"Schneewittchens" ominöse Flucht
Der Fall Schalck-Golodkowski
Andreas Förster
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Wie sich am 3. Dezember 1989 der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski heimlich in den Westen absetzte. Nacherzählt anhand von Stasiakten und jetzt freigegebenen Dokumenten des Bundesnachrichtendienstes BND. Eine Recherche von Andreas Förster.
Der 3. Dezember 1989 ist noch keine Stunde alt, da passiert ein dunkelblauer BMW mit Ostberliner Kennzeichen den Grenzübergang in der Invalidenstraße Richtung Westberlin. Am Steuer sitzt Alexander Schalck-Golodkowski, Stasi-Oberst und zugleich einer der mächtigsten und einflussreichsten Wirtschaftsfunktionäre der DDR. Auf dem Beifahrersitz neben ihm hat seine Ehefrau Sigrid Platz genommen. In dem für die Devisenbewirtschaftung zuständigen Außenhandelsbereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der von ihrem Mann geleitet wird, ist sie für die Versorgung der Politbüromitglieder in der SED-Funktionärssiedlung Wandlitz zuständig. Es sind also zwei hochrangige Geheimnisträger der DDR-Nomenklatura, deren Ziel es in dieser Nacht ist, sich in den Westen abzusetzen.
Bis heute sind viele Einzelheiten dieser plötzlichen und aufsehenerregenden Flucht ungeklärt geblieben, die in der von den Wendewirren ohnehin geschüttelten DDR ein Beben auslöste: Wer wusste von den Fluchtabsichten des Ehepaars? Welche Rolle spielten Stasi und Bundesnachrichtendienst (BND), wie reagierten SED-Führung und Bonner Bundesregierung – und wie verhielten sich die westlichen Alliierten in dieser Situation? In welcher Gefahr schwebten die Schalcks tatsächlich vor und nach ihrem Untertauchen? Erstmals hat jetzt der BND einige Unterlagen zu Schalck freigegeben, die einen Einblick geben in das Agieren des Pullacher Geheimdienstes und des Bundeskanzleramts in jenen Dezembertagen 1989.
Zudem enthüllen bislang kaum beachtete Akten aus dem Stasiarchiv weitgehend unbekannte Details, die der DDR-Staatssicherheitsdienst über Schalcks Flucht und die Tage danach zusammengetragen hatte. Sie zeigen unter anderem, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) damals genau wusste, wo sich der Staatssekretär in Westberlin aufhielt, und wie eng sein Kontakt in dieser Zeit zum damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) war. Damit vervollständigen die Akten von BND und MfS das Puzzle jener denkwürdigen Dezembertage weiter, auch wenn das ganze Bild – was noch zu zeigen sein wird – weiterhin Lücken aufweist.
Seit 1962 in Diensten der Stasi
Um die Bedeutung von Schalcks Flucht zu verstehen, lohnt ein Blick auf Leben und Karriere des einstigen KoKo-Chefs. Alexander Schalck kam am 3. Juli 1932 in Berlin zur Welt. Sein Vater, ein russischer Offizier, der nach der Oktoberrevolution staatenlos wurde, arbeitete als Taxifahrer, seine Mutter, in Hamburg geboren, war Masseurin. 1948 begann Schalck eine Lehre in den Ostberliner Elektro-Apparate-Werken (EAW). Mit 20 Jahren wechselte er ins DDR-Ministerium für Außenhandel, wo er es schließlich bis zum Staatssekretär und zweifachen Träger des Karl-Marx-Ordens bringen sollte.
Von Beginn an hatte Schalck einflussreiche Freunde in der Partei, die ihn förderten. Aber es war nicht nur die SED, die sein Potenzial erkannte. 1962 holte ihn die Stasi in ihre Reihen, was seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägte. Mit der Hilfe des Geheimdienstes und der persönlichen Rückendeckung von MfS-Chef Erich Mielke baute Schalck von Oktober 1966 an einen klandestinen Westhandelskonzern mit Milliardenumsatz auf – den Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ im Ministerium für Außenhandel der DDR, bekannt als KoKo, mit dem Ziel der „Sicherung der einheitlichen Leitung und Kontrolle von Außenhandelsoperationen, die der Erwirtschaftung kapitalistischer Valuta außerhalb des Staatsplans dienen“, so hielt es das MfS im Oktober 1966 in einer Ministerinformation fest. Das Spektrum reichte vom Müll- bis zum Waffenhandel.
Bis zur Revolution im Herbst 1989 dirigierte Schalcks KoKo heimlich rund 200 Firmen, die allermeisten davon im westlichen Ausland. Die KoKo-Unternehmen erwirtschafteten Devisen für den klammen SED-Staat, durchschnittlich mehr als eine Milliarde D-Mark jährlich. Erreicht wurde der Gewinn durch legalen Handel einerseits, andererseits aber auch durch sogenannte "Umgehungs-" und "Sondergeschäfte", dazu gehörten auch Schmuggel- und Schiebergeschäfte mit Waffen und Munition, Antiquitäten, Briefmarken, Schmuck und Edelmetallen, die nicht selten aus zweifelhaften Quellen stammten, sowie der Transfer von Erbschaften. Durch sein Geschick und seine Skrupellosigkeit beim Einfädeln von Geschäften wurde Schalck zum wichtigsten Devisenbeschaffer des SED-Staats. Nur Partei-Chef Erich Honecker, der SED-Wirtschaftslenker Günter Mittag und Stasi-Chef Mielke erhielten gelegentlich Berichte von ihm, aber ein Kontrollgremium gab es nicht.
Daneben gewann er das Vertrauen bundesdeutscher Spitzenpolitiker, die ihn in den 1980er-Jahren als zuverlässigen Unterhändler Honeckers schätzen lernten. Sein diplomatisches Geschick, gepaart mit einer wohlbemessenen Berliner Schnodderigkeit, kam in westdeutschen Machtkreisen an. Mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und Interner Link: CSU-Chef Franz Josef Strauß fädelte er 1983 und 1984 zwei politisch im Westen hoch umstrittene Milliardenkredite für die DDR ein. Eine Art Freundschaft entstand zwischen den beiden Männern, die bei ihren diskreten Gesprächen in Bayern so manche geheime Informationen über Politik und Militär austauschten. Zu den ersten konspirativen Treffen ließ sich Schalck an einer der Grenzübergangsstellen zwischen Bayern und der DDR heimlich abholen.
Auch der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, bis April 1989 Bundeskanzleramtschef im Kabinett unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) und ab dann bis 1991 Bundesinnenminister, hielt offensichtlich Kontakt zum Stasi-Oberst. So soll Schäuble in jener Zeit einmal spätabends in der Stasi-Siedlung am Hohenschönhausener Obersee vorgefahren sein, um im Privathaus von Schalck heikle Fragen der deutsch-deutschen Asylpolitik zu besprechen; so berichtete es Alexander Schalck im Juni 1992 dem Schalck-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag.
BND seit 1981 durch Überläufer über „KoKo“ informiert
Im Pullacher Hauptquartier des BND – das zeigen die jetzt freigegebenen Unterlagen des Geheimdienstes aus jener Zeit – war man ab Ende 1981 ziemlich genau im Bilde über die Rolle von Schalck und seiner KoKo. Zu verdanken hatte das der Dienst einem in jeder Hinsicht gewichtigen Überläufer aus der DDR, dem Geschäftsmann Günther Asbeck. Der wegen seiner Leibesfülle „der Dicke“ genannte Asbeck hatte in Ostberlin jahrzehntelang eine Firma namens Asimex betrieben, die im Auftrag der KoKo im Westen mit Lebens- und Genussmitteln handelte. Auch diente die Asimex als Abdeckung für Geheimoperationen der Stasi-Auslandsaufklärung HV A.
Nach seiner Flucht in den Westen packte Asbeck, der über enge Kontakte im DDR-Apparat bis hinauf ins Politbüro verfügte, sein Wissen über Behörden und Protagonisten des SED-Regimes beim BND aus. Von dem Überläufer erhielt Pullach zudem eine Fülle von Details über Schalck, dessen Stasi-Anbindung und die KoKo. Sogar einen Grundriss der Ostberliner KoKo-Zentrale in der Wallstraße in Mitte zeichnete Asbeck dem BND auf sowie eine Skizze der dortigen Chefetage, in der selbst die Kameras und die Stellung der Möbel in Schalcks Büro eingezeichnet waren.
Der BND leitete die Erkenntnisse über Schalck und dessen KoKo sowie weitere wichtige Informationen aus den Gesprächen mit Asbeck zeitnah an die Bundesregierung weiter. Aus den BND-Akten geht hervor, dass ab 19. November 1981 – zwei Wochen nach Beginn der Befragung des Überläufers – der damalige Chef des Bundeskanzleramtes , Staatssekretär Manfred Lahnstein (SPD), sowie wenig später auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) regelmäßig zusammenfassende Berichte „aus der besonderen Quelle“ erhielten, wie es in den Begleitschreiben des damaligen BND-Präsidenten Klaus Kinkel heißt.
Ab Anfang 1982 übermittelte Pullach ausgewählte Erkenntnisse aus den Asbeck-Befragungen zudem an das Bundeswirtschaftsministerium sowie an die Bundestagsfraktionschefs von SPD, CDU/CSU und FDP. Die politische Führung in Bonn war also genau im Bilde, wer sich hinter den mit westdeutschen Konzernen eifrig Handel treibenden KoKo-Firmen verbarg und mit wem CSU-Chef Strauß ab 1983 in vertraulichen Runden zusammensaß, um den mit der Kohl-Regierung abgestimmten Milliardenkredit für die klamme DDR auszuhandeln.
An die Öffentlichkeit lancierten BND und Bundesregierung gleichwohl keine Interna über die KoKo. Zum einen aus politischem Interesse, weil man den deutsch-deutschen Unterhändler nicht desavouieren und den Freikauf von DDR-Häftlingen, in den die KoKo ebenfalls eingebunden war, nicht gefährden wollte; zum anderen aus wirtschaftlichem Interesse, da eine Reihe namhafter deutscher Unternehmen gute Geschäfte mit Schalcks Firmenimperium machte. Als doch einmal der Spiegel 1988 eine große Geschichte über Schalck und die KoKo vorbereitete, nahm Bonn erfolgreich Einfluss darauf, dass die Veröffentlichung verschoben wurde. Das Magazin hatte seine Informationen vermutlich vom Berliner Verfassungsschutz gesteckt bekommen, dem der BND zuvor auf Anfrage mehrere entsprechende Erkenntnisse übersandt hatte.
Schalck: Die DDR auf dem Weg zum „zwölften Bundesland der BRD“
Und so schien Schalck auch noch zu Beginn des Revolutionsherbstes 1989 fest im Sattel zu sitzen. Sogar Interner Link: Waffendeals mit Syrien, in die er verstrickt war, wurden noch im September und Ende Oktober 1989 geplant.
Auch formulierte Schalck noch im Oktober und November 1989 Konzepte für den Honecker-Nachfolger Egon Krenz und den neuen SED-Ministerratsvorsitenden Modrow über die "weitere Arbeit der bestehenden Arbeitsgruppe des Politbüros BRD/Westberlin". In einem langen Fernsehinterview Anfang November präsentierte sich der bis dahin stets im Hintergrund agierende Staatssekretär den staunenden DDR-Zuschauern als mutiger Wirtschaftsreformer, der kein Blatt vor den Mund nahm bei der Beschreibung der misslichen ökonomischen Lage des Landes. Und für den Honecker-Nachfolger Egon Krenz führte er Interner Link: vertrauliche Verhandlungen in Bonn mit dem damaligen Bundesinnenminister Schäuble. Schalck sollte dabei die Bedingungen einer Sicherheits- und Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten ausloten. Die Gespräche kamen gut voran. Voller Euphorie verkündete er Ende Oktober nach der Rückkehr aus Bonn seiner Sekretärin, nun sei alles perfekt, die DDR werde das 12. Bundesland der BRD.
Doch Schalck und Krenz, das Politbüro und die Stasi hatten sich verschätzt. Das Versprechen von demokratischen Reformen und die vermeintliche Dialogbereitschaft der SED-Führung verfingen nicht beim Volk. Die Bürger trauten den gewendeten Parteikadern nicht. Der Druck der Straße nahm weiter zu. Hinzu kamen interne Machtkämpfe in der SED-Spitze, bei denen die Kräfte die Oberhand gewannen, die eine Rettung der Partei und ihres Vermögens präferierten, selbst auf Kosten eines Machtverlustes. Auch kam der Mauerfall dem Erfolg neuerlicher Verhandlungen Schalcks, der am 6. November 1989 erneut als Verhandler nach Bonn geschickt worden war, zuvor.
Schalck ahnte, dass er ein Opfer des SED-Machtkampfes werden konnte, indem der Volkszorn auf seine KoKo gelenkt und ein Exempel an ihm statuiert werden könnte. Während eines seiner vielen Gespräche mit Wolfgang Schäuble in diesen Tagen fragte er seinen Gesprächspartner, ob er mit Hilfe rechnen könne, wenn es für ihn notwendig wäre, sich aus der DDR abzusetzen, wörtlich: "ob er denn in der Bundesrepublik geschützt würde, wie das denn wäre". Schäuble habe genickt und sinngemäß geantwortet, "daß er als Deutscher selbstverständlich Aufnahme finden könne."
In Bonn verfolgte man den Machtkampf in Ostberlin aufmerksam. Da veröffentlichte der Spiegel am 20. November 1989 unter dem Titel „Fanatiker der Verschwiegenheit“ sein schon ein Jahr zuvor recherchiertes Dossier über Schalck und seine KoKo. Garniert war das Ganze mit Anekdoten über den skrupellosen Deviseneintreiber. Die Spiegel-Geschichte verfehlte ihre Wirkung nicht. Schalck wurde aus dem Zentralkomitee geworfen, die Stasi entpflichtete ihn kurzerhand, Mielke-Nachfolger Wolfgang Schwanitz rief den Oberst persönlich an: „Genosse Schalck, wir können nichts mehr für Dich tun.“
Die nächtliche Flucht
Als der einst so mächtige Staatssekretär am späten Abend des 2. Dezember von seinem Freund, dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, auch noch erfuhr, dass bereits ein Haftbefehl für ihn ausgestellt sei, blieb ihm nur die rasche Flucht in den Westen. In der eiskalten Dezembernacht, um 0.40 Uhr, passierte das Ehepaar Schalck die Grenze nach Westberlin. Unter den Augen der Stasi, wie der KoKo-Chef später erzählte. Auf ihrem Weg zum Übergang in der Invalidenstraße sei ihnen ein Lada gefolgt, sagte er vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss. Als das Ehepaar die Grenzkontrolle passierte habe, sei der Lada abgedreht.
Gut drei Stunden nach der Flucht Schalcks, gegen 4 Uhr früh, wurde SED-Ministerpräsident Hans Modrow aus dem Bett geklingelt und informiert. Die Nachricht von der Flucht blieb jedoch noch bis 10 Uhr gesperrt, als wolle man dem alten Kameraden offenbar ein wenig Vorsprung lassen. Erst gegen Mittag zogen Polizeikräfte vor insgesamt 15 KoKo-Objekten in Berlin und vor Schalcks Wohnhaus in der Hohenschönhausener Manetstraße auf, um eine Besetzung durch Bürgergruppen und den Abtransport von Akten zu verhindern.
Sigrid Schalck hatte die Nachrichtensperre genutzt, um am Vormittag dieses Sonntags noch einmal unbehelligt nach Ostberlin zurückkehren und ein paar Sachen aus ihrem Wohnhaus zu holen. Darunter auch möglicherweise Bilder aus der wertvollen Privatsammlung zeitgenössischer Kunst. Für ihre Haushälterin, Frau Baldauf, ließ sie einen handschriftlichen Abschiedsgruß zurück. Der offenbar in großer Eile und fehlerhaft geschriebene Text lautet: „Werte Frau Baldauf, wir fahren in Urlaub diese Hetze und Verleumnung ist jetzt nicht zu ertragen. Bis bald Fam. Schalck.“
Unklar blieb in der MfS-Zentrale, wie schnell Schalck im Westen sein Geheimwissen auf den Tisch legen würde. Die Stasi ließ daher schon wenige Stunden nach der Flucht mehr als 40 Firmen und Geschäftsleute im Westen, die mit der KoKo in Beziehung standen, von der Stasi-Lauschabteilung HA III in Zielfahndung nehmen und rund um die Uhr überwachen. Darüber hinaus wurden Fahndungsmaßnahmen zu insgesamt 30 führenden KoKo-Mitarbeitern eingeleitet. Sollte einer von ihnen an einem Grenzübergang auftauchen, sollte vor dessen Passieren erst Rücksprache mit dem MfS gehalten werden, lautete die Anweisung. Die Angst war groß, dass noch weitere Schalck-Getreue überlaufen und umfangreich auspacken könnten über geheime Konten und illegale Geschäfte des Bereichs.
Dass diese Furcht nicht unbegründet war, erwies sich am 5. Dezember. Kurz nach 18 Uhr fischten die DDR-Kontrollkräfte ein Ehepaar aus dem Strom von Menschen, die über den Grenzübergang Oberbaumbrücke nach Westberlin drängten. Es handelte sich um den Chef der KoKo-Waffenhandelsfirma Imes, Ehrhardt Wiechert, und seine Ehefrau. Beide Personen hätten einen nervösen Eindruck gemacht, heißt es im Bericht der Grenzkontrolleure. Die Wiecherts führten kein Gepäck mit sich, wird weiter vermerkt. Allerdings sei in der Handtasche der Ehefrau ein Zettel versteckt gewesen, auf dem eine Westberliner Anschrift notiert war. Wiechert und seine Frau wurden wieder zurückgeschickt. Einen Tag später meldete sich die Stasi bei dem Imes-Chef und erklärte ihm, dass er vorläufig nicht in den Westen reisen dürfe.
Am 3. Dezember, nur wenige Stunden nach Schalcks Flucht, hörte die Stasi ein Gespräch von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel mit einem Vertrauten ab. Darin erzählte Vogel, dass er wisse, wo sich der KoKo-Chef aufhalte, er unterliege in dieser Sache aber der Schweigepflicht. Die Stasi-Lauscher notierten auch eine klare Drohung des Anwalts: „Von Sch.-G. habe Vogel Informationen erhalten, die es ihm möglich machen würden, dafür zu sorgen, dass Sch.-G. ‚nicht allein in die Ecke gestellt’ werden kann. … Er habe lediglich das gemacht, was ihm das Politbüro gesagt hat“, heißt es im Bericht der HA II.
Protegiert von Wolfgang Schäuble?
In den Tagen nach Schalcks Flucht meldeten sich mehrere Personen bei Ostberliner Behörden, weil sie angeblich den Aufenthaltsort des Flüchtigen kannten. Ein Professor etwa behauptete, Schalck verstecke sich in der Wohnung seiner geschiedenen Ehefrau in Prenzlauer Berg; ein inoffizieller Stasi-Mitarbeiter namens IM „Christian“ war überzeugt, der KoKo-Chef sei bei einem Freund im jugoslawischen Dubrovnik untergetaucht.
Doch in der Normannenstraße wusste man es besser – dank abgehörter Telefongespräche, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit seinem Büro in Bonn führte. Schäuble war kurz nach Schalcks Flucht nach Westberlin gereist. In die über Richtfunkstrecke geführten Gespräche des Ministers mit seinem Büro in Bonn hatte sich die Stasi eingeklinkt und hörte alles mit. Das zusammenfassende Stasi-Dokument vom 5.12.1989 ist nachlesbar Interner Link: als PDF unter diesem Link.
Auf diese Weise erfuhren die MfS-Lauscher am 4. Dezember, dass sich Schalck immer noch in Westberlin versteckte. Pläne für eine ursprünglich überlegte Weiterreise nach Moskau hatte das Ehepaar nach den ersten Medienberichten über die Flucht in den Medien aus Vorsicht wieder verworfen.Am Abend dieses Tages hatte Schäuble seine Sekretärin angerufen, um „über die aktuelle Situation im Fall Schalck-Golodkowski unterrichtet zu werden“, wie die Stasi festhielt. Die Sekretärin informierte den Minister, dass sich Schalck nur zwanzig Minuten zuvor, um 21.30 Uhr, bei ihr in Bonn telefonisch gemeldet habe. Er habe dabei angegeben, inzwischen mit seinem „Schutzpatron“ gesprochen zu haben – gemeint war damit offenbar der Pfarrer Karl-Heinz Neukamm, Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands. Schäuble hatte Neukamm als seinen Mittelsmann benannt, als Schalck sich zwölf Stunden nach seiner Flucht beim Minister in Bonn gemeldet hatte.
Schäubles Sekretärin informierte in dem abgehörten Telefonat vom 4. Dezember ihren Chef über das Treffen zwischen Schalck und Neukamm in Westberlin. „Im Ergebnis dieses Gesprächs soll festgelegt worden sein, dass das über die Amis läuft“, wurde die Sekretärin im Stasi-Bericht wiedergegeben. Schäuble erklärte daraufhin, dass er sich noch am selben Abend mit Neukamm in Westberlin treffen werde. Ob Schalck bei dem Treffen mit dabei sein sollte, geht aus den MfS-Akten nicht hervor.
Mitwissende westliche Geheimdienste
Doch was sollte „über die Amis“ laufen? Offenbar war damit gemeint, den kostbaren Überläufer alsbald aus Westberlin herauszuschaffen. Denn Bonn dürfte klar gewesen sein, dass Schalck in der Stadt vor einem Greif- oder gar Killerkommando der Stasi nicht sicher war. Diese Angst hatte wohl auch der Flüchtling. Laut Stasi-Bericht sagte Schalck in dem Telefonat mit Schäubles Sekretärin, „er müsse halt dahin gebracht werden, wo sie die Macht hätten, egal wie, er muss jetzt raus“. Sollten der US-Geheimdienst CIA oder das US-Militär dazu gebracht werden, den Transport Schalcks an einen sicheren Ort zu übernehmen?
Dass die Alliierten ein großes Interesse an dem prominenten Flüchtling aus der DDR hatten, wusste auch der BND-Verbindungsbeamte in Westberlin zu berichten. In einem Telex an die Pullacher Zentrale vom 7. Dezember, vier Tage nach Schalcks Flucht, schrieb der Beamte mit dem Dienstnamen Zangberg:
„Die britische Militärregierung bemüht sich sehr um Sch. und hat ihre Rechtsberaterin … mit der Gesprächsführung beauftragt. Ebenso rief der französische VO (Verbindungsoffizier – d.A.) bei mir an, mit der Bitte um Aufklärung über den Vorgang Sch.“ Das BND-Archiv-Dokument vom 7.12.1989 ist nachlesbar Interner Link: als PDF unter diesem Link.
Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sich Schalck in Westberlin schon den Behörden gestellt. Am Abend des 6. Dezembers, nachdem er und seine Frau sich drei Nächte lang bei einer befreundeten Unternehmerin in Westberlin verborgen hatten, meldete sich der KoKo-Chef in Begleitung seines Rechtsanwalts, dem Westberliner SPD-Politiker Peter Danckert, in der Haftanstalt Moabit, wo er sich freiwillig in Haft begab. Möglicherweise hatte Innenminister Schäuble auf ihn eingewirkt, sich nicht in die Hände der Alliierten zu begeben. Schon am Tag darauf übergaben DDR-Kuriere der Staatsanwaltschaft beim Westberliner Kammergericht „ein Rechtshilfeersuchen nebst Haftbefehl wg. Veruntreuung mit der Bitte um Zulieferung des Sch.“, wie es in einem BND-Telex vom 7. Dezember heißt.
Die Behörden steckten nun in der Bredouille. Ohne ein eigenes Ermittlungsverfahren gegen Schalck hätten sie den Flüchtling nach dem Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen ausliefern müssen. Deshalb ersuchte das Westberliner Landesamt für Verfassungsschutz (BND-Deckbezeichnung „Leder“) die Pullacher Zentrale darum, das ihnen ein Jahr zuvor bereitgestellte Material über die KoKo schnellstmöglich freizugeben. „Hintergrund ist die Anfrage des Innensenators bei Leitung Leder nach Erkenntnissen zu Sch., die zur Weitergabe an die Justiz vorgesehen sind“, berichtete der BND-Beamte Zangberg in seinem Telex vom 7. Dezember.
Der BND wandte sich an das Kanzleramt mit der Bitte um eine schnelle Entscheidung. „Angesichts der politischen Brisanz wurde dem LfV die Freigabe (der BND-Erkenntnisse – d.A.) zunächst verweigert und auf eine Grundsatzentscheidung der Bundesregierung verwiesen“, schrieb BND-Präsident Hans-Georg Wieck am 8. Dezember an Kanzleramtschef Rudolf Seiters. „Ich rege an, die Angelegenheit am Rande der ND-Lage (gemeint ist die regelmäßige nachrichtendienstliche Lagebesprechung im Kanzleramt – d.A.) am Dienstag, den 12.12.89, zu erörtern.“
Doch Bonn zögerte. Offenbar fürchtete man dort, die gerade sehr heikle Phase der Annäherung zwischen Ostberlin und Bonn zu gefährden, wenn man dem Überläufer Schutz gewährt. Der BND machte nun Druck, verwies auf die Gefährdung Schalcks in Westberlin. „In ‚Führungskreisen‘ des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besteht geradezu ‚panische Angst‘ davor, dass sich Schalck westlichen Stellen gegenüber eröffnen und Interna seiner langjährigen Tätigkeit … preisgeben könne“, gab BND-Präsident Wieck in einem Fernschreiben vom 15. Dezember an das Bundeskanzleramt die Meldung einer „sehr zuverlässigen Quelle des Bundesnachrichtendienstes“ wieder. Weiter heißt es in dem Telex:
„In den o. a. Führungskreisen ist bekannt, dass Schalck in schwerwiegende Korruptionsaffären verwickelt war, die auch ehemalige Spitzenfunktionäre der SED und des MfS miteinbezogen. … Die angesprochenen ‚Führungskreise‘ setzen alles daran, derartige Eröffnungen Schalcks zu verhindern. Sie geben vor, jederzeit über sein Verhalten in der Untersuchungshaft (Gefängnis Moabit) informiert zu sein. Ferner gehen sie davon aus, den Zeitpunkt seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft rechtzeitig zu erfahren und ggf. auch im Gefängnis einen ‚Anschlag auf Leib und Leben Schalcks‘ durchführen zu können.“ Das entsprechende BND-Archiv-Dokument vom 15.12.1989 ist nachlesbar Interner Link: als PDF unter diesem Link.
Das überzeugte Bonn offenbar. Noch am selben Tag erteilte Kanzleramtschef Seiters die Zustimmung zur Freigabe der BND-Erkenntnisse über die KoKo „in quellenbereinigter Form“ an die Berliner Staatsanwaltschaft. Der Geheimdienst übermittelte daraufhin der Justiz einen zwölfseitigen Bericht mit dem Titel „Aufgaben und Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel“. Er beinhaltete in einem zweiseitigen Anhang auch detaillierte Angaben über die Persönlichkeit und das Privatleben Schalcks. Das zusammenfassende BND-Archiv-Dokument über Schalck (undatiert) ist nachlesbar Interner Link: als PDF unter diesem Link.
Drei BND-Quellen über die KoKo
Der Report basierte im Wesentlichen auf den Angaben dreier Quellen, die der BND in den 1980er-Jahren rekrutieren konnte: Der schon erwähnte Überläufer Günther Asbeck, der 1983 in den Westen geflohene Chef der KoKo-Firma Kunst und Antiquitäten GmbH, Horst Schuster, sowie ein ehemaliger Mitarbeiter aus dem Technologiekombinat Carl Zeiss Jena, der eng mit der KoKo zusammengearbeitet hatte. Von besonderem Interesse für die Strafverfolgungsbehörde dürften dabei die in dem BND-Bericht enthaltenen Informationen über die Beteiligung der KoKo am Embargo- und Waffenhandel und die enge Verquickung des Bereichs und seines Leiters Schalck mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst gewesen sein. Boten sich damit doch Ansatzpunkte für ein eigenes Ermittlungsverfahren, mit dem man die Auslieferung des Überläufers an die DDR verhindern konnte.
Nun wollten aber auch die westlichen Alliierten die BND-Erkenntnisse über Schalcks KoKo erhalten. Eine entsprechende Anfrage des Kanzleramts beim BND beschied dessen Präsident Wieck jedoch ablehnend. „Von einer Weitergabe von BND-Erkenntnissen an alliierte Dienststellen rate ich ab“, schrieb er in seiner Antwort vom 21. Dezember ans Kanzleramt. „Es ist wahrscheinlich, dass die Alliierten auch über eigene Erkenntnisse zu Schalck-Golodkowski verfügen. Ihr Interesse an Aktivitäten im Bereich des illegalen Technologietransfers ist sehr groß.“ Ein deutlicher Wink des gelernten Diplomaten Wieck, den man auch in Bonn verstand: Sollten die Verbündeten und insbesondere die USA erst einmal tiefer graben beim Embargo-Schmuggel der KoKo, würden sie womöglich schnell auf westdeutsche Konzerne stoßen, die auch darin verwickelt waren. Daran aber hatte vermutlich auch die Bundesregierung kein Interesse.
Kurz vor Weihnachten 1989 plante die Westberliner Staatsanwaltschaft, Schalck auf freien Fuß zu setzen. Am 20. Dezember vernahm das Bundeskriminalamt den Überläufer. Bei der Gelegenheit sagte Schalcks Rechtsanwalt Danckert, dass sein Mandant „sich durch die DDR-Dienste gefährdet sieht, deswegen wolle SCH.G. in die Bundesrepublik kommen“, heißt es in einem Vermerk des Abteilungsleiters 1 des BND, Volker Foertsch, für den BND-Präsidenten vom 21. Dezember. „Der Verteidiger fragt, ob der BND die Sicherung der Reise und des weiteren Aufenthaltes SCH.G’s übernehmen könnte.“ Foertsch bat um eine Entscheidung und gab zu bedenken:
„Es ist nicht abzusehen, ob SCH. dem BND wesentliche Informationen im Sinne eines Auftrages bringt und ob dann dessen Nutzung politisch gewollt wäre. Wie gefährdet SCH. tatsächlich ist und ob der BND wirksam diese Gefahren absehen kann, ist ebenfalls offen. Welche politischen Folgen aus dem Aufenthalt SCH. in der Bundesrepublik entstehen, ist gleichfalls von hier aus nicht zu übersehen. Andrerseits ist zu überlegen, welche Wirkungen von einem Aufenthalt SCH’s in einem anderen Land ausgehen.“
Versteckt auf einer Alm in den Alpen
Welche Entscheidung Bonn und Pullach trafen, ist bekannt. Der BND schaffte den gewichtigen Überläufer und dessen Gattin aus Westberlin hinaus und auf eine abgelegene Almhütte in den Alpen. In wochenlangen Befragungen ließ sich Pullach anschließend von Schalck die Defizite in der eigenen DDR-Aufklärung auffüllen.
Unbeantwortet aber sind bis heute verschiedene Fragen geblieben: Was hat der einstige KoKo-Chef beim Bundesnachrichtendienst ausgesagt? Bekannt ist, dass er zwei seiner Geschäftspartner aus der DDR – den in den Embargohändler verstrickten Stasi-Agenten Günter Forgber und den für High-Tech-Schmuggel verantwortlichen DDR-Außenhändler Gerhardt Ronneberger – als gut bezahlte Auskunftspersonen an den BND vermittelte. Welche Türen öffnete Schalck den Pullacher Geheimdienstlern noch in Ostberlin?
Und war der Ex-Staatssekretär möglicherweise schon vor seiner Flucht in den Westen dem Bundesnachrichtendienst verpflichtet? Auffällig ist jedenfalls, dass Schalck, als der BND ihn ab Januar 1990 zu befragen begann, in den Akten den Decknamen „Schneewittchen“ erhielt. Mit dem gleichen Decknamen hatte ab Mitte der 1980er-Jahre aber bereits eine andere hochrangige, bis heute unenttarnt gebliebene BND-Quelle aus der DDR berichtet. Die Vergabe des gleichen Decknamens an zwei verschiedene Quellen innerhalb weniger Jahre ist beim BND unüblich.
Unklar ist auch, ob Schalck bei seinem Wechsel in den Westen belastendes Material gegen westdeutsche Politiker mit sich führte, quasi als eine Art Lebensversicherung. Und was hatte es mit einer Reihe brauner DIN-A4-Umschläge auf sich, die eine Freundin der Familie wenige Tage nach der Flucht 1989 aus einem Bankfach der Schalcks in der verschwiegenen Otto-Scheuermann-Bank in Westberlin holte und Sigrid Schalck übergab? Befanden sich darin vielleicht Teile seiner Sammlung von Briefmarken und Münzen, der in einem internen BND-Bericht ein „erheblicher Wert“ bescheinigt wurde?
Nach der Wiedervereinigung erwarb das Ehepaar aus Ostberlin vom bayerischen Fleischhändler Josef März, einem Strauß-Spezl und langjährigem KoKo-Geschäftspartner, ein Haus in Rottach-Egern am Tegernsee. Schalck überstand in den folgenden Jahren sieben Anklagen und drei Prozesse, er kassierte zwei Bewährungsstrafen wegen Waffenschmuggels und Embargoverstößen. Im Schalck-Untersuchungsausschuss des Bundestags entstand bis 1994 ein Externer Link: 1504-seitiger Bericht, in den auch Aussagen des dort mehrfach als Zeuge befragten Schalck einflossen.
Schalck 1991
Alexander Schalck-Golodkowski 1991 als Talkshowgast.
Alexander Schalck-Golodkowski 1991 als Talkshowgast.
Ab 1991 trat er selbstbewusst auch in mehreren Fernsehtalkshows auf, weil er sich als „Buhmann“ verleumdet sah. Danach machte er sich wieder rar. Im Sommer 1996 gründete er seine erste eigene Firma, im oberbayerischen Miesbach: „Dr. Schalck & Co“. Der Zweck des Unternehmens: Handel mit Waren aller Art. Was sonst. Als Berater hätten ihn vor allem frühere Handelspartner der DDR und der RGW in Anspruch genommen, äußerte er in gelegentlichen Interviews, ohne in Details zu gehen.
Im März 2003 erlitt Schalck einen Herzstillstand, konnte aber wiederbelebt werden. Wochenlang lag er im Koma. Später erkrankte er an Krebs. Am 21. Juni 2015 starb Alexander Schalck in Rottach-Egern, wenige Tage vor seinem 83. Geburtstag. Bis zuletzt pflegte er das Image des erfolgreichen und legendenumwitterten Geschäftsmanns, des "Big Alex", der viel mehr wusste als er preisgab. Tatsächlich dürfte Alexander Schalck-Golodkowski viele Geheimnisse mit ins Grab genommen haben.
Zitierweise: Andreas Förster, "Schneewittchens ominöse Flucht vor 31 Jahren - Der Fall Schalck-Golodkowski“, in: Deutschland Archiv, 03.01.2022, Link: Externer Link: www.bpb.de/344237. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Jahrgang 1958, ist freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt vor allem über DDR-Aufarbeitung, Terrorismus und politischen Extremismus, Geheimdienste, Zeitgeschichte und Organisierte Kriminalität, vornehmlich für die Berliner Zeitung.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).