Ein Stück deutscher Geschichte
Eine Behörde tritt ab
Helmut Müller-Enbergs
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Seit dem 17. Juni 2021 besteht die Stasi-Unterlagen-Behörde nicht mehr. Nach rund 30 Jahren ist sie mit ihren rund 111 Kilometern Aktenmaterial aus den Beständen der DDR-Geheimpolizei Stasi in das Bundesarchiv überführt worden. Ein persönlicher Rückblick von Helmut Müller-Enbergs, der dort lange Zeit als Wissenschaftler tätig war und auch im Deutschland Archiv über seine Erkenntnisse publizierte.
Was für ein Erbe! Kaum ein Jahr währt der Zeitstrahl zwischen Herbstrevolution in der Deutschen Demokratischen Republik und deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Viel blieb ansonsten nicht von dem Mut der Bürger, darunter der Kampf um die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, die bei der neu geschaffenen Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes eine Heimstadt fanden, wo ein jeder eingeladen ist, sein Abbild anzusehen, wie es sich in den Augen der operativen Mitarbeiter des Geheimdienstes gespiegelt hat. Das wird bleiben.
Nun hat das Stasi-Archiv am 17. Juni 2021 andere Türschilder erhalten, eben die des Externer Link: Bundesarchives. Bald drei Jahrzehnte nach der Gründung der einstigen Stasi-Unterlagenbehörde qualmt scheinbar die Geschichte eines untergegangenen Staates nicht mehr. Gut 111 Kilometer Akten und Millionen Karteikarten, Fotos und Filme sind nunmehr Teil deutscher Historie – neben denen aus Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus, während im wirklichen Leben nichts vergangen ist, vielmehr die Spuren nicht abgekühlt und verklärt sind. Da schmerzt noch was.
Was bleibt: Bürger und Bürgerinnen dürfen auch zukünftig Einsicht in ihre Akten nehmen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen forschen, und manch einer ist, stimmt er denn zu, noch Teil einer Überprüfung auf Kooperation. Nicht zu beschreiben, wie sehr ausgerechnet der Geheimdienst der DDR in den vergangenen Jahrzehnten manche Erörterung dominierte, mehr jedenfalls als etwa die ihn steuernde Sozialistische Einheitspartei Deutschlands oder die Sowjetunion.
Fußstapfen
Diese Behörde wurde von Persönlichkeiten geführt, die nicht allein ihren Namen gaben wie „Gauck-Behörde“, „gaucken“ oder „Birthler-Behörde“. Joachim Gauck und Marianne Birthler gehören zum genuinen Inventar der Herbstrevolution, waren unmittelbar beteiligt, wie auch daran, am Aufbau demokratischer Institutionen mitzuwirken, sich zu behaupten gegen all jene, die so oder so den großen Schlussstrich begehrten. An ihnen rieben sich nicht wenige, nicht zu beschreiben, welche Last sie zu steuern, manövrieren und auch auszuhalten hatten. „Aufarbeiten“ des Gewesenen war für sie keine Phrase, eine erweiterte Egokrücke, sondern Notwendigkeit des Gewissens, ein gesellschaftlicher Bedarf. Sie brachten fundamental notwendiges Handwerkszeug mit, dass ihnen das Leben und kein Studium gab: Ein historisches Verständnis, Erfahrungen im Ringen um politische Spielräume, Durchsetzungsvermögen, Charisma und die Fähigkeit, die Aufgabe zu repräsentieren. Sie hinterließen Fußstapfen, derartig groß, dass die Abdrücke einer Prozession darin Platz haben dürfte.
Und nach dem vormaligen Journalisten und Bundesbeauftragten der Jahre von 2011 bis 2021, Roland Jahn, dem mangelndes Interesse an Bildung und Forschung sogar von seiner Amtsvorgängerin unterstellt wird, nun das: Dieses Erbe soll nun von Alexandra Titze ausgefüllt werden, als eine der drei VizepräsidentInnen des Bundesarchivs, künftig zuständig für die dem Bundesarchiv zuwachsenden Stasi-Unterlagen.Eine Karriere wie sie im Buche steht: Zunächst ab Oktober 2003 Sachbearbeiterin im Justiziariat der Birthler-Behörde – ohne erstes Staatsexamen –, hatte sie doch nach dem Abitur zunächst an einer Fachhochschule Verwaltungswirtin gelernt. Das Jura-Studium und dann der unaufhaltsame Aufstieg in der Behörde, bis hin zur amtierenden Direktorin, also der Nummer zwei. Eine relative Bekanntheit erwarb sie sich auch durch behördlich geführte Arbeitsgerichtsprozesse. Darunter einer, wo ein Mitarbeiter auf 123.000 Euro Schadenersatz verklagt wurde, weil von ihm noch ein 100seitiges Manuskript zum Auslandsnachrichtendienst Hauptverwaltung A ausstehen würde. Ein juristisches Novum, wo doch nicht wenige Forschungen aus unterschiedlichen Gründen hingegen nicht zum Ziel gekommen sind, ohne jemals geahndet worden zu sein.
Was wären die einstigen Bundesbeauftragten ohne ihre Direktoren gewesen! Hansjörg Geiger und Peter Busse haben in dieser Funktion dem Stasi-Archiv jeweils einen Stempel aufgedrückt. Sie waren unstreitig und innerbehördlich unbestritten anerkannte Persönlichkeiten, außerordentlich an der Sache orientiert, Vollblutjuristen mit dem notwenigen Gespür auf dem Weg im Neuland. Und sie „brannten“ für das Thema Stasi-Akten und deren Aufarbeitung. Ihnen folgten intern vergleichsweise unauffällig zwei Juristen, erst der nicht unumstrittene Hans Altendorf , dann Björn Deicke, ein Haushälter aus dem Stab der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien – fortan ein weiterer Vizepräsident des Bundesarchivs –, der sich seinerzeit gegenüber der Konkurrentenklage des ungemein geachteten, in der Sache sehr vertrauten Joachim Förster – er war Leiter der anspruchsvollen Abteilung Auskunft in der Behörde – hatte durchsetzen können, dessen Klage erfolglos blieb.
Deicke blieb nicht bis zuletzt an der Seite Roland Jahns. Möglicherweise war die Last des Amtes zeitweilig eine solche Bürde, um nicht selbst das Stasi-Archiv in der kritischen Phase des Übergangs von der Bundesbehörde zum Bundesarchiv unmittelbar begleiten zu können. Alexandra Titze sprang für ihn ein. Nimmt man den Zeitstrahl von bald drei Jahrzehnten von Entstehung bis Übergang zum Bundesarchiv zusammen, so sind die euphorischen Jahre unter den Mitarbeitenden mit faszinierendem Engagement der gut 1.300 verbliebenen Beschäftigten zu einer Lethargie mit ungewöhnlich hohem Krankenstand verschwunden. Gaucks innerbehördlicher Odem ist längst wehmütig verblichen. Es scheint das Abwarten auf das Neue zu dominieren. Zum Glück gibt es mit Michael Hollmann einen Präsident des Bundesarchivs, der als ausgewiesener Historiker etwas von Archivgut versteht. Das lässt hoffen.
Hauptamtliche
Das Stasi-Archiv war wiederholt in aktuelle Diskussionen eingebunden, mitunter auf Basis ihrer Bescheide, teils aber auch durch ihre Stellungnahmen. Das betrifft den früheren Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe, aber auch den Politiker Gregor Gysi. Die vielfach damit verbundenen Fragen schienen ohne die Expertise von früheren hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitenden kaum lösbar. Der Arbeitsgruppe zu Gysi gehörten beispielsweise zunächst zwei ehemals Hauptamtliche, ein Inoffizieller und ein Jurist an, und wurde erst aufgrund des Drucks aus dem Deutschen Bundestag um einen Wissenschaftler der Forschungsabteilung ergänzt. Heraus kamen zwei Stellungnahmen, nur bedingt miteinander kompatibel – bei gleicher Quellenlage.
Letztlich gingen beide Berichte an den Immunitätsausschuss des Bundestages – und waren in der Summe wesentlich für das dort getroffene Votum. In jener Zeit war man sich bewusst, die Rolle der Hauptamtlichen öffentlich politisch nicht präsentieren zu können. Als sich der Immunitätsausschuss des Bundestages im Stasi-Archiv nach dem Stand der Recherchen vor Ort erkundigen wollte, waren die Ehemaligen nicht dabei. Unbeschadet von den Einstellungen hatten die Hauptamtlichen, insbesondere in den ersten Jahren, einigen Stellenwert. „Lernt von denen“, meinte Gauck, „bis wir es besser wissen“. Diese Expertise betraf lediglich einen kleinen Anteil unter den Hauptamtlichen im Stasi-Archiv, der größere war vor der Herbstrevolution im Personenschutz des MfS tätig, der anschließend in recht vielen Behörden Anstellung fand. Beinahe zwei Jahrzehnte lang war das der Fall, bis entdeckt wurde, sie seien ein vermeintlicher „Schlag ins Gesicht der Opfer“ und wurden in der Folge unter Roland Jahn nach und nach aus der Behörde entfernt.
Gauck hingegen war sich bewusst, dass das Stasi-Archiv noch lange auf das Wissen der Hauptamtlichen angewiesen sein würde. Als das Insiderkomitee des MfS, eine Selbstorganisation ehemaliger Tschekisten, offiziell seine Unterstützung bei Fragen zur Geschichte, insbesondere der DDR-Spionage, anbot, war das Interesse zunächst vorhanden. Zuvor waren schon frühere MfS-Überläufer von der Forschungsabteilung der Behörde mit Werkverträgen versehen worden. Diese Offerte schien politisch zu heiß, weshalb es dazu nicht kam; lediglich Gespräche mit Spionage-Chef-Markus Wolf galten als vertretbar. Bei seinem Abschied jedoch betonte Gauck, dass es ein Fehler sei, diese Erfahrungen nicht anzuhören, empfahl sogar Veranstaltungen mit Hauptamtlichen.
Wie recht Gauck gehabt haben wird, zeigte sich, als Bescheide zu hauptamtlichen oder inoffiziellen Mitarbeitern, bei der auch nicht die interne wissenschaftliche Expertise eingeholt worden war, gravierende Fehler enthielten: Etwa Unterlagen zu einer Linken-Politikerin zu ihrer inoffiziellen Mitarbeit als Minderjährige gingen ebenso aus dem Haus wie zu einer linken Landtagsabgeordneten, obgleich das überlieferte Material erkennbar nicht zureichend war. Hier rächt sich das Abschmelzen der hauseigenen Forschungsabteilung zu einem Referat „Kommunikation und Wissen“ wie auch der Umgang mit den ehemaligen Hauptamtlichen. Dagegen hat der zunehmende Einfluss junger JuristInnen mit wenig Basiswissen Konsequenzen. Mitunter verließen Bescheide das Stasi-Archiv, in denen Bürgerinnen und Bürger als ehemalige Mitarbeitende einer Diensteinheit des MfS ausgewiesen wurden, die es mit dieser Bezeichnung nie gab: Die „Hauptabteilung Aufklärung“.
Akten
Das Archiv verwaltet den Rest an Akten, die nicht vernichtet wurden. Geschreddert oder zermatscht wurden oftmals jene Papiere, die sich noch auf den Schreibtischen der Offiziere befanden. Ebenso wurden schon ab November 1989 gezielt Akten, auch von Inoffiziellen, herausgesucht und gelöscht, mitunter mit Vernichtungsprotokoll, das einzig überliefert blieb. Die Vernichtungen liefen noch bis Juni 1990, als schon längst ein demokratisch gewähltes Parlament in der DDR existierte. Datenträger gingen in den Reißwolf. Manches kam abhanden, wie eine Verfilmung von Karteikarten zu Personen, die beim Auslandsnachrichtendienst vermerkt waren. Nach etlichen Mühen gelang es immerhin, jene Karteikarten mit deutschen Bezügen wieder in das Archiv zurückzuführen. Das Bemühen, jene mit anderen Nationalitäten zu erlangen, blieb stets überschaubar schwachdynamisch. Denn gerade die Akten des Auslandsnachrichtendienstes sind weithin vernichtet, mit Ausnahme jener Unterlagen, die von den Offizieren bewusst überlassen wurden.
Mithin bestand stets archivarisch eine Schlagseite nach Osten hin, während Bundesbürgerinnen und -bürger aus den alten Bundesländern faktisch und ungewollt begünstigt wurden. Da gibt es noch etwas zu tun. Das gilt auch für die vorgeblich 16.000 Säcke, in denen zerrissene Papiere einlagern, von denen in den letzten Jahrzehnten die Unterlagen aus kaum mehr als 500 Säcken wieder zusammengesetzt wurden. Unbeschadet der Schuldzuweisungen, wer daran ursächlich sein mag, bleibt gleichwohl der Befund: Hier verantwortet das Stasi-Archiv, diese Unterlagen nicht zugänglich gemacht zu haben. Wundersam auch der Erschließungsstand und – trotz einigem Bemühen – der Mangel an Findbüchern. Und schließlich läuft die Zeit, um das Archivgut geeignet zu verwahren, es als solches zu sichern.
Denn die Akten sind nicht allein Dokument der Repression sowie der AkteurInnen, die dazu beitrugen. Oder Munition im politischen Ringen. Mehr noch sind sie – bislang nahezu einmalig – auch Zeugnis der Alltagsgeschichte in einer Diktatur, die geeignet sind, im Mikrokosmus entferntester Regionen in der DDR nachvollziehbar zu machen, wie eine Gesellschaft unter den Bedingungen agierte. Diese Akten werden perspektivisch ein bedeutendes Korrektiv zu reinen Herrschaftsunterlagen wie die der Partei oder der Organisationen sein. Im Ensemble wird dann endlich das erfolgen, was zu ersehnen ist: Ein Kaleidoskop unterschiedlich motivierter AkteurInnen. Schließlich auch: Sie sind die papierene Landschaft gegen Legenden- und Mythenbildung. Jegliche Heldensaga kann mit Akten der Wind aus den Segeln genommen werden. Dass Akten des Stasi-Archivs beinahe das Bild DDR ausfüllten, ist nicht der Behörde anzulasten, sondern dem Umstand, dass das mediale, politische und gesellschaftliche Interesse darauf fokussiert war; nicht die zugänglichen Akten der SED reizte das Publikum, sondern das seines gefährlichen Schwertes Stasi.
Inoffizielle
Das Bild über die Inoffiziellen des MfS war stets überdehnt und mit Projektionen angefüllt. Dagegen vorzugehen war der erklärte Wille Joachim Gaucks. Seine Behörde hatte so viel als nur möglich dieses Thema in das Kühlbad rationaler Einordnung überführen wollen. Es ist nie gelungen. Selbst der Versuch, zu differenzieren, die Unterschiede zu erkennen, ist nur zeitweilig aufgegangen. Dass es dieses Korrektiv gab, daran hat nicht nur die Behördenspitze, sondern auch die Forschungsabteilung einen gehörigen Anteil. Es dauerte, bis in den Medien nicht weiter von zuletzt einer Million Inoffiziellen die Rede war, sondern von ungefähr 189.000; nicht von 50.000 WestagentInnen, die die Bundesrepublik unterwandert haben sollen, sondern von allenfalls zuletzt um die 3.000, die wesentlich Informationen beschafften als dazu fähig waren, vom Bundeskanzleramt aus den Anschluss an die DDR anzustreben. Der Begriff IM war etabliert, bis er im letzten Jahrzehnt zunehmend wieder durch den des „Spitzels“ und „Denunzianten“ abgelöst wurde. War noch in der Ära Birthler zureichend deutlich geworden, dass nur ein Bruchteil unter den IM Frauen waren, die sich in ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit kaum von Männern unterschieden, wurden sie zu „operativen Betten“ deklariert. Der Rückschritt wurde durch das Stasi-Archiv befeuert. Da nicht gegengehalten zu haben, wird als Menetekel zu diskutieren sein.
Überhaupt lag die Fokussierung in der gesellschaftlichen Debatte auf IM, nicht auf jenen, die sie dafür ausgewählt, geführt und beauftragt hatten; schon gar nicht auf der Partei. Eine merkwürdige Schieflage. Dabei ist es nicht gelungen, zu verdeutlichen, dass nur eine besondere Spezies unter den Inoffiziellen damit betraut waren, sich wesentlich auf „Feinde“ zu konzentrieren (etwa 3.900), mithin gerade sie dazu beigetragen haben, die Basis für Repressionen zu liefern. Folglich wurde diese Rolle oftmals allen IM zugedacht, auch dann, wenn sie ihre Wohnung für heimliche Treffen zur Verfügung stellten oder Briefe, die Westagenten an eine Deckadresse geschickt hatten. Das verhinderte vielleicht, über jene zu reden, über die zu reden lohnte. Das Klima, darüber auch mit IM zu reden, war erwünscht, doch einen entsprechenden Klimawandel gab es bislang nicht. Umgekehrt war der Erfindungsgeist unter ehemaligen IM zu ihrer Rolle beachtlich. Man habe niemanden geschadet galt als Standardstereotype. Das dafür dringend erforderliche Bildungsangebot, das wesentlich von Gauck und Birthler forciert wurde, um gegenzusteuern, verlor zunehmend, insbesondere bei den Außenstellen der Behörde, an Gewicht.
Forschung
Das Modell war so einfach wie effektiv, das sich die zeitweisen Abteilungsleiter Klaus-Dietmar Henke und Siegfried Suckut ausgedacht hatten, um eine Vorstellung von Bildung und Forschung des Stasi-Archivs zu haben. Es ist stets das Dreieck von Partei – Staat – Staatssicherheit im Auge zu behalten, und nur das ins Visier zu nehmen, was andere Institutionen wissenschaftlich nicht leisten können, sei es aus materiellen, sei es aus logistischen Gründen. Das wäre die Grundlagenforschung zur Geschichte des MfS, seiner Organisationsstrukturen, der Hauptamtlichen und Inoffiziellen und der produzierten Informationen. Mehr noch sollte der Forschungsbetrieb nach innen dazu beitragen, die Mitarbeitenden und Produkte der Auskunftsabteilung fachlich zu versieren. Doch lebte dieser Zugang nicht lang – und ist bis heute nicht eingelöst, mehr noch: Er kann nicht mehr eingelöst werden.
Die Grundlagenforschung verkümmerte im Stasi-Archiv zu Kommunikation und Wissen. Eine einmalige Konzentration an Expertise wurde geopfert, zum Schaden der Aufarbeitung. Dabei war die Forschungsabteilung nicht unerheblich auch Gesicht des Stasi-Archivs, korrigierte wiederholt Überreizungen des Themas, stieß Diskussionen an, doch das zählte irgendwann nicht mehr, spätestens dann, als die Behörde offenkundig nur noch ein Gesicht haben sollte, das sich dann in Hochglanzbroschüren abbildete, wie über die „Aktion ‚Gegenschlag‘: die Zerschlagung der Jenaer Opposition 1983“, in der es reichlich um Roland Jahn geht, allerdings mit recht selektiv ausgewählten Dokumenten. In guten Tagen nannte die SED so etwas Personenkult. Diese Erinnerung bleibt.
Akteneinsichten
Nichts – keine Ausstellung, kein Buch, kein Vortrag – ersetzt das eigene Erleben, die Begegnung mit der Akte. Oder den Akten der Eltern oder Großeltern. Diese Intimität, dieser Rückblick auf ein Stück der eigenen Biografie ist etwas Besonderes, das Befürchtungen korrigiert oder bestätigt. Und dabei der besondere Umstand, die so sonderbar fremde und selektive Perspektive eines Geheimdienstes auf das selbst Erlebte. Die Erfahrung, vielleicht nur schlichte Angaben auf einem Karteiblatt vorzufinden, oder das, was umständehalber als Banalitäten zu nennen sind, und vor allem aber auch die Energie, in den Lebensweg eingedrungen zu sein, bis dahin, weggesperrt worden zu sein, etwa für die Sehnsucht, nicht mehr im Sozialismus wohnen zu wollen.
Diese Begehung des Gewesenen, diese stillen Bilder, kann niemand nehmen. Diese Selbstaufklärung ist ein Verdienst des Stasi-Archivs, unbeschadet dessen, wer es lenkte oder was sonst noch darüber zu hören war. Und es ist gut, im Historiker und Archivar Michael Hollmann nun dafür einen Garanten zu haben, dass es so bleibt – denn der, wie gesagt, versteht etwas von Geschichte und Akten.
Zitierweise: Helmut Müller-Enbergs, „Ein Stück deutscher Geschichte: Eine Behörde tritt ab“, in: Deutschland Archiv, 04.07.2021, Link: www.bpb.de/335132. Weitere Debatten-Texte zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
- Weitere Beiträge des Autors im Angebot der bpb:
- Interner Link: Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit. Der 2014 verstorbene Polizist Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin erschoss, war Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Das beweisen Unterlagen aus der ehemaaligen Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), die heute zum Bundesarchiv gehört. Eine Recherche aus dem Jahr 2009.
- Interner Link: Spione beim Klassenfeind; 1989 waren etwa 3.500 Bundesbürger AgentInnen der Stasi. Wissenschaft, Militär und Technik waren die wichtigsten Spionageziele des MfS. Außerdem ging es um Einflussnahme auf Medien und Politik - und das Ausschalten politischer Gegner. Zu den Mitteln gehörten auch Bestechung und Mord. Ein Beitrag aus dem Jahr 2016 im Externer Link: Stasi-Dossier der bpb.
- Interner Link: Margot Honecker – Die Frau an seiner Seite. Am 6. Mai 2016 starb die langjährige Bildungsministerin der DDR Margot Honecker. Auch nach der Herbstrevolution in der DDR hielt die Gattin des Generalsekretärs der SED Erich Honecker im chilenischen Exil an ihrer ideologischen Linie fest. Helmut Müller-Enbergs begibt sich auf eine Spurensuche dieser Frau und eines ebenso bekannten Gleichaltrigen aus Halle an der Saale. Ein Beitrag im Deutschland Archiv 2016.
- Interner Link: Karl Wilhelm Fricke, Ein Röntgenbild der HV A. Helmut Müller-Enbergs und die Freiheit der Stasi-Forschung .Mit seiner Arbeit über die "Hauptverwaltung A" des Ministeriums für Staatssicherheit hat Helmut Müller-Enbergs eine Leistung erbracht, die schon deshalb beeindruckt, weil die Hinterlassenschaft der HV A nahezu vollständig vernichtet worden ist. Der Teilband des MfS-Handbuches "Anatomie der Staatssicherheit" ist ein hochinformatives Nachschlagewerk über die Stasi-Spionage. Eine Buchbesprechung aus dem Jahr 2012 von Karl Wilhelm Fricke.
Dr. Helmut Müller-Enbergs studierte Politikwissenschaft in Münster und Berlin und promovierte an der Uni Chemnitz. Nach dem Mauerfall war er in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt aktiv, 1990 Mitglied ihres Sprecherrates und von 1990 bis 1992 Pressesprecher der Fraktion Bündnis 90 im Brandenburger Landtag. Von 1992 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Stasi-Unterlagenbehörde, ist Professor an der Sydansk Universitet für Nachrichtendienstgeschichte. Er veröffentlichte zu Personen wie dem Pfarrer Oskar Brüsewitz oder dem Polizisten Karl-Heinz Kurras [verlinken auf: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52044/der-2-juni-1967-und-die-staatssicherheit], zu inoffiziellen Mitarbeitern, zur Spionage und zur Geschichte des MfS (www.mueller-enbergs.de), war Leiter der Forschungsgruppe „Rosenholz“ und an Behördengutachten wie etwa zu Gregor Gysi beteiligt.
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