Föderalismus und Subsidiarität
Frühe Wurzeln des föderalen Verfassungsstaats
Christiane Bender Hans Graßl
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Eine Zeitreise durch Deutschlands Demokratiegeschichte. Von der Emder Synode 1571 und dem Geist des reformierten Protestantismus bis zum Grundgesetz des Vereinigten Deutschlands: Impulse auf dem umkämpften Weg der Staatenbildung in Europa zu einer föderal-subsidiären Gewaltenteilung.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind subsidiäre und föderale Rechte verankert. Sie gewährleisten die Partizipation der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Gemeinschaften an der Macht in Gesellschaft und Staat.
Ein früher Impuls dazu, der nicht vernachlässigt werden darf, kam von Religionsflüchtlingen, die der Föderaltheologie Johannes Calvins anhingen. Sie verteidigten ihre selbstbestimmte Glaubenspraxis zunächst im Untergrund. Daher wird hier auch an die Emder Synode 1571 erinnert, auf der sie Grundsätze derExterner Link: Subsidiarität beschlossen haben, die verknappt besagt, "dass der Staat im Verhältnis zur Gesellschaft nicht mehr, aber auch nicht weniger tun soll, als Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten".
Wie ging die Geschichte in Preußen weiter, dessen Herrscher zwar dem reformierten Glauben folgten und Flüchtlinge ins Land holten, aber föderalistischen Ideen strotzten? Und wie veränderte sich Preußen mit zunehmendem Machtgewinn? Warum gelang mit dem Grundgesetz ein demokratischer Neubeginn und mit dem Beitritt der neuen Länder die Wiedervereinigung? Es wird gezeigt, dass der Verlauf der deutsch-deutschen Geschichte vom Ringen um die föderale und subsidiäre Gewaltenteilung gegenüber zentralistischer Machtpolitik geprägt ist.
Gliederung:
I. Einleitung und Überblick: Die subsidiär-föderale Demokratie im Grundgesetz
II. Glaubensfreiheit im Exil – Anliegen der reformierten Flüchtlinge (1571)
1. Johannes Calvin, Reformator und Föderaltheologe
2. Emden und der synodale Weg
3. Synodale Beschlüsse - Grundsätze der Subsidiarität
4. Johannes Althusius, Klassiker des Föderalismus aus Emden
5. Einflüsse des reformierten Protestantismus auf die Gründung von Staaten
III. Anfänge der brandenburgisch-preußischen Tradition des reformierten Glaubens (1613) und der „Toleranz von oben“
1. Konversion des Kurfürsten und Beginn eines folgenreichen Sonderwegs
2. Preußens Machtzuwachs und Vereinheitlichung von protestantischen Gemeindeordnungen gegen Widerstände
3. Zusammenbruch der Föderalordnung des „alten“ Reichs und Preußens Aufstieg
IV. Subsidiäre Organisationen, föderale Institutionen und zentralisierte Machtpolitik (1871 – 1918)
1. Zweikammersystem des Deutschen Reichs
2. Nicht-beabsichtigte Folgen von Bismarcks Kulturkampf
3. Ein Treibhaus von Vereinen und Verbänden
V. Langersehnte demokratische Verfassung (1919 – 1933) und ihr brutales Ende (1933 – 1945)
1. Weimarer Verfassung und das Ende der Staatskirche
2. Tradition der Emder Synode während der Diktatur
VI. Schicksal zweier Systeme (1949 – 1990) - die subsidiär-föderalistische Demokratie und die zentralistische Diktatur
1. Länderregierungen – Akteure des Neubeginns
2. Das Grundgesetz: ein großer Wurf in der deutschen Geschichte
3. Tragik der Teilung
4. Föderal-subsidiäre Gesellschaft der „alten“ Bundesrepublik bis heute
5. Zentralistische Machtpolitik der SED und die „protestantische Revolution“
VII. Ausblick: Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik (1990) - Ende gut, alles gut?
I. Einleitung und Überblick: Die subsidiär-föderale Demokratie des Grundgesetzes
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Der Art. 20 (1) des Grundgesetzes bringt die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien zum Ausdruck, auf denen Deutschland beruht: Demokratie, Sozialstaat und Bundesstaat. Der herausragende Stellenwert des föderalen Prinzips wird durch das Verbot in Art. 79 (3) GG betont, eine „Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden“ vorzunehmen.
Im wiedervereinten Deutschland prägen Föderalismus (lat. foedus – Bund) und mit ihm verknüpfte Grundsätze der Subsidiarität (lat. subsidium – Unterstützung, Hilfe) auf selbstverständliche Weise die vertikale Gewaltenteilung und Vielgliedrigkeit der Politik. Ein Durchregieren „von oben nach unten“ wird dadurch verhindert. Die Bürger und Bürgerinnen verwirklichen als Wähler und Wählerinnen ihren Willen in der Ausrichtung der Politik in den Kommunen, den Ländern und im Bund. Sie gestalten ihre Lebenswelt durch selbstbestimmtes engagiertes Handeln und Mitgliedschaft in bürgernahen Organisationen (wie Stiftungen, Vereinen, Verbänden, Parteien). Vielfalt und Pluralität von Traditionen und neuen regionalen, religiösen, sozialen und politischen Initiativen sind augenfällige Merkmale einer föderal und subsidiär gegliederten Gesellschaft. Was heutzutage selbstverständlich erscheint, war es lange nicht. Die Rechte von Gemeinschaften auf ihre Selbstbestimmung wurden in schweren Kämpfen errungen. Dies zeigte sich bereits in den Konfessionskriegen der Frühen Neuzeit. Im ostfriesischen Emden dokumentierten Geflüchtete, die sich für die Lehre des reformierten Protestantismus entschieden hatten, auf einer Synode im Jahr 1571, dass sie ihre gemeinsame Glaubenspraxis auch im Untergrund nicht aufzugeben gewillt waren. Sie beschlossen eine von ihren Gemeinden her aufbauende kirchliche Ordnung und stärkten ihren Zusammenhalt gegenüber der repressiven Obrigkeit. Zu ihren Beschlüssen gehörten zentrale Grundsätze der Subsidiarität, die bis heute bürgernahe Einrichtungen ausmachen.
Mehr als vierhundert Jahre später begehrten Bürger und Bürgerinnen gegen den zentralistischen SED-Staat der DDR auf, der sie bevormundete und ihnen grundlegende Freiheitsrechte verweigerte. Mit ihrer friedlichen Revolution 1989 schufen sie die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands. Mit dem Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wurden die föderalen und subsidiären Rechte wiederhergestellt. Damit erhielten die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen DDR die Möglichkeit, sich Parteien, Verbände, Kirchen, Vereine oder Genossenschaften im Sinne ihrer eigenen Interessen wiederanzueignen und neue Initiativen zu gründen, ohne durch staatliche Überwachung die Gefährdung der eigenen Existenz fürchten zu müssen.
So unterschiedlich die genannten Ereignisse auch sein mögen, so eint sie eines doch: das Eintreten von Bevölkerungen, die sich als zusammengehörend definieren, für ihre Selbstbestimmung und für föderal-subsidiäre Grundsätze des Zusammenlebens. Diese Grundsätze, das wird im Folgenden deutlich, beruhen auf tieferliegenden Entwicklungspfaden in der deutsch-deutschen Geschichte und prägen sinn- und identitätsstiftend das kollektive Gedächtnis der Bürger und Bürgerinnen.
Die Staatenbildung "von unten" vollzog sich nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika aus einem Zusammenschluss von einzelnen mehr oder weniger selbständigen Einheiten. Aus dem Selbstverständnis der Bevölkerungen dieser Gesellschaften sind Föderalismus und subsidiäre Grundsätze nicht wegzudenken.
II. Glaubensfreiheit im Exil bewahren – Anliegen der reformierten Flüchtlinge (1571)
1. Johannes Calvin, Reformator und Föderaltheologe
Die Renaissance antiker Bildungsideale, der Humanismus sowie protestantische Strömungen führten in der Frühen Neuzeit (1450–1650) zu einem Wandel im Selbstbewusstsein der Menschen gegenüber ihrer Obrigkeit. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, einem lockeren föderalen Staatenbund mit geringer zentraler Steuerungskraft, diente der Katholizismus als umfassende Weltanschauung zur Festigung der aristokratisch-monarchischen Ordnung. Mit dem Aufkommen des Protestantismus drohte jedoch das Reich an der Glaubensspaltung zu zerbrechen.
Eine vorläufige Lösung bot der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden von 1555. Zwar wurde der lutherische Protestantismus anerkannt, aber die damals bereits geforderte Religionsfreiheit wurde nicht in die Reichsverfassung aufgenommen, sondern lediglich das Recht des Landesherrn, die Religionszugehörigkeit auf dem von ihm beherrschten Territorium durchzusetzen. Der reformierte Protestantismus von Johannes Calvin fand in dieser Kompromissformel, die zur politischen Beherrschung der religiösen Sitten beitrug, keine Berücksichtigung. Wer nicht zur Anpassung bereit war, musste das Land verlassen, wurde getötet oder gewaltsam vertrieben.
Johannes Calvin (1509–1564) kritisierte von Paris und Genf aus scharf die Politik der religiösen und weltlichen Mächte. Er und seine Anhänger strebten eine zweite Reformation an. Sie kritisierten die Macht des Klerus in der Kirche und der Landesherren, den Glauben ihrer Bevölkerungen zu bestimmen. In Schriften und Predigten gingen Calvin und seine Anhänger von einer Föderaltheologie aus, zentriert um den Gedanken des Bündnisses. Nach der Überlieferung des Alten Testaments hat Gott mit dem Volk Israel ein Bündnis geschlossen, das in der Botschaft des Neuen Testaments auf die Menschheit insgesamt übertragen wurde. Vor Gott sind alle Menschen gleichgestellt, ihre Prädestination und ihr Heil hängen allein von Gottes Gnaden ab.
Die Kirchenordnung darf hiervon nicht abweichen: Der Gedanke der Gleichheit wird auf die Gleichrangigkeit aller Gläubigen in ihren Gemeinden und auf die Stellung der Gemeinden untereinander in der Gesamtkirche übertragen. Größere Kirchenorganisationen sollten aus einem Bündnis zwischen Gemeinden hervorgehen. Die Inhaber kirchlicher Ämter und die Repräsentanten in übergeordneten Gremien sollten aus den Reihen der Gemeindemitglieder auf Zeit abgeordnet werden.
Das calvinistische Programm des engagierten Gemeindelebens als Basis der Kirche, die gemeinsame Bibellektüre und die weitgehend selbst zu organisierende und zu verantwortende Glaubenspraxis trugen zu einer starken Bildungsaffinität der Gläubigen bei. Sie qualifizierten sich durch ihr verantwortungsvolles Engagement und die Übernahme von Funktionen im Presbyterium (altgriech.-lat. – Rat der Ältesten), dem Leitungsgremium der Gemeinde. Hinzu kam eine strenge Ethik der Pflichtenerfüllung und Bewährung in der Arbeits- und Berufswelt, die bei den Gläubigen den Ehrgeiz entfachte, im Diesseits erfolgreich zu wirtschaften. Dieses Verhalten brachte den zumeist fachlich gut ausgebildeten Anhängern Calvins erhebliche Wohlstandsgewinne ein, um die sie in ihrer Umgebung häufig beneidet wurden.
2. Emden und der synodale Weg
Mit unerbittlicher Gewalt bekämpften die katholischen Zentralmächte den reformierten Protestantismus. In Frankreich wurden die Hugenotten, die französischen Anhänger Calvins, verfolgt und vertrieben. In der Pariser Bartholomäusnacht am 24. August 1572 fielen sie einem blutigen Pogrom zum Opfer. Philipp II., der habsburgische König von Spanien, verbot in seinem niederländischen Herrschaftsgebiet die Ausübung des reformierten Glaubens und zwang der Bevölkerung das katholische Glaubensbekenntnis auf. Dagegen organisierte Willem von Oranien bewaffneten Widerstand. Nach seiner Niederlage flohen die Anhänger Calvins vor den Spaniern aus den Niederlanden nach London, Ostfriesland, Hessen, ins Rheinland und in die Pfalz.
Emden, an der ostfriesischen Peripherie des Reiches gelegen, wurde von einer Geschichte des Ringens um kommunale Selbstbestimmung gegen feudale Bevormundung geprägt. Die dort praktizierte religiöse Toleranz ermöglichte es geflohenen Anhängern Calvins, sich niederzulassen. Von Zeitgenossen als „Genf des Nordens“ bezeichnet, entwickelte sich die Stadt zu einem reformatorischen Zentrum. Die Geflüchteten, darunter viele Handwerker und Kaufleute, bescherten Emden den Aufschwung zu einer der damals führenden Seehandelsstädte Nordeuropas. Auf der im Geheimen stattfindenden Synode (altgriech. – Zusammentreffen, Versammlung) wurden Grundsätze einer kirchlichen Ordnung mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Impulsen formuliert.
Das Anliegen der Emder Synode bestand darin, den Zusammenhalt der Geflüchteten im Exil durch eine gemeinsame Kirchenordnung zu stärken, die sie nach Rückkehr in ihre Heimat mitnahmen. Das Einladungsschreiben erfolgte aus Heidelberg, einem zeitweiligen Mittelpunkt des reformierten Glaubens. Nach vergeblichem Warten auf Abgeordnete aus England begann die Synode am 4. Oktober und endete am 13. Oktober 1571. Die überlieferten Unterschriften unter ihren Beschlüssen bezeugen 29 gewählte Vertreter aus Exil-Gemeinden und den im Verborgenen existierenden niederländischen „Gemeinden unter dem Kreuz“. Mit Emmerich, Wesel, Köln und Aachen waren Gemeinden aus dem Rheinland (7 Anwesende) vertreten sowie Frankenthal und Heidelberg aus der unteren Pfalz.
3. Synodale Beschlüsse - Grundsätze der Subsidiarität
Entstanden ist eine frühe Beschlussfassung über subsidiäre Grundsätze einer dreistufigen Kirchenordnung aus Gemeinden, Classes und Synoden, die das selbstbestimmte und -verantwortete Handeln der Gemeinde auch unter schwierigen Bedingungen absicherte:
A. Der Grundsatz der Gleichheit und des Verbots von Hierarchien:
„Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen.“ Alle Gemeinden werden einander gleichgestellt. Zwischen ihren Funktionsträgern (Pastoren, Älteste, Diakonen) im Presbyterium der Gemeinde besteht kein Herrschaftsverhältnis: Sie sollen einander weder über- noch untergeordnet werden, da ihre Tätigkeiten gleichrangig und gemeinsam dem Wohl der Gemeinde dienen. Innerhalb der Einheit der Kirche ist die Bildung von Hierarchien dadurch weitgehend zu vermeiden, dass alle Gemeinden durch Abordnungen aus ihren Reihen an der Zusammensetzung von Synoden als übergreifenden Gremien beteiligt werden und somit deren Beschlüsse bestimmen.
Größeren Gemeinden und ihren Amtsträgern wird verboten, Herrschaft über kleinere Gemeinden und deren Personal auszuüben. Machtkämpfen wird der Boden entzogen, indem die Einnahme von Positionen auf Zeit erfolgt. Konsistorien (lat. – kollegiale Versammlungen) auf kommunaler Ebene helfen bei der Suche von Lösungen.
B. Der Grundsatz des Vorrangs der Gemeinden, des dreigliedrigen Kirchaufbaus und der Machtbegrenzung der umfassenderen Glieder wie Synoden:
In den Beschlüssen wird eine dreistufige Ordnung entwickelt. Für die Gestaltung des Kirchenlebens vor Ort sollen allein die Gemeinden zuständig sein. Viele der synodalen Beschlüsse bestehen daher aus pragmatischen Empfehlungen unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten. Sogar in der Verwendung des geeigneten (Genfer oder Heidelberger) Katechismus wird Spielraum gelassen. Es obliegt den Gemeinden, über den Ablauf ihrer Glaubenspraxis weitgehend selbst zu entscheiden, zumal unter den schwierigen Bedingungen des Exils.
Ausgehend von den Gemeinden mit ihren möglichst wöchentlich stattfindenden Sitzungen sind alle drei oder sechs Monate Zusammenkünfte mehrerer Gemeinden zu einer Classis (nächsthöhere Ebene) vorgesehen. Die Einrichtung einer Classis, einer Versammlung von mehreren Gemeinden, zur Unterstützung, Beratung und Lösung der Probleme, die einzelne Gemeinden alleine nicht lösen können, ist typisch für die Ordnung in reformierten Kirchen. Classes sind basisnahe Netzwerke gemeindenaher Selbsthilfe und Selbstbestimmung. Sie festigen die Solidarität der Gemeinden untereinander. Lösungsvorschläge und Unterstützungsangebote der Classis werden anschließend den Konsistorien der Gemeinden vorgelegt. Jede Gemeinde befindet über Annahme und Umsetzung der Vorschläge. Außerdem wählen die Classes geeignete Pastoren aus, über deren Akzeptanz ebenfalls die einzelnen Gemeinden entscheiden.
Die höhere Ebene bilden die Provinz- und Generalsynoden, eine Art parlamentarischer Gremien: „Wer zur Provinzsynode entsandt wird, soll ein Bestätigungsschreiben und die vorzulegenden Fragen in schriftlicher Form mitbringen. Dabei wird nur das aufgeschrieben, was in den Konsistorien und Versammlungen der Classes nicht entschieden werden konnte oder was alle Gemeinden der Provinz angeht.“ Die Gemeinden entsenden die Teilnehmer zu den Synoden mit einem klaren Auftrag, dessen Lösung die Verantwortlichkeit und Fähigkeit der Gemeinde selbst übersteigt oder der von Belang für alle Kirchenmitglieder ist. Nur in diesen Fällen darf die Synode Stellung nehmen. Die Synode als höheres Gremium begrenzt somit ihre Zuständigkeit gegenüber den Classes und Gemeinden.
Das galt auch für die Emder Synode selbst: Zwar übte sie ihre Macht aus, eine verbindliche Kirchenordnung zu erlassen, zugleich aber schränkt sie die Macht künftiger Synoden ein, indem sie das Recht und die Pflicht der in ihr vertretenen Gemeinden zum Ausdruck bringt, ihre Angelegenheiten selbst zu bestimmen, ja bestimmen zu müssen. Das Recht zur Selbstbestimmung geht mit der Pflicht dazu einher.
C. Grundsatz der Selbstkonstitution einer (äußeren) Kirche:
Die Emder Synode stellt einen Akt der Selbstkonstitution des Aufbaus einer Kirche dar. Ihre Ausrichtung erfolgte aus den Initiativen der geflüchteten Gläubigen, ohne Zugeständnisse an die politische Situation der Zeit. Eine Einmischung durch staatliche Herrschaft war unerwünscht und sollte verhindert werden. Die zweite Reformation fand demnach nicht „von oben“, durchgesetzt vom Landesherrn statt, sondern durch „freie Entscheidungen der Gemeinden“. Sie unterschied sich damit von der sich im Zuge der Staatenentwicklung zentralisierenden katholischen Weltkirche und der evangelisch-lutherischen Kirche, in der die oberste Leitung der Kirche aufgrund des Landesherrlichen Kirchenrechts durch den Landesherrn als Bischof (summus episkopus) bis zur Beendigung der Existenz einer Staatskirche durch die Weimarer Verfassung (1919) ausgeübt wurde. Erst die Weimarer Verfassung (1919) hob die Existenz einer Staatskirche auf.
Basisdemokratische presbyterial-synodale Ordnungen in der Tradition der Emder Synode zeichnen die Niederländisch-Reformierte Kirche und viele weltweit verstreute reformierte Kirchen bis heute aus. Jülich, Mark, Kleve – zugehörig zu der in Emden gegründeten Weseler Classis – und Berg betrachteten die dort gefassten Beschlüsse als bindend. 1610 fand die Duisburger Generalsynode im Geist von Emden statt und gründete, unabhängig von der niederländischen Kirche, einen eigenen Synodenverband und damit eine seit der Frühen Neuzeit bis heute währende Kirchenverfassungstradition am Niederrhein.
4. Johannes Althusius – Klassischer Theoretiker des Föderalismus
Was die Emder Synode mit dem Erlass einer Kirchenordnung für den Zusammenschluss der Geflüchtetengemeinden vollbrachte, verallgemeinerte der Staatstheoretiker und Emdener Syndikus Johannes Althusius (1563–1638) in seiner Theorie vom Ursprung der Souveränität. Er knüpft an Calvins Lehre vom kirchlichen Aufbau aus den Bündnissen zwischen Gemeinden an und verallgemeinert die Konzeption der Subsidiarität über den religiösen Kontext hinaus auf die politische Ebene einer föderalistischen Souveränitätslehre. Jean Bodin (1529 oder 1530–1596), Staatstheoretiker des französischen Absolutismus, war sein Widersacher. Dieser billigte ausschließlich dem Monarchen die Souveränität im Staat zu.
Nach Althusius geht alles menschliche Leben auf eine ursprüngliche Notwendigkeit und Befähigung der Menschen zur „Symbiose“, zur Lebensgemeinschaft mit anderen (lat. consociato) zurück. Sie lernen, Verantwortung für sich und andere zu tragen. Souveränität erwächst aus solchen elementaren Gemeinschaften. Die Macht der höheren Gebilde (wie Staaten und Staatenbünde) setzt sich aus der Repräsentation und Delegation der „Macht von unten“ zusammen. Als Kritiker der absolutistischen Staatsgewalt forderte Althusius, dass die höchste politische Macht (lat. maiestas) unübertragbar und unteilbar beim Volk liegen solle. „Als Verwalter, Statthalter und Lenker der Rechte der Souveränität erkenne ich den Herrscher an. Als Eigentümer und Nutznießer der Souveränität aber keinen anderen als das gesamte Volk, das aus mehreren kleineren Gemeinschaften zu einem symbiotischen Körper vereinigt ist.“ Ausdrücklich befürwortet er das Widerstandsrecht gegen einen Herrscher, der die ihm anvertraute Macht missbraucht.
Im Jahr 1604 wurde Althusius, der an der Hohen Schule Herborn – einer der damals wichtigsten calvinistischen Bildungseinrichtungen in Europa – gelehrt hatte, zum Syndikus des Rats nach Emden berufen und setzte sich für Emdens städtische Autonomie ein. Dort starb er 1638. In der „Politica Methodice Digesta“ von 1614 verarbeitete er seine Emder Erfahrungen. Das Werk avancierte weltweit zum Klassiker.
Aus Emden verbreiteten sich subsidiäre und föderale Ideen: mit den Synodalbeschlüssen die Impulse zu einer freien, nicht aufoktroyierten Kirchenordnung und mit Althusius` "Politica° zu einer nicht-zentral, sondern vom Volk ausgeübten staatlichen Souveränität, die aus miteinander verbundenen Gemeinschaften erwächst.
5. Einflüsse des reformierten Protestantismus auf die Gründung von Staaten
Die Auswanderer, die dem reformierten Protestantismus mit seinen föderal-subsidiären Grundsätzen anhingen, prägten die Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Die aus Mittelengland und aus Leiden aufbrechenden "Pilgrim Fathers" der "Mayflower" (1620) waren als Anhänger Calvins erfahren in Religionskämpfen und mit den presbyterial-synodalen Gedanken und Schriften vertraut. Zentrale Grundsätze ihres bereits auf See geschlossenen Bündnisses, in dem sie sich selbst zu einer auf Gleichheit und Gemeinwohl beruhenden Gemeinschaft (später oftmals als frühe Verfassung oder Vertrag bezeichnet) verpflichteten, entsprechen den synodalen Texten aus Paris, Edinburgh, Wesel, Emden und Dordrecht. Sie finden sich ebenso in den Gründungstexten vieler Kolonien wieder.
Die Grundsätze der Emder Synode, der Vorrang der unteren und die Begrenzung der Macht der höheren Gemeinschaften, sind nicht nur im amerikanischen Selbstverständnis fest verankert, sondern bilden den roten Faden der Verfassungsgeschichte mit dem auf sie aufbauenden Institutionengefüge ihres Zweikammersystems (Senat und Repräsentantenhaus).
In keinem Verfassungsorgan wird der Gleichheitsgrundsatz und die Lehre von Althusius so deutlich wie im US-Senat. Unabhängig von der Bevölkerungszahl wird dort jeder Einzelstaat durch Senatoren/Senatorinnen repräsentiert. Delaware ist also mit weniger als einer Million Einwohnern genauso stark im Senat vertreten wie Kalifornien mit 39,5 Millionen Einwohnern. Althusius` "Politica" ist nach wie vor in den USA ein Standardwerk.
Der Einfluss föderal-subsidiärer Ideen nahm in der europäischen und der deutschen Geschichte zu. Der Westfälische Friede (1648) beendete die „heißen“ Religionskriege zwischen den katholischen, protestantischen und calvinistischen Lagern. Das Recht des Landesherrn, auf seinem Territorium die Konfession vorzuschreiben, wurde aufgegeben und das Recht der Anhängerschaft von Calvin, ihren Glauben auszuüben, vertraglich verankert. „Kalte“ Religionskriege gab es jedoch weiterhin. Außerdem wurde die tradierte föderal- aristokratische Ordnung der Reichsverfassung ergänzt, zugunsten zunehmender Autonomiespielräume der einzelnen, unterschiedlich mächtigen Staaten im Reich. 1581 ging die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen der Niederlande erfolgreich aus der Rebellion gegen die spanisch-habsburgische Vormacht hervor. Sie und die ebenfalls calvinistisch geprägte Schweiz erlangten im Westfälischen Frieden ihre Unabhängigkeit vom Heiligen Römischen Reich und beschritten nun einen föderal-subsidiären Weg der Staatenbildung. Das nicht dem Reich zugehörende Frankreich setzte die Politik der absolutistischen Zentralisierung seiner Macht fort.
III. Anfänge der brandenburgisch-preußischen Tradition des reformierten Glaubens (1613) und der „Toleranz von oben“
1. Konversion des Kurfürsten und Beginn eines folgenreichen Sonderwegs
Im Jahr 1613, also noch Jahrzehnte vor dem Westfälischen Frieden, durchbrach der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund (1572–1620) die im Reich geltenden Regeln und konvertierte vom lutherischen zum reformierten Glauben. Dieser Schritt begründete die religiöse Tradition der Hohenzollern. Diese Tradition ist verbunden mit einer spezifischen Politik der Toleranz und großen Bildungsaffinität der preußischen Herrscher. Darin wird außerdem deren Bestreben deutlich, ihre staatliche Herrschaft und deren Expansion durch eine Bevölkerung abzusichern, die aufgrund ihrer verinnerlichten, religiös motivierten Arbeits- und Berufsethik verpflichtet ist, zur Wohlstandsmaximierung im Lande beizutragen.
Die einheimische orthodox-lutherische Bevölkerung protestierte zwar dagegen („Berliner Tumult“), aber schon beim Erwerb der wirtschaftlich prosperierenden Gebiete von Kleve, Mark und Ravensburg erwies sich die Konversion als voller Erfolg. Außergewöhnliches Engagement in ihren Gemeinden sowie in der Arbeits- und Berufswelt trug zu ihrer hervorragenden Bildung und zu hohem Einkommen bei. Die dort lebenden reformierten Gläubigen gehörten zu den wohlhabenden Bevölkerungen im Reich.
Dieser Wohlstand kam durch Umverteilung dem kurfürstlichen Hof und Brandenburg zugute. Das Verhältnis zum brandenburgischen Kleve-Mark wurde intensiviert durch eine allgemeine Kirchenordnung als Teil eines Staatsgesetzes (1662). Der Kritik der reformierten Gemeinden daran wurde mit einem Kompromiss entsprochen, die presbyterial-synodale Struktur beizubehalten. Lutherische Gemeinden schlossen sich teilweise an. Diese Praxis hatte weder etwas zu tun mit der Gewährleistung allgemeiner Religionsfreiheit oder von Minderheitsrechten, sie half jedoch der reformierten Bevölkerung, geschützt durch ein Herrscherhaus, ihr alltägliches und kirchliches Leben zu führen.
Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) erließ zwei Toleranzedikte, um die Unruhen zwischen den Anhängern Luthers und Calvins zu beseitigen und seinen Rückhalt in der protestantischen Bevölkerung abzusichern. Unversöhnlichkeit herrschte vielerorts im Verhältnis zur katholischen Bevölkerung. 1685 holte der Kurfürst nach Verwüstungen und Bevölkerungsverlusten französische Hugenotten (réfugiés) nach Brandenburg, um das Land zu „peuplieren“. Im „Potsdamer Edikt“ bekundete er sein Mitleid mit ihrem Schicksal und versprach, für ihren Transport zu sorgen, Geld und Pässe bereitzustellen, auf das mitgebrachte Hab und Gut keine Zölle zu erheben und bei Niederlassung in den verschiedenen Provinzen beim Instandsetzen von Grundstücken und Häusern Unterstützung und eigentumsrechtliche Privilegien zu gewähren.
Er sicherte ihnen Schutz vor Verfolgung zu, die Freiheit, ihren Glauben auszuüben, und Unterricht und Gottesdienst in französischer Sprache abzuhalten. Im „Potsdamer Edikt“ wird die Überzeugung des Großen Kurfürsten deutlich, dass die Geflüchteten nicht „verarmt“ nach Brandenburg gelangen, sondern Ressourcen mitbringen sollten, die das Land dringend benötigte. Seine Kalkulation, dass Geflüchtete, die sich aufgrund ihres Glaubens weiterbildeten und selbstverantwortlich ihre Gemeinden organisierten, auch den Aufbau der Provinzen beförderten, ging auf. Die Zunahme der Bevölkerung durch den Zuzug (circa 20.000 Hugenotten) führte in Brandenburg zum kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung. Die Wirtschaftskraft stieg, sodass die Kosten für den Aufbau des Militärs und für eine allgemeine Verwaltungsstruktur in den zergliederten preußischen Ländereien erwirtschaftet wurden.
Friedrich der Große (1712–1786) setzte die Politik der religiösen „Toleranz von oben“ fort. Diese regierungsamtlich verordnete Duldsamkeit konnte jederzeit widerrufen werden und galt nicht für jede religiöse Gruppe. Auch er holte verfolgte Minderheiten nach Preußen, die ihm beim wirtschaftlichen und militärischen Aufbau nützten. In den protestantisch geprägten Landesteilen nahm eine preußisch-patriotische Begeisterung ihren Aufschwung, nicht zuletzt aufgrund des Machtzuwachs durch die siegreich geführten schlesischen Kriege. Die katholische Bevölkerung blieb kritisch eingestellt. Friedrichs Haltung war antiföderalistisch.
Er traf Entscheidungen zwischen Bündnis- oder kriegerischer Eroberungspolitik nach strategischen Erwägungen und mit dem Ziel, Preußen in eine angriffs- und verteidigungsfähige europäische Großmacht zu verwandeln. Sein Plan, den Staat nach französischem Vorbild zentralistisch zu regieren, gelang nur begrenzt; zu divers waren die tradierten ständischen Verhältnisse in den verschiedenen Provinzen, die sich einem „Durchregieren“ widersetzten. Als Bildungsstaat, der von den Anhängern des reformierten Glaubens starke Impulse erhielt, ging Preußen voran.
2. Preußens Machtzuwachs und die Vereinheitlichung von protestantischen Gemeindeordnungen gegen Widerstände
Im 19. Jahrhundert wurde jedoch der Intention der reformierten Gläubigen, unabhängig von staatlicher Reglementierung ihre kirchlichen Angelegenheiten zu ordnen, nicht mehr entsprochen. Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) vereinte in Ausübung seines Amts als Summus Episcopus die reformierten und lutherischen Gemeinden zu einer einzigen unierten „Evangelischen Kirche der altpreußischen Union“ (1817). Als Landeskirche sollte sie auf gleichen Bekenntnisschriften und einer gemeinsamen Kirchenordnung beruhen, die von einer kontrollierenden Behörde beaufsichtigt wurde. Er versprach sich ideologischen Rückhalt in der Bevölkerung im territorial vergrößerten Staatsgebiet und Minimierung des Einflusses der katholischen Kirche.
Die ehemals unterschiedlichen pietistischen, lutherischen und reformierten Liturgien näherten sich allmählich einander an. Die Einführung der von ihm umgearbeiteten Brandenburgischen Kirchenordnung von 1540 erntete sowohl Zustimmung wie auch Widerstand unter den Gemeinden. Reformierte Kirchengemeinden, insbesondere aus den niederrheinischen Provinzen, sprachen dem Landesherrn die Legitimität ab, Kirchenordnung und Liturgie vorzuschreiben, und waren nicht bereit, ihre presbyterial-synodale Ordnung aufzugeben: In der Emder Tradition sind allein die Gemeinden und ihre Synoden mit Fragen der Kirchenordnung zu befassen. Die reformierten Gemeinden von Emmerich bis Saarbrücken beharrten auf ihrem Recht, kirchliche Angelegenheiten unabhängig von staatlichen Vorgaben zu entscheiden; denn das bedeutete, auch über die Rekrutierung ihres Personals (Pfarrer und Presbyter) selbst als Kirche zu entscheiden.
Im „Agendenstreit“ (1822–1834) wurde zwischen preußischem König und protestantischen Kirchenvertretern nach neuen Kompromissformeln gesucht. Viele Gemeinden folgten nun dem unierten Bekenntnis. Mit neuen Gebietsannexionen gerieten jedoch immer weitere reformierte und lutherische Gemeinden sowie Freikirchen unter Druck. Schließlich wanderten Altlutheraner (1834–1839) aus Schlesien nach Australien und in die USA aus. Mancher Kompromiss zur Einbettung synodaler Aspekte wurde gefunden, manche unierten, lutherischen und reformierten Gemeinden blieben dennoch unabhängig von staatlicher Bevormundung.
3. Zusammenbruch der Föderalordnung des alten Reichs und Preußens Aufstieg
Das Zeitalter der Aufklärung (1650–1800) entwickelte die humanistischen und reformatorischen Ideen der Frühen Neuzeit weiter zu einem Verständnis des Menschen als eines durch Vernunft und Mündigkeit zum freien, selbstbestimmten Leben befähigten Wesens. Die Französische Revolution (1789) gegen die absolutistische Feudalordnung wurde zum Schlüsselerlebnis mit dem Vermächtnis der Erklärung der Menschenrechte. Der französische Staat reorganisierte bald wieder seinen zentralistischen Machtapparat. Dem Eroberungsfeldzug Napoleons hielt das Römische Reich Deutscher Nation nicht stand. Unter Napoleons Protektorat bildeten die Rheinbundstaaten (1806–1813) eine Konföderation und traten aus dem geschwächten Reich aus. Nach Preußens Niederlage gegen Napoleon reformierte Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) Militär, Bildung und Verwaltung. Aufgrund der Reformen siegte Preußen mit seinen Verbündeten über die französische Armee. Es erhielt territoriale Zugewinne und stieg zur zweiten deutschen Großmacht (neben Österreich) auf.
Nun verlangten soziale Bewegungen vielerorts eine gemeinsame Bundesverfassung, die Schutz nach innen und außen gewähren und interne Ständeordnungen beseitigen sollte, ohne die Souveränität der Einzelstaaten entscheidend zu beschneiden. Doch die restaurative Ordnung des Deutschen Bundes (1815–1866), die der Wiener Kongress (1814–1815) ins Leben rief, enttäuschte die Hoffnungen. Trotz föderaler Ordnung zielte sie auf die Stärkung der beiden Zentralmächte Preußen und Österreich und auf Abwehr der freiheitlichen Kräfte im Inneren der Staaten (Karlsbader Beschlüsse).
In den Befreiungskriegen gegen Napoleon hatte sich die Vorstellung von einem Volk gebildet, dessen Identität in einer gemeinsamen Sprache und Kultur besteht. Eine Nationalbewegung mit demokratischen und liberalen Strömungen gewann an Zustimmung. Frankreich galt ihnen zugleich als Vorbild und Feind. Die Gründung einer deutschen Nation wurde in der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche auf der Grundlage einer Verfassung (1848/49) beschlossen. Sie sah einen Bundesstaat als konstitutionelle Monarchie vor, in der neben Grundrechten und einem allgemeinen Wahlrecht (für Männer) eine föderale Ordnung gelten sollte. Die Einzelstaaten sollten durch das Gremium eines Staatenhauses repräsentiert werden.
Doch weder wollten sich alle Staaten des Deutschen Bunds einer einzigen Verfassung und bundesstaatlichen Regierung unterwerfen, noch akzeptierten Preußen und Österreich die Ausgrenzung ihrer nicht-deutschen Gebiete. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. schlug die ihm angetragene Kaiserwürde aus. Daraufhin scheiterte die Nationalbewegung.
Die „deutsche Frage“ nach einem gemeinsamen parlamentarischen Bundesstaat, der die vielen deutschsprachigen Einzelstaaten integrieren und dennoch deren Souveränitätsrechte weitgehend erhalten würde, blieb ungelöst. Letztlich führte der Kampf um die Vormachtstellung zwischen den Rivalen Preußen und Österreich zum Krieg. Der Norddeutsche Bund als Zusammenschluss der Länder nördlich der Mainlinie bildete unter Preußens Führung die Vorstufe des nach dem Sieg über Frankreich in Versailles gegründeten Deutschen Reichs (1871–1918).
IV. Subsidiäre Organisationen, föderale Institutionen und zentralisierte Machtpolitik (1871-1918)
1. Zweikammersystem des Deutschen Reichs
Die Gründung des Deutschen Reichs als Bundesstaat erfolgte auf der Grundlage einer von Bismarck ausgearbeiteten Verfassung. Sie schrieb vier für alle zugehörigen Staaten geltende Verfassungsorgane vor: den Reichstag, den Bundesrat, den Kaiser und den Reichskanzler. Kaiser und Reichstag repräsentierten das ganze Volk. Das Allgemeine Wahlrecht (für Männer ab 25 Jahren), die Konstitutionalisierung der Kaiserherrschaft und die Notwendigkeit der Zustimmung einer Reichstagsmehrheit für Haushalt und Gesetze stellten rechtsstaatliche Fortschritte dar. Der Bundesrat, das Vertretungsorgan der Einzelstaaten, war aufgrund seiner Exekutiv- und Legislativfunktionen von großer Bedeutung. Ihm lagen die im Reichstag verabschiedeten Gesetze zur Zustimmung vor, und er besaß ein Initiativrecht, Gesetze einzubringen. Preußen nutzte dieses föderale Gremium, um die Politik im Reich in seinem Sinne zu prägen.
Reichskanzler Otto von Bismarck fühlte sich den preußischen Interessen besonders verpflichtet. Er war Vorsitzender des Bundesrats und auch als preußischer Ministerpräsident dessen Mitglied. Über sein Amt als Reichskanzler brachte Bismarck Gesetze zunächst in den Reichstag ein, die dann dem Bundesrat zur Abstimmung vorgelegt und dort weitgehend im Sinne Preußens verabschiedet wurden. Da Preußen darauf verzichtete, sein Wahlrecht zu reformieren und es bei dem die oberen Besitzklassen (insbesondere den Adel) begünstigenden Dreiklassenwahlrecht beließ, wurde die Politik durch konservative, dem Verlust ihrer ständischen Privilegien abgeneigten Kräfte geprägt. Diese Politik wirkte sich über den Bundesrat im Reich aus.
Die Wahl Berlins zur Hauptstadt unterstrich die Machtkonzentration durch Preußen im Reich. Dennoch verschwanden die kulturellen Traditionen in den übrigen Staaten nicht. In vielen gesellschaftlichen Bereichen fand, befördert durch die Zollunion und trotz Krisen, ein gesellschaftlicher Aufschwung statt, moderne Verkehrsmittel und Medien gewannen an Dynamik und neue zeitgemäße Einrichtungen und Organisationen der subsidiären, milieunahen Gestaltung von Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung entstanden. Viele dieser damals gegründeten Parteien, Verbände, Vereine, Religionsgemeinschaften und Genossenschaften bestehen bis heute und tragen auch gegenwärtig zur gesellschaftlichen Vielfalt bei.
Bismarck führte in Preußen wie im Reich einen Kampf gegen liberale, aber vor allem sozialdemokratische und katholische Gruppierungen, ohne dass es ihm gelang, diese Kräfte auszuschalten. Im Gegenteil, sie erholten sich und wurden in den folgenden Jahren stärker denn je.
2. Nicht-beabsichtigte Folgen von Bismarcks Kulturkampf
Im Deutschen Kaiserreich war es Bismarck im Zuge der Nationalisierung und Industrialisierung besonders wichtig, die patriotische Bindung zwischen dem Reich, der Krone und den herrschenden Klassen Adel und Bürgertum durch eine protestantische Gesinnung, verbunden mit Pflichtbewusstsein, Staatstreue und Arbeitsethik zu festigen. Angespannt war sein Verhältnis zur Sozialdemokratie und zur katholischen Kirche. Katholiken fühlten sich vor allem einer transmontanen Universalkirche zugehörig. Demnach waren für ihre sozialmoralischen Orientierung nicht die Repräsentanten des Nationalstaats, sondern der katholische Klerus und der Papst maßgeblich. In Rom wurden vorsorglich die Verkündigungen des Papstes zur Abwehr konkurrierender Autoritäten auf nationaler Ebene für unfehlbar (im Infallibilitätsdogma von 1870) erklärt. Nach der Reichsgründung betrieb Bismarck daher vehement einen Kulturkampf (1871–87) als „Revolution von oben“. Hauptsächlich ging es um die Entmachtung des Klerus und um den Machtzuwachs der staatlichen Behörden in Kultur und Schulwesen. Die Ausbildung der Lehrkräfte wurde in staatliche Hände gelegt, und der Klerus verlor seinen Einfluss. In Preußen entzog Bismarck den katholischen Einrichtungen (Klöster, Schulen) die materiellen Grundlagen und stellte deren Vermögen unter staatliche Verwaltung. In der Folge wurden Klöster aufgelöst und römisch-katholische Ordensleute vertrieben. Im Reich wurden ähnliche Maßnahmen durchgesetzt, etwa das Niederlassungsverbot des Jesuitenordens. Kirchliche Eheschließungen verloren die staatliche Anerkennung. Nach preußischem Vorbild wurde die standesamtlich geschlossene Zivilehe eingeführt. Ein „Kanzelparagraph“ wurde erlassen, der es Geistlichen verbot, ex cathedra den öffentlichen Frieden zu gefährden, was zu willkürlichen Überwachungen und Verfolgungen führte.
Bismarcks Kulturkampf trug zur Schwächung der überkommenen Stellung des Katholizismus bei. Doch schon bald konnte dieser sich erfolgreich durch milieu-, frauen- und familiennahe Gründungen von neuen Gemeinden, Vereinen (u. a. „Volksverein für das katholische Deutschland“), Verbänden (u.a. „Caritas“) und Parteien (das „Zentrum“ – nach Sebastian Haffner damals die einzige Nicht-Klassen-, sondern Volkspartei) – als Gegenreaktion behaupten. Trotz oder wegen ihrer weltkirchlichen Orientierung verbritete die katholische Kirche erfolgreich alternative nicht-nationalistisch begrenzte Sinn- und Symbolgehalte wie beispielsweise die christlichen Familienfeiern und den Marienkult.
Als nicht-intentionale Folgen des Kulturkampfes blühte eine Vielfalt an religiösen Initiativen in den südlichen Gebieten des Reichs auf. Die auf Thomas von Aquin zurückgehende katholische Soziallehre (mit ihrer die Zeichen der Zeit aufnehmenden Enzyklika „Rerum Novarum“ von 1891) erhielt sukzessive Bedeutung für die Entfaltung einer auf Subsidiarität aufgebauten und ergänzenden Sozialpolitik. Die durch ihre staatliche Bindung weitgehend strangulierte protestantische Kirche verlor ihren kämpferischen, für die religiöse Selbstbestimmung eintretenden Impuls an die basisnäher tätige katholische Kirche.
3. Ein Treibhaus von Vereinen und Verbänden
Bismarck hatte im Deutschen Reich einen zentralistisch-hierarchischen Regierungsstil sowohl auf der Ebene des Reichs als auch in Preußen ausgebaut. Dennoch bildete die damalige Gesellschaft ein „Treibhaus der Institutionen“ im Zuge eines rasanten gesellschaftlichen Wandels durch Industrialisierung, Technik- und Wissenschaftsentwicklung.
Als Gegenbewegung zur preußischen Zentralisierungspolitik engagierten sich viele Akteure. Sie modernisierten oder gründeten basisnahe und subsidiäre, auf Selbstorganisation beruhende Einrichtungen, welche den Bedürfnissen großer Teile der Bevölkerung entsprachen, auf die dynamischen Veränderungen in der damaligen Arbeits- und Lebenswelt zu reagieren. Viele dieser Einrichtungen (wie Kammern, Kirchen, Genossenschaften, Verbände, Vereine) überstanden gravierende politische Systemveränderungen bis in die Gegenwart. Im intermediären Bereich zwischen Staat und Markt bildete sich eine außerordentliche Vielfalt von subsidiären Organisationen auf den Grundsätzen von Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung aus.
Dazu gehören die Einrichtungen wirtschafts-, branchen- und berufsbezogener, selbstorganisierter Korporationen, Genossenschaften, Kassen und Verbände (aufseiten der Arbeiter und Unternehmer). Sie stellen Vertretungsorgane von Interessen der Bevölkerung dar, leisten Aufgaben der Vermittlung, Kommunikation, Aufklärung und Konsensbildung, um Interessensgegensätze auszugleichen und Kräfte zu bündeln. Viele Phasen des modernen Kapitalismus waren vor diesem Hintergrund durch Kooperation und nicht durch Zuspitzung von Konflikten gekennzeichnet.
Es entstehen soziale und gemeinnützige Organisationen (insbesondere die Wohlfahrtsverbände), die Bismarcks allgemeine Sozialpolitik der Kompensation von Risiken der liberalen Marktwirtschaft (zum Beispiel die Einführung der vier Sozialversicherungen) auf kommunaler, kirchlicher und ideologischer Ebene ergänzten. Im Bürgerlichen Gesetzbuch setzte sich eine in vielen Bereichen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens bestehende Klausel des Vorrangs von Einrichtungen in freier Trägerschaft auf kommunaler Ebene vor staatlichen Vorhaben durch. Mit der Differenzierung von Arbeit und Freizeit im Alltagsleben im Zuge der Durchsetzung industriegesellschaftlicher Verhältnisse steigt schließlich auch das Interesse an gemeinsamen, vereinsmäßig organisierten Freizeitaktivitäten. Fußball entwickelt sich zu einem Volkssport, dessen im Kaiserreich gegründete Vereine noch heute die Bundesliga beherrschen.
V. Langersehnte demokratische Verfassung (1919 – 1933) und ihr brutales Ende (1933 – 1945)
1. Weimarer Verfassung und das Ende der Staatskirche
Die politische Ordnung des Deutschen Reichs zerfiel mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Nach Übergangsregierungen, revolutionären Erhebungen und Räteherrschaft beschloss die Nationalversammlung in Weimar (6. Februar 1919 bis 21. Mai 1920) die Verfassung eines demokratisch und parlamentarisch legitimierten Bundesstaats. Der Machzuwachs der gesamtstaatlichen Bundesorgane, des Reichstags, des Kanzlers und des Reichspräsidenten bedeutete jedoch einen Machtverlust zulasten der Länder. Sie wollten auch in einem starken Bundesstaat ihre politische, soziale und kulturelle Eigenstaatlichkeit bewahren, mitregieren und Aufgaben der Teilung und Kontrolle der Gewalten erfüllen. Die süddeutschen Länder hatten sich für eine föderale Ordnung mit ausgeprägter Doppelstaatlichkeit durch Reichsrat und Länderparlamente mit eigenen Regierungen engagiert. Der Reichsrat verlor jedoch in der neuen Verfassung gegenüber dem Reichstag viele seiner einstigen Legislativfunktionen, vor allem sein Initiativrecht. Er behielt lediglich ein Widerspruchsrecht, was immerhin dazu führte, dass im Vorfeld der Beschlussfassungen im Reichstag nach Kompromissen mit den Ländern gesucht werden musste. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde charakterisiert die Weimarer Republik daher kritisch: „Unitarischer Bundesstaat auf nicht mehr bündischer, sondern nationaler Grundlage der einheitlichen deutschen Staatsgewalt; der Föderalismus wurde von einem staatsgründenden Prinzip zu einem bloßen Prinzip innerstaatlicher Gliederung zurückgenommen.“
Dabei hatten die Länder, nachdem das Ende der Monarchie absehbar war, ihre Regierungssysteme auf eine parlamentarische Grundlage gestellt und ihr Wahlrecht, nun auch für Frauen, modernisiert. Über viele Jahre erwiesen sich die Länderregierungen in der Weimarer Republik, beispielsweise in Hessen, Bayern, Baden, Württemberg und Preußen, auch in schwierigen Zeiten als äußerst stabil, zumal zumeist die moderaten Parteien der „Weimarer Koalition“ (SPD, DDP, Zentrum) die Regierung stellten. Preußen blieb aufgrund seiner gewaltigen Größe (Bevölkerung und Territorium) einflussreich, aber begrenzt durch eine restriktive Regelung seiner Stimmenverhältnisse im Reichsrat. Die Machtfülle der bundesstaatlichen Organe kontrastierte mit der tendenziellen Machtlosigkeit der Länder und ihres bundesstaatlichen Repräsentationsorgans.
Mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 („Es besteht keine Staatskirche“) erlosch das Recht des höchsten Staatsorgans, auf die Ausübung der Religion im Volk Einfluss zu nehmen. Religionsgemeinschaften erhielten das Recht, „ihre Angelegenheiten selbständig“ zu verwalten, ohne staatliche Bevormundung und Kontrolle.
Es entstand die „Evangelische Kirche der altpreußischen Union“ mit einer auf synodalen, konsistorialen und episkopalen Elementen beruhenden Ordnung. Die rheinische und westfälische Provinzialsynoden forderten jedoch vergeblich, den Synoden ihre tradierten kirchenrechtlichen Kompetenzen hinsichtlich der Wahl ihrer internen Ordnung und ihrer Leitung wiederanzuvertrauen.
In den Jahren 1929 bis 1933 lasteten die Folgen der Weltwirtschaftskrise auf der Bevölkerung. Das Ansehen der Weimarer Demokratie sank, politische Mehrheiten, die die Mitte der Gesellschaft spiegelten, verschwanden. Wiederholtes Regieren mit Notverordnungen und Präsidialkabinetten verstärkten die Machtkonzentration der Exekutive gegenüber dem Parlament und den föderalen Regierungen. Im Juli 1932 setzte die Präsidialregierung des Reichkanzlers den langjährigen Ministerpräsident Otto Braun (SPD) in Preußen ab, und Franz von Papen übernahm als Reichskommissar die Regierungsgeschäfte. Nun regierte die Reichsregierung in Preußen und löste dessen Eigenstaatlichkeit auf („Preußenschlag“). Die föderale Gewaltenteilung und -kontrolle im Reich wurde beseitigt.
2. Tradition der Emder Synode während der Diktatur
Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, verfügte die NSDAP nur in wenigen Ländern über eine Mehrheit und hatte in der vorangegangenen Reichstagswahl Stimmen verloren. Hitler nutzte nach seinem Amtsantritt die Chancen, die ihm die Anwendung parlamentarischer Instrumente (wie die zeitweise Auflösung des Reichstags am 1. Februar 1933 und der Erlass der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat durch den Reichspräsidenten am 28. Februar 1933 sowie die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 28. März 1933) boten, die totale Macht in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu erlangen.
Aufgrund der „Reichstagsbrandverordnung“ wurden weitgehende Eingriffe in die öffentlichen und persönlichen Freiheiten der Bürger ermöglicht.
Das „Ermächtigungsgesetz“ lieferte der Reichsregierung das Recht, die Organe der Legislative zu umgehen und Gesetze zu erlassen. Politische Gegner und Parteien (wie die Kommunistische Partei) wurden schon vor der Abstimmung ausgeschaltet und verfolgt, nur die Abgeordneten der SPD stimmten dagegen. Die Konsequenzen für die Länder und für ihre Regierungen waren erheblich. Nationalsozialisten ersetzten das Leitungspersonal in den Länderregierungen und Verwaltungen. Schrittweise verloren somit die Länder ihre Eigenstaatlichkeit. Im kurzen Zeitabstand erließ die Regierung zwei „Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“. Daraufhin wurde ein Reichsstatthalter bestimmt, der das Personal in den Landesregierungen ernennen, absetzen und die Regierungen auflösen konnte. Durch das Gesetz zum „Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 mit ergänzenden Verordnungen wurden schließlich die Länder vollständig ihrer Hoheitsrechte beraubt. Die Landtage wurden aufgelöst.
Die über Jahrhunderte in Deutschland tradierten sowie in der Weimarer Verfassung verankerten Gepflogenheiten und Grundrechte verloren ihre verlässliche rechtsstaatliche Geltung zum Schutz der Bürger und Bürgerinnen. Willkürliche Eingriffe in Parlamente, in Behörden, in die Presse, in die Arbeit von Vereinen und Verbänden, sogar in die privaten Haushalte waren jederzeit zu befürchten. Das Personal und die engagierten Bürger und Bürgerinnen, ob auf der Ebene des Bundes, der Länder oder der Kommunen, agierten ohne eine Macht, die sie und ihre Rechte schützten. Sie konnten jederzeit Hitlers Willkürherrschaft zum Opfer fallen.
Gegenüber dieser latenten und oftmals manifesten Gewalt, etwa durch öffentlich erfahrbare Terrorisierung einzelner Gruppen, gab es keinen Schutz durch staatliche Organe. Die Bürgerinnen und Bürger mussten die ideelle und sukzessive auch personelle Gleichschaltung aller Lebensbereiche, Institutionen und Organisationen hinnehmen und versuchten in dieser Zwangslage gelegentlich durch gesteigertes Wohlverhalten demonstrativ ihre Übereinstimmung zu bezeugen. Mit der Auflösung der Parteien verloren die Bürgerinnen und Bürger Organisationen, die ihre Interessen hätten zum Ausdruck bringen können. Die Verbände, Vereine und bürgernahen Selbsthilfeeinrichtungen führten dennoch vielfach ihre Arbeit unter schwierigen Bedingungen weiter.
Zunehmend gewannen Gründungen an Einfluss, die rassistischen und antisemitischen Ideologien anhingen, wie etwa die 1931 entstandenen „Deutschen Christen“. In kurzer Zeit eroberten sie Leitungsämter in evangelischen Dachorganisationen, hoben die vorhandenen Ordnungen auf und denunzierten diejenigen, die ihnen keine Gefolgschaft leisteten.
Dagegen formierte sich ab 1934 kirchlicher Widerstand. Er nahm seinen Ausgang in Barmen mit der Durchführung einer Synode der Bekennenden Kirche gegen das deutschchristliche NS-Kirchenregiment.
Dort fand die Gründung der „Freien evangelischen Synode im Rheinland“ statt, die sich, entsprechend den Grundsätzen der Emder Synode, aus Abgesandten der reformierten, lutherischen und unierten Gemeinden bildete und den Bruderrat der freien Synode mit der Kirchenleitung betraute. „Gemeinsam mit der westfälischen Bekenntnissynode fasste die Freie evangeliche Synode im Rheinland am 29. April die ‘Dortmunder Beschlüsse‘ zur Wiederherstellung der presbyterial-synodalen Ordnung.“ In Wuppertal-Barmen trat die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zusammen und verabschiedete die „Barmer Theologische Erklärung“. Kurz darauf rief die zweite Bekenntnissynode das kirchliche Notrecht aus. Sie nannte sich nun „Die Evangelische Bekenntnissynode im Rheinland“ und baute unter schwierigsten Bedingungen eine „bruderrätliche Kirchenleitung“ auf. Außerdem versuchte sie, soweit wie möglich die presbyteriale Ordnung zu verwirklichen.
VI. Schicksal zweier Systeme (1949 – 1990) die subsidiär-föderalistische Demokratie und die zentralistische Diktatur
1. Länderregierungen – Akteure des Neubeginns
Dass größere gesellschaftliche Gebilde (wie Staaten, Kirchen, Verbände) ihre Macht einem Bündnis aus kleineren Gemeinschaften verdanken, deren Rechte auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung durch die übergreifende Ordnung zu gewährleisten, zu schützen und zu fördern sind, so lautete die gesellschaftspolitische Vision des reformierten Protestantismus, von Johannes Althusius, von der Emder Synode 1571 und von vielen ihr folgenden föderalen und subsidiären Zusammenschlüssen. Die aus Europa während der Religionskriege ausgewanderte protestantische Gründergeneration der Vereinigten Staaten nahm diesen Geist aus der Alten mit in die Neue Welt.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs brachten die Amerikaner den Föderalismus zurück nach Deutschland. Sowohl in den Verhandlungen zwischen den Siegermächten als auch mit den politischen Akteuren vor Ort forcierten sie, Deutschland aus den damals noch weitgehend funktionsfähigen Gliederungen von Kommunen und Ländern aufzubauen.
Dieser Weg des Wiederaufbaus bedeutete für Deutschland keine aufgezwungene Fremdbestimmung, sondern eine „bemerkenswerte Rückkehr zu den Anfängen deutscher Staatlichkeit“. So beschreibt der Historiker Eberhard Jäckel die damalige Situation und ergänzt: „Denn der Föderalismus entsprach nicht nur den Wünschen fast der ganzen Gesellschaft, er entsprach auch den ältesten Traditionen des deutschen Verfassungslebens. Einen zentralistischen Einheitsstaat hat es nur einmal, unter dem Nationalsozialismus, gegeben, und es war gerade wegen der schlechten Erfahrungen, die man drinnen wie draußen damit gemacht hatte, dass nun der Föderalismus wiederbegründet und noch stärker ausgeprägt wurde als in der Weimarer Republik.“ „Länder“ wurden in der Frankfurter Reichsverfassung (Art. 2) von 1848/49 und in der Weimarer Verfassung die Gliedstaaten genannt, die zumeist den Bundesstaaten des Deutschen Kaiserreichs von 1871 entsprachen. Zwischen 1945 und 1947 legten die Alliierten in ihren Zonen erneut Ländergrenzen fest. Abgestimmt mit den Erfordernissen der Besatzung ließen sie sich von den Zielen leiten, eine ausgeglichene Größenordnung aller Länder zu erreichen und den deutschen Bedürfnissen sowie den historischen Tatsachen zu entsprechen. Weder überlebensschwache noch übermächtige Länder sollten entstehen. Ausschlaggebend war die harsche, etwas ungerechte Verurteilung der Rolle Preußens in der deutschen Geschichte. Preußen sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen. Der Alliierte Kontrollrat erließ dementsprechend das Gesetz Nr. 46 am 25. Februar 1947: „Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst“ (Art. I). Die Neuordnung Deutschlands sollte nicht den Weg zu einer starken zentralistisch-durchregierenden Staatsmacht ebnen.
Die Länder beeilten sich, ihre Funktionsfähigkeit als Gliedstaaten mit eigenen Verfassungen herzustellen. Beispielsweise setzten schon Ende Mai 1945 die Amerikaner das Personal für eine kommissarische Regierung in Bayern ein. Die Parlamentswahlen in den Ländern (in Bayern am 1. Dezember 1946 zugleich mit der Volksabstimmung über die bayerische Verfassung) gaben der Arbeit der Abgeordneten und Regierungen mit Ministerpräsidenten an der Spitze demokratische Legitimität. In der bayerischen Verfassung wurde unter dem Einfluss des damaligen Ministerpräsidenten und Verfassungsvaters Wilhelm Hoegner (SPD) festgehalten: „Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten. Er soll auf einem freiwilligen Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten beruhen, deren staatsrechtliches Eigenleben zu sichern ist“ (Art.178). Nach Etablierung der Länderregierungen blieb jedoch die Frage der Bundesstaatlichkeit umstritten: Sollte es, wie der amerikanische Außenminister vorschlug, einen einenden Bundesstaat geben oder lediglich locker miteinander verbundene „Kleinststaaten“?
Hierin erzielten die Westalliierten mit der Sowjetunion keinen Konsens. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) richtete die Sowjetische Militäradministration (SMAD), in enger Abstimmung mit Stalin, zügig ein System zentraler Verwaltungen ein, enteignete Boden- und Landbesitzer, verstaatlichte Banken, Schwer- und Schlüsselindustrien. SPD und KPD wurden zur SED zwangsvereinigt. Ralf Dahrendorf beschreibt in seinen Lebenserinnerungen die Zunahme des „kombiniert kommunistisch-sowjetischen Drucks“ im Jahr 1946, die KPD mit der SPD-SBZ zu vereinen. Der KPD-Funktionär Wilhelm Pieck, dessen Partei an Einfluss verlor, und der Vorsitzende des Zentralausschusses der SPD-SBZ Otto Grotewohl betrieben dieses „Zwangsvereinigung“. Beide waren Vorsitzende der neu gegründeten SED. Kritikern drohte Verfolgung. Ralf Dahrendorfs Vater Gustav, ebenfalls Mitglied des SPD-Zentralausschusses, sah sich mit seiner Familie gezwungen, aus Ostberlin zu fliehen.
Außerdem begannen SMAD und SED mit dem Aufbau von programmatisch einheitlich ausgerichteten Massenorganisationen (FDJ, DFB, FDGB, VVN et cetera). Deren Aufgaben bestanden darin, Einfluss auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu nehmen und „Abweichler“ unter Druck zu setzen. Das tradierte Verständnis von Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen als subsidiär wirkende, den Willen von Bürgerinnen und Bürgern umsetzende Interesseninstrumente wurde durch den auf sie ausgeübten Zwang, sich an der Linie der SED auszurichten, pervertiert. Bereits im Vorfeld der Staatsgründung wurden Spielräume selbstbestimmten Handelns eingeengt. Die Parteifunktionäre bereiteten sich auf ihre Machtübernahme in einem zentralistisch regierten sozialistischen Deutschland vor. Doch Stalin wollte Deutschland und Berlin möglichst in den eigenen Machtbereich integrieren, zumindest neutralisieren, auf jeden Fall aber die Integration in die westliche Staatengemeinschaft verhindern. Mit der Abriegelung Berlins in der Berlin-Blockade (1948/49), die die Bürgerinnen und Bürger der Stadt an den Rand ihrer Überlebensfähigkeit brachte, wurde überdeutlich, dass es mit ihm keinen Kompromiss geben würde. Der Kalte Krieg nahm Fahrt auf.
2. Das Grundgesetz - Ein großer Wurf in der deutschen Geschichte
Die Hauptakteure, die den Prozess im Zusammenwirken mit den Westalliierten tatkräftig voranbrachten, einen neuen und in seiner Verfasstheit bislang unbekannten Bundesstaat aus der Taufe zu heben, waren die Ministerpräsidenten der Länder. Seit 1946 existierte in der amerikanischen Zone ein Länderrat zur Koordination von drei Landesregierungen (Bayern, Württemberg-Baden und Hessen) und zur Ausarbeitung eines Regierungsentwurfs.
Auf der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz 1947 wurde deutlich, dass die in Gang gesetzte Vorbereitung zur Gründung eines Bundesstaats nicht den Vorstellungen der ostdeutschen Ministerpräsidenten entsprach, die dort im Auftrag der SED vorschlugen, einen Einheitsstaat auf Grundlage eines ideologischen Konsenses zwischen Parteien und Gewerkschaften zu bilden. Schließlich kam der entscheidende Anstoß von der Sechsmächtekonferenz aus London. Daran nahmen die Außenminister der drei westlichen Alliierten und der Benelux-Staaten als Nachbarn Deutschlands teil. Beschlossen wurde neben einer Verzahnung wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen, Deutschland den Aufbau eines Bundesstaats auf der Grundlage einer Verfassung zu ermöglichen:
Zitat
„Diese Verfassung soll so beschaffen sein, dass sie es den Deutschen ermöglicht, ihren Teil dazu beizutragen, die augenblickliche Teilung Deutschlands wieder aufzuheben, allerdings nicht durch die Wiedererrichtung eines zentralistischen Reiches, sondern mittels einer föderativen Regierungsform, die die Rechte der einzelnen Staaten angemessen schützt und gleichzeitig eine angemessene zentrale Gewalt vorsieht und die Rechte und Freiheiten des Individuums garantiert.“
Unter Druck des Dissenses mit der Sowjetunion wurde beschlossen, auf einer verfassungsgebenden Versammlung rasch einen Text auszuarbeiten und diesen mit den Alliierten zu beraten. Daraufhin überreichten die Militärgouverneure der Westalliierten am 1. Juli 1948 den Ministerpräsidenten die Vollmacht (Frankfurter Dokumente) zur Ausarbeitung einer föderalen Verfassung. Ernst Reuter überzeugte mit der Idee für eine Verfassung, die künftig für Gesamtdeutschland, für die Zeit der Teilung in zwei Staaten aber lediglich für Westdeutschland gelten sollte. Diesem „Provisorium“ gab Max Brauer (SPD) den Namen: „Grundgesetz“. Nunmehr enstanden zwei Gremien für die Erarbeitung des Verfassungsentwurfs:
Das erste Gremium „Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westdeutschen Besatzungszonen“ bestand aus Verfassungsexperten, Parteipolitikern und Bevollmächtigten der Länder und tagte im August 1948 knapp zwei Wochen lang auf der Insel Herrenchiemsee. In seinen Vorarbeiten zog es Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik und ihrer Verfassung. Am Ende lag ein Entwurf von 149 Artikeln vor.
Das zweite Gremium, der „Parlamentarische Rat“ (nicht Nationalversammlung genannt), begann am 1. September 1948 in Bonn, das Grundgesetz auf der Grundlage des Entwurfs von Herrenchiemsee auszuarbeiten.
Von 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren 51 bereits an den Ausarbeitungen der Länderverfassungen beteiligt, 65 waren stimmberechtigt. Sie wurden später Väter und Mütter des Grundgesetzes genannt. Konrad Adenauer, dem christliches Gedankengut am Herzen lag – insbesondere das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mit seinen subsidiären Wurzeln in der Katholischen Soziallehre –, hatte den Vorsitz inne. In den Beratungen wurde um die Formulierung der Grundrechte gerungen, die im Vergleich mit der Weimarer Verfassung einen weitaus grundsätzlicheren und vor allem nicht-revidierbaren Stellenwert bekamen. Mit ihnen wurden die rechtsstaatliche Grundlage und die Garantie für ein freies, selbstbestimmtes Leben der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik geschaffen. Staatliche Organe sollten die prinzipielle Geltung dieser Ordnung niemals infrage stellen dürfen. Insbesondere Art.4 (1) GG „zur Freiheit des Glaubens, Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ in Kombination mit der Gewährleistungspflicht der ungestörten Religionsausübung in Art. 4 (2) GG impliziert den weltanschaulich-neutralen Staat, der die Bürgerinnen und Bürger in Glaubensfragen nicht bevormundet. Die Weimarer Artikel wurden übernommen, die den Körperschaftsstatus der Kirchen aufgrund ihrer vielfältigen Verantwortungsübernahme (etwa im Sozialstaat) festhielten. Der Emder Impuls für eine vertikale Gewaltenteilung, dass die Institutionen der übergreifenden Ordnung die Selbstbestimmung und -verantwortung der einzelnen Glieder schützen, gewährleisten und unterstützen sollen, fand im Grundgesetz einen modernen Ausdruck.
Dem Bundestag, dem gesetzgebenden Verfassungsorgan und Parlament des Bundesstaats, dessen Abgeordnete von allen wahlberechtigten Bürgern und Bürgerinnen gewählt werden, wurde der Bundesrat als zweites gesetzgebendes Verfassungsorgan an die Seite gestellt, in dem die Länder mit ihren Regierungen vertreten sind. Ein wichtiges und intensiv diskutiertes Thema war die Gewichtung der föderalen Macht in Deutschland durch Art. 50 GG. Darin wird festgelegt, dass durch den Bundesrat die Länder bei der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes mitwirken und (mittlerweile auch) in Angelegenheiten der Europäischen Union. Den föderal-subsidiären Grundsätzen wurde gleich mehrfach entsprochen: Nicht nur regeln die Länder als teilsouveräne Staaten ihre Angelegenheiten selbst durch ihre Regierungen, sondern auch auf der Ebene des Bundes vertreten sie ihre Interessen, die sich aus den gemeinsamen Entwicklungen der Länder ergeben. Der Bundesrat entscheidet bei den meisten Vorhaben des Bundes mit, aus denen Konsequenzen für die Länder folgen. Bis zum 8. Juni 1990 waren die Abgeordneten aus Westberlin weder im Bundestag noch im Bundesrat stimmberechtigt, dennoch übernahmen sie einflussreiche Funktionen (beispielsweise das Präsidentenamt im Bundesrat)
3. Tragik der Teilung
Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz als vorläufige Verfassung im Parlamentarischen Rat verabschiedet. Nach Vorlage gaben die Westalliierten ihr Einverständnis, und die Länderparlamente stimmten zu, mit Ausnahme von Bayern. Bayern hatte sich eine noch stärkere föderalistische Ausprägung gewünscht, war aber bereit, sich bei einer Zustimmung von Zweidritteln der Landtage anzuschließen. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet und trat am nächsten Tag in Kraft. Damit war die Bundesrepublik gegründet. Bonn wurde provisorischer Regierungssitz. Die erste Bundestagswahl fand schon am 14. August 1949 statt.
Stalin stimmte indessen der Gründung eines „Arbeiter- und Bauernstaates“ auf dem Gebiet der SBZ zu. Bereits 1946 hatte die SMAD bei der SED-Führung die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs in Auftrag gegeben. Die Arbeit leistete der Jurist Karl Polak, der während der Hitler-Zeit in Moskau tätig war und ab 1952 zum Zentralkomitee der SED gehörte. Der III. Volkskongress, dessen circa 14.000 Mitglieder auf einer Einheitsliste im Block gewählt wurden, nahm den Entwurf an. Aus ihm ging der II. Deutsche Volksrat hervor. Er konstituierte sich als „Provisorische Volkskammer“ und setzte auf seiner Sitzung am 7. Oktober 1949 die Verfassung der DDR in Kraft. Am 11. Oktober 1949 wurde Wilhelm Pieck Präsident, Otto Grotewohl Ministerpräsident, Walter Ulbricht bekam das mächtige Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED. Ralf Darendorf, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen die Zunahme des „kombiniert kommunistisch-sowjetischen Drucks“ im Jahr 1946 die KPD mit der SPD-SBZ zu vereinen. Der KPD-Funktionär Wilhelm Pieck, dessen Partei an Einfluss verlor, und der Vorsitzende des Zentralausschusses der SPD-SBZ Otto Grotewohl betrieben dieses „Zwangsvereinigung“. Beide waren Vorsitzende der neu gegründeten SED. Kritikern drohte Verfolgung. Gustav Darendorf, ebenfalls Mitglied des SPD-Zentralausschusses sah sich mit seiner Familie gezwungen aus Ostberlin zu fliehen.
Diese Verfassung bedeutete einen Kompromiss zwischen den bürgerlich-demokratischen Prinzipien aus der Weimarer Verfassung (Bürgerrechten, Volkssouveränität, Aspekten der Bändigung der Staatsgewalt und der Förderung subsidiärer Betätigungen) mit sozialistischen Vorstellungen (Gewalteneinheit, staatliche Planwirtschaft, Anpassungsdruck auf die Bevölkerung etwa durch Verbot der „Boykotthetze“ (Art. 6)). Dass die DDR einen föderalen Weg gehen würde, ließen noch der Art. 1 der Verfassung, in dem Deutschland als „unteilbare demokratische Republik“ bezeichnet wird, die sich aus „den deutschen Ländern“ aufbaut, und die Art. 71 bis 84 zur Einrichtung der Länderkammer als deren Vertretungsorgan hoffen.
Im Jahr 1952 wurden diese Ansätze einer föderalen Gewaltenteilung faktisch beseitigt. Die Parteikonferenz der SED proklamierte die Verwirklichung des Sozialismus nach dem Modell des Demokratischen Zentralismus und damit eines Staates, der aus einem Parteizentrum heraus alle staatlichen Glieder steuert und kontrolliert: Die Länder mussten ihre Gebiete neu in Kreise einteilen und die Kreise zu Bezirken zusammenfassen. Schließlich mussten sie die Landtage abwickeln.
Die Bezirke besaßen jedoch keine mit eigenen Rechten ausgestattete parlamentarische Repräsentanz, sondern waren lediglich Teile einer staatlichen Verwaltung. Die Leitungsfunktionen wurden mit Parteimitgliedern besetzt, die sich nach den für sie geltenden wirtschafts- und sicherheitspolitischen Planvorgaben zu richten hatten. Das Überbleibsel einer funktionslosen Länderkammer wurde 1958 eliminiert. Die Verfassung von 1968 bestätigte das bestehende Einkammersystem.
4. Föderal-subsidiäre Gesellschaft der „alten“ Bundesrepublik
Sukzessive wurde die „alte“ Bundesrepublik mit Bonn als Hauptstadt von einer wiedererwachten und sich erneuernden föderal-subsidiären Kultur geprägt.
Vor dem Hintergrund amerikanischer Vorbildwirkungen und Hilfen (etwa der Marshall Fund) wurde schon bald ein wirtschaftlicher Aufschwung erreicht, dem die Familien allmählich steigende Erwerbseinkommen, sozioökonomische Absicherung und Beteiligung am Konsum verdankten. Hinzu kam der Länderfinanzausgleich, der dafür sorgte, dass sich auch in einkommensschwächeren Ländern wie damals in Bayern ein bislang unbekannter Wohlstand entwickeln konnte. Die subsidiäre Basiskultur, die vor oder während des Kaiserreichs gegründeten Religionsgemeinschaften, Parteien, Verbände und Vereine, reorganisierten zügig sinnstiftende Angebote und „Transformationshilfen“ für die Bürger, in der demokratischen Nachkriegsgesellschaft anzukommen und deren Vorteile für die eigene Lebenspraxis zu erkennen.
Steigende Mitgliederzahlen (sichtbar zum Beispiel am Boom in den Fußballvereinen) waren die Folge. Gegen die Verdrängung der Vergangenheit rebellierte in den späten 1960er-Jahren eine studentische Generation, die während oder nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft geboren worden war. Deren Protestverhalten wurde durch eine kluge, von den Ländern initiierte Politik der Bildungsexpansion, einen Ausbau des schulischen Bildungssystems und der Neugründung von Universitäten beantwortet. Der Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt verwendet für den Föderalismus des Grundgesetzes den Begriff der „Vetodemokratie“, gekennzeichnet durch Vielstimmigkeit, durch Einsprache- und Widerspruchsmöglichkeiten, zu der sich die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt habe: In den föderalen Gliedern (vor allem in den Kommunen, Ländern, im Bund und darüber hinaus in der EU) wirken die mitgliederstarken subsidiären Organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Vereine) an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten aktiv mit. Die dadurch möglich gewordene kommunikative, direkte und indirekte Einbeziehung großer (organisierter) Teile der Bevölkerung ins politische Geschehen trug über lange Zeit dazu bei, dass sich die Regierungen im Bund und in den Ländern einer hohen, durch Wahlentscheidungen abgesicherten Zustimmung bei den Wählerinnen und Wählern gewiss sein konnten.
Zwar ist seit den 1990er-Jahren das Bild des Zusammenwirkens der „politischen Klasse“ und der Bürgerinnen und Bürger, beispielsweise durch deren geringere Präsenz in den intermediären Organisationen nicht mehr so eindeutig, aber anders als in vielen westlichen Demokratien kommt hierzulande nach wie vor der Wille der Bevölkerung nicht lediglich bei Wahlentscheidungen zum Ausdruck, sondern vielfach vermittelt über ihre Organisationen im politischen Alltag. Freilich wird dabei von den politischen Akteurinnen und Akteuren ein besonderer Stil abverlangt, ihre Agenda aufgrund von umfangreichen Prozessen der Verständigung, der Konsens- und Kompromissfähigkeit umzusetzen. Die Stabilität der politischen Kultur ist bei diesem Vorgehen sowohl Voraussetzung als auch immer wieder erneut zu erringendes Ziel. Hinzu kommt, dass die Akteurinnen und Akteure der zivilgesellschaftlichen Organisationen sich unterstützt und ermutigt wissen, die Belange, die sie basisnah wahrnehmen, öffentlich zur Sprache bringen und neue Organisationsvorhaben innovativ und selbstständig ins Leben rufen zu können, bevor mächtigere Akteure sich einmischen.
Das Grundgesetz ist von der Idee der Subsidiarität durchdrungen. Viele Rechte sind in diesem Sinne verankert worden, die den gesellschaftlichen Basiseinheiten (Familie, Verbänden, Kirchen, Vereinen) Rechte zur Selbstbestimmung und -verantwortung bieten. Die Aushandlung der industriellen Beziehungen (Tarifautonomie) und die Übernahme vieler Aufgaben der Daseinsfürsorge durch die Wohlfahrtsverbände entsprechen dem subsidiären Gesellschaftsmodell, dem Grundsatz des Vorrangs der unteren Glieder, den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Verbänden Autonomie und Gestaltungsräume zu gewähren.
In der „alten“ Bundesrepublik wurde diese Politik der Subsidiarität im Sinne der sozialen Marktwirtschaft mit dem Einfluss der sich auf Thomas von Aquin berufenden katholischen Soziallehre verbunden. Die beiden Enzykliken „Rerum Novarum“ (Papst Leo XIII am 15. Mai 1891) und die von Oswald Nell-Breuning, dem Jesuitenpater von St. Georgen in Frankfurt, mitverfasste „Quadragesimo Anno“ (Papst Pius XI am 15. Mai 1931) legten die Haltung der katholischen Kirche dar, ihre Gemeinden gegen die staatliche Bedrohung ihrer Existenz abzusichern, sich auf neue Aufgaben wie der unmittelbaren Unterstützung von Familien im Zuge des gesellschaftlichen Wandels einzustellen und sinnstiftende Alternativen zum staatlichen Zugriff auf die Gesinnung der Bevölkerung bereitzustellen.
Basisnahe Gründungen haben in vielen Bereichen der sozialen Wohlfahrt einen Vorrang vor staatlichen Einrichtungen. Nell-Breuning avancierte zu einem gefragten Ratgeber und Ideenspender in der Bonner Republik. Der Begriff der Subsidiarität im Kontext der katholischen Soziallehre, deren Protagonisten Heiner Geißler und Norbert Blüm (beide CDU), langjährige Minister in unterschiedlichen Kabinetten, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit präsent waren, verlor jedoch nach der Wiedervereinigung und dem Schwinden des Einflusses der katholischen Trägerschichten an Strahlkraft. Im Zuge eines Trends zur Entkirchlichung, der sich nach der Wiedervereinigung verstärkte, geriet auch der Zusammenhang zwischen Subsidiarität und katholischer Soziallehre in den Hintergrund.
5. Zentralistische Machtpolitik der SED und die „protestantische Revolution“
Die Geschichte der DDR ist vor allem durch die Politik der SED geprägt worden. Deren Ziel bestand darin, die gesamten staatlichen Organe pyramidenhaft der Steuerungszentrale des Politbüros unter Leitung des Generalsekretärs zu unterwerfen. Die SED eignete sich den Staat an und übte ihre Herrschaft von der Partei-Spitze her nach unten auf allen politischen Ebenen aus. Übergeordnete Gremien lenkten und kontrollierten die untergeordneten. In der Volkskammer, einem nur scheinbar frei gewählten Parlament, wurden die Gesetze von der Parteiführung vorgegeben und unverändert beschlossen. Einfluss von unten, von der Basis der Bevölkerung her auszuüben, war – trotz Bekenntnis zur Volksdemokratie in der Verfassung von 1949 und zur „Macht der Werktätigen“ in der Verfassung von 1968 – nicht möglich.
Auch die sogenannten Blockparteien (CDUD, LDPD, NDPD, DBD), die nach 1945 dem „Antifaschistisch-demokratischen Block“ angehörten, wurden sukzessive auf die Politik der SED ausgerichtet. Gesellschaftliche Freiräume, in denen sich Bürgerinnen und Bürger vertrauensvoll austauschen konnten, ohne für sich und ihre Familienangehörigen Risiken in Kauf zu nehmen, bestanden kaum. Ein generalisiertes Misstrauen wurde daher für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltagsleben überlebenswichtig, zugleich erschwertes es die Entwicklung von Ansätzen gemeinschaftlichen Handelns außerhalb der Grenzen von Verhaltensnormen, die bei der Parteielite wohlgelitten war. Die Bildung von nicht-konformen Gemeinschaften wurde zudem aufgrund der Gefahr von Denunziation und der Tätigkeit der Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit erschwert.
Der Marxismus-Leninismus avancierte zur dominanten Ideologie, die als angeblich wissenschaftlich bewiesene Lehrmeinung allen Bürgerinnen und Bürgern während ihrer Ausbildung aufgezwungen wurde. In den 1950er-Jahren bildete sich eine politische Parteielite heraus, die Leitungsfunktionen besetzte, ideologisch über Konformität und Abweichung entschied und eine Nomenklatur der Personalrekrutierung erstellte.
Bis zum Bau der Mauer 1961 verließen daher viele Bürgerinnen und Bürger, die sich eine von der Partei und ihren Vorgaben abweichende Lebensführung und Denkweisen zu eigen gemacht hatten, das Land, um dem totalitären Zugriff des Parteien-Staates auf ihre Person zu entgehen.
Religionsgemeinschaften beziehungsweise Kirchen waren die einzigen nicht gleichgeschalteten Einrichtungen.Aber es kann keine Rede davon sein, dass ihnen ein Recht auf unbehelligte Ausübung ihrer Religion gewährt wurde. Beide christlichen Kirchen hatten es mit immer wieder erneuten Einschränkungen ihres Handlungsraums in Gemeinden und Schulen zu tun. Die SED veränderte mehrfach ihre Haltung gegenüber den Kirchen und erschwerte es den Christen durch offene und latente Überwachung der kirchlichen Einrichtungen, ihren Glauben gemeinsam zu praktizieren.
Selbst deren Recht auf die Ausübung ihrer Religion wurde nur eingeschränkt gewährt, da die SED ihnen nur einen sehr begrenzten Handlungsraum zugestand, auf latenter Überwachung bestand, unter anderem mit Hilfe angeworbener Informanten der Staatssicherheit, und ihre Politik mehrfach veränderte. Sie betrachtete Religion als Konkurrenzunternehmen zur propagierten marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Insbesondere der kirchliche Einfluss auf die Jugend durch Religionsunterricht, Jugendarbeit und Konfirmation beziehungsweise Firmung war der Partei ein Dorn im Auge, sodass der Druck auf Familien und Jugendliche zunahm, sich für FDJ und Jugendweihe zu entscheiden. Einerseits war religiöse Bindung ein klares Hemmnis für eine berufliche Karriere, andererseits sahen sich viele (wie zum Beispiel der spätere Bundespräsident Joachim Gauck) gezwungen, Theologie zu studieren, weil ihnen aufgrund ihres „abweichenden Verhaltens“ (oder das ihrer Angehörigen) keine Erlaubnis für eine Bildungslaufbahn an staatlichen Einrichtungen gewährt wurde.
Als mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft stand die evangelische Kirche im Fokus, zumal Ost und West bis 1968 zusammen zur EKD gehörten. In Anbetracht vieler kritischer Stimmen gegen die Politik der DDR (wie die von Bischof Dibelius) nahmen die Konflikte zwischen Staat und Kirche zu. Schließlich gründeten die ostdeutschen Landeskirchen den Bund evangelischer Kirchen in der DDR (BEK) und traten aus der EKD aus. Ihre neue Formel „Kirche im Sozialismus“ signalisierte Kompromissbereitschaft. Seit 1961 trat die Kirche gegen eine Militarisierung der Gesellschaft ein. Daraus entstand allmählich eine Friedensbewegung in der Kirche, die sich bis zu den Jahren der Wende weiterentwickelte und dieser den Namen „protestantische Revolution“ eintrug.
Die Friedensbewegung nahm Ende der 1970er und in den 1980er Jahren Fahrt auf mit Initiativen wie „Schwerter zu Pflugscharen“. Junge Leute setzten sich für Abrüstung, Entspannungspolitik und Umweltbewusstsein ein sowie – insbesondere nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann – für eine Reform des Sozialismus. Kirchliche Einrichtungen dienten zunehmend als Kultur- und Schutzraum einer „anderen“ Bildung, offener Diskussionen und der Suche nach eigenen kulturellen und gesellschaftskritischen Ausdrucksmöglichkeiten. Im Zuge der Schwächung des DDR-Regimes durch den Verlust der jederzeit eingriffsbereiten Schutzmacht der Sowjetunion, die 1953 gegen den Bauarbeiteraufstand in Berlin brutal ihre Panzer eingesetzt hatte, entwickelte sich in Protestmärschen, Diskussionsveranstaltungen, an runden Tischen, bei wöchentlichen Friedensgebeten und durch das mutige Engagement von Pastorinnen und Pastoren aus den Kirchen heraus die friedliche Revolution.
VII. Ausblick: Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik (1990) - Ende gut, alles gut?
Und das Ende? Das Ende des zentralistisch-diktatorischen Systems DDR ist im Osten Deutschlands ein erneuter föderaler Anfang der Länder, die nun auch hier einen entsprechenden Namen erhalten: Bundesländer. Die erste frei gewählte Volkskammer beschloss am 22. Juli 1990 mit dem „Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik“, die Länder wiedereinzuführen. Dabei hielt sie sich weitgehend an die „alten“ Ländergrenzen, die zugunsten der Bezirkseinteilung aufgelöst worden waren. Die Volkskammer hatte „in der Nacht vom 22. auf den 23. August den Beschluss gefasst, der Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 beizutreten. Nach Art. 1 des Einigungsvertrages wurde die DDR um Mitternacht jenes Tages in einer ´juristischen Sekunde` von ihren neugebildeten Ländern abgelöst, die dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten.“ Nicht die DDR, sondern die Länder traten der Verfassung der Bundesrepublik bei.
Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 bekamen die auf dem Territorium der ehemaligen DDR neu gegründeten fünf Bundesländer und das wiedervereinte Land Berlin ihre Souveränitätsrechte zurück. Im Bundesrat erhielten ca. 16,5 Millionen ostdeutsche Bürger und Bürgerinnen eine überaus günstige Repräsentation: Ihre sechs Bundesländer bekamen 23 von insgesamt 69 Stimmen. Die ostdeutsche Bevölkerung mit einem Anteil von rund 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung (von 82,5 Millionen) verfügt demnach über ein Drittel der Stimmen. Die westdeutsche Bevölkerung, die in zehn Bundesländer lebt und rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, verfügt somit lediglich über zwei Drittel, also 46 Stimmen im Bundesrat. In dieser Entscheidung spiegelt sich die föderale Verfassungstradition der Bundesrepublik
Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, die so lange keine vergleichbare Freiheit besaßen, von der herrschenden Ideologie abweichende Interessen öffentlich zu artikulieren, sollten sich im wiedervereinten Deutschland nicht als homogene Gruppe repräsentieren müssen. Vielmehr sollten sie nun endlich die Chance wahrnehmen können, unterschiedliche Perspektiven, die sich aus ihren historischen, kulturellen und sozialen Traditionen und Mentalitäten ergeben, in die politische Willensbildung einbringen zu können. Ihr neues Selbstbewusstsein dokumentierte sich bereits im Jahr 1996, als die Bevölkerung des Landes Brandenburg mit einer Mehrheit der Stimmen (von 62,72 zu 36,57 bei einer Wahlbeteiligung von 66, 38 Prozent) einer „Neuordnung des Bundesgebiets“ zu einem Bundesland Berlin-Brandenburg eine klare Absage erteilte.
Über drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung werden neue Herausforderungen für die subsidiäre und föderale Ordnung deutlich: Zwar haben viele Trägerorganisationen und -schichten der „alten“ Bonner Republik (Kirchen, Parteien, Verbände, Vereine) Mitglieder verloren und manche Einrichtungen büßen ihren gesellschaftlichen Einfluss aufgrund zutage tretender Missstände ein. Dafür entwickeln sich aber neue basisnahe Initiativen, die auf aktuelle Probleme reagieren und die Interessen von jeweiligen Bevölkerungsgruppen zur Sprache bringen, für demokratische Repräsentation sorgen und oftmals vor Ort eigene Problemlösungen kommunal umsetzen. Selbstorganisierte Projekte in Stadt und Land leisten derzeit im Zusammenhang einer forcierten weltweiten klima- und energiepolitischen Wende langfristig wichtige Beiträge.
Inzwischen bestehen zudem viele Non-Profit-Organisationen, die länderübergreifende und globale Anliegen zum Ausdruck bringen. Daher gilt auch für die „Berliner Bundesrepublik“, die aktiv an der Entwicklung einer europäischen Einheit teilhat: Mehr denn je sind Bevölkerungen keine homogenen Gruppen, sondern durch die Unterschiede in ihrer Geschichte, in ihrer Lebensweise und in ihren religiösen, kulturellen und sozialen Präferenzen geprägt. Sie benötigen subsidiäre Organisationsformen, um ihre Verschiedenheit freiheitlich zum Ausdruck zu bringen, verhindern bürokratische Erstarrungen wie sie für autoritäre Regime typisch sind. Sie bereichern dadurch die Gesellschaft und integrieren und befrieden auftretende Konflikte immer wieder neu.
Auch die Funktionalität der bestehenden föderalen Ordnung ist nicht in Stein gemeißelt, sondern muss neuen Herausforderungen entsprechend immer wieder angepasst werden. Die jüngsten Erfahrungen mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie sind künftig zu berücksichtigen. Was darf der Bund, was dürfen die Länder? Wo bedarf es in solchen Krisenfällen neuer Brückenschläge?
Zu beachten ist: Jeder Abbau tief verankerter Rechte an der gesellschaftlichen Basis ist verbunden mit einem Abbau von Heterogenität und Pluralität im Leben der Menschen. Es bedarf aktiver Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Bewahrung und Weiterentwicklung der Subsidiarität und des Föderalismus in Deutschland begeistern. Insofern stimmt es optimistisch, dass 2021, im 450. Jubiläumsjahr der Emder Synode, die evangelische Kirche im Rheinland, insbesondere in ihren Gemeinden Kleve und Mark, die Grundsätze dieser so prägenden Synode mit einem Bekenntnis zur basisnahen Gemeindeorganisation, zur Solidarität und Subsidiarität erneut ins Zentrum ihrer Kirchenordnung gestellt hat, sind doch von dieser Synode so viele Impulse für die Geschichte der Subsidiarität und die Entwicklung des Föderalismus augegangen.
Zitierweise: Christiane Bender/Hans Graßl, „Föderalismus und Subsidiarität - Frühe Wurzeln des föderalen Verfassungsstaats“, in: Deutschland Archiv, 20.10.2022, Link: www.bpb.de/508786.
Dr. rer. pol. habil., Dr.phil., Dipl. Soz.; Professorin für Allgemeine Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. E-Mail Link: bender@hsu-hh.de
Dr. phil. habil., Dipl. oec. Hans Graßl, Professor für Soziologie am POLIS - Zentrum für politische und soziologische Bildung der Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2, 57076 Siegen, grassl@soziologie.uni-siegen.de
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