sie alle wissen, die SED. Damit hatte sie ihr Machtmonopol auch in der Verfassung verankert. Die Führung der Staatspartei hatte ihrer Diktatur damit einen legalen Anstrich gegeben und einen Staat geformt, in dem sie schalten und walten konnte, wie sie es für richtig hielt. Mein Freund, der Regimekritiker Robert Havemann, sagte später dazu: „Das ist kein Sozialismus, wenn die ungeheure Mehrheit der Menschen vollständig ausgeliefert ist den Entscheidungen einer kleinen, winzigen Gruppe.“
Ich selber habe in meinem Leben, wie Millionen andere Ostdeutsche auch, zwei vollkommen unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Mit der Diktatur – und mit der Demokratie.
Vom Wert und Wesen der Demokratie
Während in einer Diktatur, wie die DDR eine war, die Herrschenden nicht vom Volk abgewählt werden können und ihre politischen Entscheidungen rasch und rücksichtslos durchsetzen, funktioniert die Demokratie ganz anders. Hier muss immer wieder um Mehrheiten gerungen und um Kompromisse gestritten werden. Das dauert natürlich oft länger – ist aber weitaus fairer, da versucht wird, möglichst viele Interessen zu berücksichtigen.
Die Demokratie lebt dabei von unserem andauernden Zutun, unserer Fähigkeit, bei gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen miteinander zu diskutieren und Lösungen zu finden. Die Anerkennung des Anderen in seiner politischen Überzeugung, der Verzicht auf einen eigenen Absolutheitsanspruch, die Offenheit für die Argumentationen anderer und vor allem die Fähigkeit, gemeinsam Kompromisse zu verhandeln und einzugehen – das sind die Spielregeln der Demokratie!
Dabei gilt auch: Die Demokratie unseres Grundgesetzes ist keine „Kuschel-Demokratie“. Sie lebt von der oft leidenschaftlichen Auseinandersetzung und ja, auch von politischem Streit. Natürlich ist das manchmal anstrengend, auch ärgerlich. Aus meiner Zeit als Bundestagsabgeordneter kann ich ein Lied davon singen! Aber aus meinem Leben in der DDR weiß ich auch: In einer Diktatur werden Konflikte überhaupt nicht ausgetragen. Denn in der Unfreiheit einer Diktatur sind die Menschen mundtot gemacht, und die öffentliche Diskussion ist lahmgelegt.
Woher kommt die Demokratie-Skepsis im Osten?
Dennoch ist heute, über 30 Jahre nach der deutschen Einheit, die Skepsis vieler Ostdeutscher gegenüber unserer Demokratie groß. Dies zeigt sich vor allem in der Einstellung gegenüber dem Staat, die eine andere zu sein scheint als im Westen, was auch Umfragen und wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder bestätigen. Ostdeutsche scheinen häufiger die Verantwortung beim Staat und weniger bei sich selbst zu suchen. Auch dann, wenn es darum geht, den persönlichen Wohlstand zu garantieren und den Einzelnen vor den Risiken und Unwägbarkeiten eines offenen und marktwirtschaftlichen Systems zu schützen.
Woran liegt das? Auch hier lohnt der Blick zurück in die Vergangenheit der DDR und auf die Erfahrungen, die wir Menschen im Osten in 40 Jahren Staatssozialismus und SED-Diktatur gemacht haben. Auch wenn nur die Älteren noch eigene Erinnerungen an diese Zeit vor 1989 haben, so werden die Erlebnisse und die daraus resultierenden Einstellungen doch weitergegeben an die kommenden Generationen: in den Familien, den vielen kleinen Geschichten am Küchentisch, in der Verwandtschaft, unter Freunden, Nachbarn und Kollegen. Arbeitslosigkeit und soziale Not existierten in der DDR nicht – zumindest nicht offiziell. Tatsächlich garantierte die SED-Sozialpolitik eine soziale Grundsicherung, die weite Teile der Gesellschaft vor materieller Verelendung schützte. Aus Sicht der SED war die Sozialpolitik dabei von Anfang an vor allem Mittel zum Zweck beim Aufbau ihres Sozialismus. Mit dem Verweis auf soziale Leistungen und Wohltaten wie zum Beispiel Arbeitsplatzsicherheit, Familienförderung, ein kostenloses Gesundheitssystem sowie billige Mieten und Grundnahrungsmittel wollte die SED ihre Untertanen ruhig stellen. Als Gegenleistung für die vermittelte „soziale Sicherheit und Geborgenheit“ erwartete die Staats- und Parteiführung von der Bevölkerung Fügsamkeit.
Subventionen statt Investitionen
Um die für ihre Herrschaft so wichtige Sozialpolitik überhaupt bezahlen und aufrecht erhalten zu können, wurde ein hoher Prozentsatz des Staatshaushal-tes der DDR verdeckt oder offen für Subventionsleistungen verwendet. Die SED-Machthaber subventionierten von billigen Mieten und Grundnahrungsmitteln über Fahrkarten bis hin zu Millionen Arbeitsplätzen so ziemlich alles.
All dies aber war mit der ineffektiven DDR-Planwirtschaft auf Dauer nicht bezahlbar. Die besonders nach dem Amtsantritt Erich Honeckers 1971 überbordenden Sozialausgaben verschlangen einen immer größer werdenden Anteil der Wirtschaftskraft. In der Folge mussten so die Investitionen in anderen Bereichen der Volkswirtschaft immer weiter abgesenkt werden. Das Geld wurde so fast ausschließlich für Subventionen ausgegeben, anstatt für Investitionen in wirtschaftliches Wachstum, Innovation, Wohlstand, aber auch Instandhaltung und Werterhalt von Straßen, Häusern und Wohnungen. Die Folgen dieser Politik sind bekannt: 1989 waren die Innenstädte in der DDR verfallen, die Infrastruktur völlig marode, die Industrie hoffnungslos veraltet und die Umwelt kaputt.
Aber nicht nur die Erfahrungen mit der sozialen Seite des sogenannten „Arbeiter- und Bauernstaates“ prägen viele Ostdeutsche und ihre Einstellungen bis heute. Vergessen wir nicht: Das Leben in der DDR war zuallererst ein Leben hinter der Mauer, ein Leben in der Unfreiheit der kommunistischen Diktatur und ihres totalitären Anspruches. Die Menschen in der SED-Diktatur waren eingebettet in einen Alltag, der bestimmt war durch staatliche Regelungen, auf die sie nahezu keinen Einfluss nehmen konnten, und die in jeden Lebensbereich hineinwirkten.
Von der Wiege bis zur Bahre - Alltagssteuerung in der DDR, beengernd und verwöhnend zugleich
Von der Wiege bis zur Bahre wurden alle Lebenschancen von der SED verteilt. Die absolute Verfügungsgewalt der kommunistischen Staatspartei über Ausbildungs- und Studienplätze, Arbeitsplätze und berufliches Fortkommen, Wohnungen und selbst über den Bezug knapper Konsumgüter schuf einen beträchtlichen Anpassungsdruck unter den Menschen. Wo dieser nicht ausreichte und sich oppositionelles Verhalten bildete, wenn jemand im Widerspruch zu den staatlichen Interessen Reise- und Meinungsfreiheit oder individuelle Entfaltungsmöglichkeiten einforderte, so sah er oder sie sich einem massiven staatlichen Druck ausgesetzt und wurde in vielen Fällen sogar kriminalisiert und eingesperrt.
Eigeninitiative und selbstständiges Handeln wurden von den Menschen in diesem System nur wenig gefordert und schon gar nicht gefördert. Die einzelnen Menschen waren unmündig gemacht, es zählte nur das Kollektiv! Das Leben verlief so im Großen und Ganzen in vorgegebenen Bahnen, mit wenigen Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen. Die Zukunft schien für jedermann und jede Frau weitestgehend vorhersehbar und planbar.
Und heute? Auf Distanz zu einem allgegenwärtigen Staat - von dem zugleich viel erwartet wird
Viele Ostdeutsche haben aus diesen Gründen auch im heutigen, vereinten Deutschland eine andere Wahrnehmung des Staates. Sie sind mit einem Staat sozialisiert worden, der allgegenwärtig und für alles verantwortlich war. Das prägt paradoxerweise in beide Richtungen: Zum einen ist man echter oder vermeintlicher staatlicher Bevormundung gegenüber besonders wachsam und kritisch – das alte Leben in der Diktatur, das in der Friedlichen Revolution 1989 überwunden wurde, will schließlich niemand ernsthaft zurück.
Auf der anderen Seite aber hat so mancher besonders hohe Erwartungen an den Staat: Er soll für auskömmliche und sozial gesicherte Lebensstandards sorgen, für Sicherheit und Wohlbefinden, für Schutz vor der Welt hinter dem Horizont und vor gefühlten Bedrohungen an unseren Grenzen.
Besonders das aus der DDR gekannte Sicherheitsgefühl wurde dabei von den ab 1990 stattfindenden gesellschaftlichen Umwälzungen zutiefst erschüttert: Die zunächst grassierende Massenarbeitslosigkeit, der plötzliche Wegfall des sozialen Umfeldes in den Betrieben; die Massenabwanderungen vor allem junger Leute und der Wegfall von Subventionen, die beide dazu führten, dass bald ganze Landstriche ins Abseits gerieten, dass plötzlich kein Bus mehr fuhr und der nächste Arzt 20 Kilometer entfernt war. Der Staat, eben noch der Adressat weitgespannter Erwartungen, wurde nun für viele zu einer zentralen Sammelstelle für Unzufriedenheit und Enttäuschung.
Wir selbst sind gefragt
Ich denke, dass es heute im vereinten Deutschland unsere Aufgabe sein muss, den Menschen, die sich abgehängt, übergangen und zum Teil auch bedroht fühlen, davon zu überzeugen, dass sie ihre Lebensumstände, anders als in der DDR, mitbestimmen können, aber auch müssen!
Die Kraft, positive Veränderungen zu bewirken, liegt in der Demokratie in unseren eigenen Händen und nicht in den Händen von „denen da oben“. Die Zukunft unseres Landes, unserer Städte und Dörfer haben wir als Bürgerinnen und Bürger mitzubestimmen; an uns selbst liegt es, vernünftige Entscheidungen zu treffen und vor Ort anzupacken.
Der Staat kann dafür die Rahmenbedingungen schaffen, die es den Bürgerinnen und Bürgern vor allem in den benach-teiligten Regionen ermöglicht, ihre sozialen Strukturen vor Ort zu stärken und sich wieder stärker miteinander zu verbinden. Das alles braucht aber Zeit, unseren Mut und unsere Bereitschaft, sich persönlich einzubringen. Wenn nicht alle machen sollen, was der „Chef“ vorgibt, sondern sich möglichst viele bei der Kompromisssuche einbringen sollen, dann braucht das mehr, manchmal auch viel mehr Zeit als in einer Diktatur!
Aber nur in einem lebendigen demokratischen Gemeinwesen können sich die Menschen mit ihrer gemeinsamen Geschichte auseinandersetzen, Neues aufbauen, sich frei entfalten und die Lebenschancen, die ihnen die Gegenwart bietet, beherzt ergreifen. Im eigenen Interesse:
Geben wir uns diese Zeit, mischen wir uns ein!
Zitierweise: Rainer Eppelmann, "Ein urdemokratischer Impuls, der bis ins Heute reicht“, in: Deutschland Archiv, 07.10.2020, Link: www.bpb.de/316674. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Rainer Eppelmann war 1974-89 Hilfsprediger bzw. Pfarrer in der Berliner Samaritergemeinde, zugleich Kreis- Jugendpfarrer in Berlin-Friedrichshain; er organisierte innerkirchlich umstrittenen Bluesmessen und andere Veranstaltungen der kirchlichen Jugendarbeit. Im September 1989 war er Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch (DA), ab Dezember 1989 war er DA-Vertreter am Zentralen Runden Tisch der DDR; im Februar 1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich in der zweiten Regierung Hans Modrow; ab März Vorsitzender des DA; Abgeordneter der Volkskammer in der Fraktion CDU/DA; ab April Minister für Abrüstung und Verteidigung in der Regierung Lothar de Maizière. Seit 1990 ist er Mitglied der CDU,1990-2005 Abgeordneter des Deutschen Bundestags; 1992-98 war er Vorsitzender der Enquete- Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", anschließend der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" des Deutschen Bundestags, seit 1998 Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; 1994-2001 Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft in der CDU; 1995-2002 Mitglied des Bundesvorstands der CDU; 1996-2000 Mitglied des Präsidiums der CDU.