Die anderen Leben. Generationengespräche Ost
Über die Entstehung des Buches und Auszüge aus zwei Gesprächen
Dörte GrimmSabine Michel
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Die Autorinnen berichten von der Arbeit am Buch und ihren Lesungen. Mit Auszügen aus den Kapiteln „Ich fühle mich aber nicht wie ein Nazi“ und „Ich wollte, dass du ein glückliches Kind bist“.
Ost-West-Debatten sind im öffentlichen Diskurs derzeit wieder präsenter als in den zurückliegenden Jahren. Blickt man in die Zeitungen und verfolgt die Veröffentlichungen der vergangenen Jahre, so fällt auf, dass die Debatte geprägt ist von mahnenden Stimmen, die fürchten, die Erinnerung an die DDR als Diktatur und an die Menschen unterdrückenden Mechanismen könnte verblassen.
Diese Sorge ist durchaus berechtigt, denn einerseits wird der Diskurs an einer hauchdünnen Grenze zwischen dem Erklären der Repressionen und der Überbetonung des alltäglichen Glücks geführt. Andererseits zeichnen die Wahlprognosen für die kommenden Landtagswahlen im Osten ein Bild, das ausgerechnet jener Partei den Rücken stärkt, die genau diese Narrative der ostdeutschen Gefühle instrumentalisiert, indem sie den Diktaturcharakter der DDR relativiert und die Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen Vergangenheit nährt. Doch so berechtigt diese Befürchtungen über die Art des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit und der Transformationszeit nach 1989/90 auch sind: Sie hinterlassen bei den Menschen Fragen nach der Berechtigung und Bewertung der eigenen Biografie und ihren Erinnerungsbildern. Mit den 2023 erschienenen Sachbüchern von Dirk Oschmann und Katja Hoyer sind nun zwei sehr verschiedene, aber polarisierende Publikationen erschienen, die umstrittene, aber doch andere Ansätze und Perspektiven in den Ost-West-Diskurs einbringen. Die anhaltend vorderen Plätze auf den Bestseller-Listen zeigen, dass es hier eine Leerstelle, ein Bedürfnis in der Gesellschaft gibt, welches vorher keinen Resonanzraum gefunden hat.
Warum ist dieses Buch entstanden?
Wir setzen uns seit Jahren in unseren dokumentarischen Kinofilmen mit ostdeutscher Realität und ihren Prägungen bis heute auseinander. Erzählen „Zonenmädchen” (Sabine Michel) und „Die Unberatenen” (Dörte Grimm) von unserer eigenen Generation, so untersuchte „Montags in Dresden” (Sabine Michel) exemplarisch Biografien im Epizentrum der Pegida-Bewegung in Dresden. Der aktuelle Dokumentarfilm „Frauen in Landschaften“ (Sabine Michel) zeigt anhand von vier ostdeutschen, sehr unterschiedlichen Politikerinnen der Dritten Generation eine weibliche Perspektive auf die deutsche Geschichte nach 1989 bis heute. Von Sabine Michel ging nach dem Kinostart von „Zonenmädchen“ der Impuls aus, für spezielle Generationengespräche das Medium und vom Film zum Buch zu wechseln.
Zitat von Sabine Michel zu ihren Erfahrungen während des Drehs von „Zonenmädchen“:
Zitat
„Hatte es sich während der Dreharbeiten zu „Zonenmädchen“ als schwierig herausgestellt, mit unseren eigenen Eltern zu bestimmten Themen ihres Lebens in der DDR und in den Jahren nach der Friedlichen Revolution ins Gespräch zu kommen, stand ich auch später in den Filmvorführungen vor einem geteilten Publikum. Da saßen die Eltern, meistens die Mütter, und da saßen die Kinder, und ich befand mich in einer Art Mittlerinnenposition zwischen den Generationen. Sie sprachen nicht miteinander, sondern sie fragten mich nach den Empfindungen des jeweils anderen. Damals dachte ich, dass ich ein Gesprächsprojekt initiieren möchte, wo die beiden Generationen exemplarisch in Gespräche über bestimmte Themen gebracht werden. Es hat dann noch relativ lange gedauert, bevor ich Dörte Grimm kennenlernte und daraus unser erster gemeinsamer Gesprächsband „Die anderen Leben – Generationengespräche Ost“ wurde.“
Ein langer Weg
Sabine Michel hatte zwar in ihren Filmgesprächen angefangen, erste Kontakte zu möglichen interessanten Gesprächspartner:innen zu knüpfen, doch es gestaltete sich trotz zugesicherter Anonymität und viel Zeit für differenzierte Gespräche nicht einfach, Familien zu finden, die sich wirklich miteinander ins Gespräch wagten. Theoretisch wussten wir um die Hürden aus unseren eigenen Familien, doch wie schwer es tatsächlich fast allen Familien fallen würde, sich zu erinnern und darüber zu reden, ohne zu streiten, hat uns sehr berührt. Wir konnten viele überzeugen und ermutigen, waren aber auch immer wieder mit Absagen konfrontiert, manchmal erst kurz vor dem geplanten Gespräch.
Zusammen haben wir innerhalb von zwei Jahren für unseren ersten Gesprächsband „Die anderen Leben. Generationengespräche Ost” zehn aufwühlende Begegnungen zwischen der Zweiten Generation, den Eltern, und der Dritten Generation, den sogenannten Wendekindern, initiiert und dokumentiert. Der Bogen der Geschichten reicht dabei von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis ins Heute.
Zwischen 2019 und 2022 lasen wir in vielen ost- und westdeutschen Städten aus unserem Gesprächsband und stießen in den Veranstaltungen immer wieder neue Gespräche an. Natürlich gibt es viele ostdeutsche Familien, in denen intensiv gesprochen wird und in denen es nach dem Mauerfall zu keinem Schweigen über bestimmte Themen kam, das sich bis in die Gegenwart zieht. In denen Geschichte und das Verständnis darüber in einem kommunikativen Miteinander verhandelt wird. Doch unser Eindruck, besonders in den ländlichen Regionen, ist, dass eine Verständigung der Generationen untereinander, der offene Dialog, das Streiten um eine Meinung und das Stehenlassen-Können einer anderen nach wie vor nicht richtig eingeübt ist. Dafür sind mehr Übung, Räume und Vorbilder notwendig.
Es sind verschiedene Erinnerungen, „Vergangenheits-Gedächtnistypen“, die uns in den Lesungen immer wieder begegnen und die wir auch in den Analysen des Historikers für Neuere und Zeitgeschichte, Martin Sabrow, wiedergefunden haben. Ein großer Teil unserer Besucher:innen findet sich im sogenannten Arrangement-Gedächtnis wieder, das durchaus vom „richtigen Leben im falschen“ weiß. Es gibt viele glückliche Erinnerungen an das alltägliche Leben in der DDR, aber offen darüber zu sprechen fällt vielen Menschen schwer, wie sie uns im halböffentlichen Rahmen unserer Lesungen immer wieder erzählt haben. Denn das Narrativ, besonders im öffentlichen Diskurs, wurde bis vor kurzem oft bestimmt durch diejenigen, die den Unterdrückungscharakter der DDR-Diktatur und ihre Überwindung durch die Friedliche Revolution in den Vordergrund stellen.
Eine weitere kleine Gruppe unserer Besucher:innen, die in keine der beiden Kategorien passt, ist diejenige der alten Genossen und Genossinnen oder ihrer Sympathisant:innen. Sie erinnern die DDR von ihren Anfängen her, als Versuch, eine neue und bessere Gesellschaft aufzubauen. Auch wenn es eine Mauer und Unterdrückung gab, versuchen sie, vor allem die guten Seiten der Gesellschaftsordnung zu sehen. Welche massiven Auswirkungen die Wirkungen eines diktatorischen Staates jedoch bis in die kleinste Zelle hatten und wie schwer es bis heute fällt, darüber ins Gespräch zu kommen, erzählt das Kapitel „Ich wollte, dass du ein glückliches Kind bist“, von Sabine Michel.
Und auf keiner unserer Lesungen haben diejenigen gefehlt, die meinten, das sei doch jetzt alles so lange her und würde keine Rolle mehr spielen. Hier scheint sich ein Klischee zu bestätigen: Diese Stimmen kamen zum größten Teil aus den alten Bundesländern.
Mit der rasanten Installation westdeutscher Strukturen nach 1990 sind die Auseinandersetzungen mit dieser Zeit innerhalb Ostdeutschlands sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb der Familien weitgehend ausgeblieben. Wenn es eine medial vermittelte Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit gab, dann oft aus einer westdeutschen Sicht, die viele Ostdeutsche nicht aus ihrem eigenen Erleben kannten und in der die Art ihres Andersseins und der Brüche in ihren Lebensläufen nach 1989/90 meist als minderwertig und selbst verschuldet behandelt wurden. Dass die Zeit nach 1989 nicht nur die Öffnung der Grenze und viele Möglichkeiten, sondern auch massive persönliche Einschnitte für jeden einzelnen zur Folge hatte, fand lange wenig Eingang in die gesamtdeutsche Erzählung.
Dieses Gefühl der Negierung ganzer oder Teile von DDR-Biografien, die subjektiv unterschiedlich empfundene Entwertung in den Nachwendejahren und das als Fremdbestimmung wahrgenommene Fehlen ostdeutscher Spitzenkräfte findet sich auch in fast jeder der Biografien jener Menschen, die jahrelang zu den Pegida-Demonstrationen gingen oder sich den Reichsbürgern anschließen. Diese Tendenzen zeigen sich anschaulich im Kapitel „Ich fühle mich nicht wie ein Nazi“ von Dörte Grimm. Sie sind Teil einer politischen Entwicklung in Ostdeutschland, die als Emanzipation verstanden wird, obgleich sie sich gegen die „Falschen“ richtet.
Der Historiker Sebastian Haffner, dessen Analysen in Büchern wie „Geschichte eines Deutschen” oder „Anmerkungen zu Hitler” wie sehr schätzen, sagt sinngemäß, dass, wer etwas über die Intensität von Geschichte erfahren will, nicht in die Biografien von Staatsmännern, sondern in die viel zu raren Biografien unbekannter Privatleute schauen muss. Das haben wir in unserem Gesprächsband „Die anderen Leben. Generationengespräche Ost“ getan.
2024 wird unser zweiter Gesprächsband „Es ist einmal. Enkel und Großeltern Ost im Gespräch“ erscheinen.
Hier folgenden die beiden Auszüge aus zwei Gesprächen, die im Buch abgedruckt sind.
»Ich fühle mich nicht wie ein Nazi«
Simon (*1971), Dirk (*1974) und Josephine (*1952) Das nachfolgende Gespräch führte und bearbeitete Dörte Grimm
Mit Josephine und ihren Söhnen Dirk und Simon treffe ich mich in der thüringischen Stadt Ilmenau. Es war eine kleine logistische Herausforderung, ein Treffen mit allen dreien zu organisieren. Simon arbeitet in Bonn und kommt nur zweimal im Jahr in die Heimat. Dirk fährt sechs von sieben Tagen die Woche nachts Taxi. Die Stimmung im Café ist heiter; ich habe keine Ahnung, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln wird. Simon und Dirk erzählen fröhlich, dass sie beide ledig sind. Mit Frauen haben sie keine guten Erfahrungen gemacht. Simon hatte viele Freundinnen, aber mit keiner war es das Richtige: »Ganz ehrlich, das Geld gebe ich lieber für mich selber aus.« Er lebt lieber allein, gerade jetzt, wo er weiß, was auf ihn zukäme, wenn er sich wieder bindet. »Manche tangiert das nicht, die suchen sich gleich wieder die nächste Frau.« Simon nicht.
Dirk erzählt in heiterem Tonfall, dass er genau zweiundzwanzig Monate lang verheiratet war. Mit dreiunddreißig Jahren hat er eine achtzehnjährige Rumänin geheiratet und sie mit nach Deutschland gebracht. Sein Bruder Simon war kurz zuvor mit ihm in Rumänien und hatte seinen Bruder gewarnt: »Das sind Zigeuner, sieh doch mal hin! Die wollen nur dein Geld.«
»Die hat dich ja nur geheiratet, um nach Deutschland zu kommen!«, mischt sich Josephine ein. »Und dann ist sie als Hure gegangen.« Ich erschrecke über die Wortwahl und Offenheit. Nicht gerade Political Correctness. Dirk stört das nicht, er nickt: »Ich wollte es nicht wahrhaben.«
Die Geschichte klingt unglaublich: Als er 2007 seine Frau aus Rumänien nach Deutschland holt, verlangt sie dreitausend Euro monatlich von ihm. »Doch ich hatte nur zweitausend- fünfhundert.« Für Dirk völlig unerwartet, knüpft sie Kontakte in einem entsprechenden Club und fängt an, sich dort zu prostituieren. Dirk versucht, seine Frau dort herauszuholen und kommt dabei ungewollt in Kontakt mit der Unterwelt. Ihm wird aufgelauert, er wird bedroht. Von seinem großen und kleinen Bruder unterstützt, marschieren sie zu dritt in den Club und holen Dirks Frau zurück. Eine Woche lang verstecken sie sie in einer Wohnung. Dirk blickt auf. »Und kaum war sie wieder draußen, ist sie wieder hingegangen! Also, die wollte das.« Er lässt sich scheiden, seine Frau bleibt in Deutschland. »Jetzt sind wir aber abgeschweift« Dirk lacht. Er trägt seine dunklen Haare kurz und leicht gegelt, die klaren hellblaue Augen in seinem Gesicht stechen besonders hervor. Die Geschichte hat er hinter sich gelassen. Er sagt, er ist froh, allein zu sein. »Dich nimmt doch keine mehr«, spaßt Josephine und kurz wirkt es, als meine sie das ernst. Simon fällt ihr ins Wort: »Das kann man doch nicht sagen, es ist nie zu spät!«
Josephine trägt eine Brille ohne Ränder und ihre grauen Haare mit einem modischen Kurzhaarschnitt. 1952 geboren, hat sie in der DDR erst Handelskauffrau gelernt und später in einer Kofferfabrik arbeitet. Als ihr Sohn Dirk drei Jahre alt ist, zerbricht ihre erste Ehe, die älteren Söhne bleiben bei der Mutter. Zwei Jahre später lernt Josephine ihren zweiten Mann kennen, der eine prägende Rolle in der Erziehung von Simon und Dirk einnehmen wird. »Eine knallharte Schule«, nennt es Dirk. Der dritte Sohn kommt zur Welt. Der Stiefvater arbeitet als politischer Kader in einem Kombinat für Mikroelektronik. Er gibt politische Schulungen für die Arbeiter, »hat sie auf Linie gebracht«, so Simon. Zu Hause herrscht ein strenger Ton. »Die Partei hat immer recht«, zitieren die Söhne ihren Stiefvater. Die Familie besitzt einen Trabant Kübel, die Jungs bekommen Moped und Motorrad, man kauft im Intershop ein. Während eines Familienurlaubs sieht der Stiefvater ein Boot an der Mecklenburger Seenplatte und kauft es spontan. »Dann sind wir halt mit einem Boot wieder zurückgekommen«, erinnert sich Dirk. Wohlstand in der DDR, so konnte das aussehen.
Josephines Mutter ist gebürtige Österreicherin und sie erhält 1988 die Erlaubnis, die Verwandtschaft in Österreich zu besuchen. Ein Urlaub, der ihr die Augen öffnet. Die Verwandtschaft bemüht sich, ihr Land und Leute zu zeigen, Josephine liest österreichische Zeitungen und erlebt einen Kulturschock. »Das waren alles Lügen, was sie uns in der DDR erzählt hatten. Arbeitslos war da keiner. Wer arbeiten wollte, hatte auch Arbeit! Und es gab nicht nur Stellenanzeigen, wo man denken könnte, das machen nur Türken!« Auf dem Flug heimwärts hört sie die Gespräche der anderen Passagiere mit. Es sind ZK-Mitarbeiter, die aus ihrem Urlaub in Österreich kommen, schlussfolgert sie. Sie protzen mit ihren neuen Lodenmänteln und reden über den nahenden Zerfall der DDR. Nach der Landung wird Josephines Gepäck durchsucht und man nimmt ihr das Monopoly-Spiel ab, das sie ihrer Familie mitbringen will. Josephine ist stinksauer. Nach der Reise liegt sie für vier Wochen im Bett. Bisher hat sie sich ihr politisches Bild aus einer Mischung aus Tagesschau und Aktueller Kamera zusammengesetzt, aber jetzt bekommt es Risse, passt nicht mehr zusammen. »Das konnten nur die merken, die auch einmal rausgekommen sind.« Zu viele Fragen, auf die es keine Antworten gibt. »Danach stand für mich fest: Wenn sie mich noch einmal rauslassen, komme ich nicht wieder!«
Josephine geht eine Zigarette rauchen.
In den Jahren vor 1989 nehmen die Spannungen zu Hause zu. Dirk fällt zunehmend in der Schule auf, er und seine zwei besten Freunde haben nur Unfug im Kopf. Die drei sind vom Nationalsozialismus fasziniert. Das bemerkt der Klassenlehrer. »Deswegen hat er uns als Faschisten abgestempelt.« Dirk und seine Freunde sehen amerikanische Filme, in einem flieht der Held über die Grenze. Die drei flachsen herum: »Kommt, wir fliehen auch!« Die Grenze verläuft in unmittelbarer Nähe, im Thüringer Wald. Warum eigentlich nicht? Dirk und sein Freund wissen nicht, dass einer in der Gruppe den Spaß ernster nimmt als die beiden anderen. Nach einem Streit zu Hause klaut Dirks Freund Wanderern im Wald das Fernglas aus dem Rucksack und will tatsächlich flüchten. Er läuft ins Grenzgebiet und wird dort von der Grenzpolizei aufgegriffen. Die Staatssicherheit befragt die Lehrer und Schüler der Schule, und die erinnern sich: Klar, die drei wollten doch fliehen! »Dann kam die Stasi in die Schule und hat uns alle verhört, von morgens um sieben bis abends um zwanzig Uhr.« Der Unfug hat harte Konsequenzen für Dirk, der zu der Zeit gerade eine »Gruftiphase« durchlebt, alle Klamotten sind schwarz gefärbt, auch die Haare. Er ist Klassenbester und soll im nächsten Jahr auf die Erweiterte Oberschule wechseln. Das wird ihm jetzt verwehrt.
Am Tag nach dieser Entscheidung nimmt der Stiefvater eine Hundeschere und rasiert Dirk die Haare ab. »Ich sah aus wie ein gerupftes Huhn und musste Montag so in die Schule gehen.« Die Geschichte lässt sich rückwirkend lustig erzählen, aber war wie war das damals? Dirk lächelt. „Das war schon alles richtig“, findet er, »es hat mich auf die richtige Spur gebracht«. Haare wachsen wieder nach.
»Sei froh, dass du damals noch so jung warst und nicht mehr passiert ist!«, sagt Josephine. Sie kennt genug Schicksale, die in Gefängnissen endeten. Wie die Tante, die nach einem Fluchtversuch 1975 zweieinhalb Jahre im Gefängnis Schwarzenberg einsitzt. Sie wird von der Bundesrepublik freigekauft, erhält im Westen Sozialhilfe und muss das Geld später, so Josephines Schilderung, an den Staat zurückzahlen. Im Hintergrund lässt ein Kellner ein Tablett fallen, es scheppert gewaltig. Das Café hat sich inzwischen gut gefüllt, Alt und Jung trifft sich hier zu Cappuccino und Kuchen. Kein Wunder also, so Josephine weiter, dass diese Tante jetzt sauer auf die Flüchtlinge ist. »Ihr haben sie keinen Zucker in den Arsch geblasen wie jetzt den sogenannten Geflüchteten.« Keine Relativierung, kein Mitleid mit denjenigen, die auf Schlauchbooten über das Mittelmeer fliehen, weil sie Angst um ihr Leben haben. Josephine, Dirk und Simon argumentieren knallhart. »Geflüchtete, das sind eigentlich nur Leute aus der Stadt Aleppo!«, ereifert sich Simon. Amerika hätte dem Islamischen Staat zur Verbreitung verholfen, die Mächtigen fällten ihre Entscheidungen immer auf dem Rücken der Bevölkerung. Gesteuert wären diese Flüchtlingsbewegungen vom jüdischen Zionismus aus den USA, der die europäischen Staaten destabilisieren wolle, um hier bürgerkriegsähnliche Zustände herzustellen. Die Menschen, die jetzt in Massen flüchteten, kämen nur wegen des Geldes. Im Urlaub hat er Ausländer erlebt. Das wäre eine andere Mentalität. »Das Schizophrene ist«, so Josephine, »die Deutschen liefern Waffen dorthin.« »Sie liefern mit«, korrigiert Simon.
Simon ist Josephines ältester Sohn und 1971 geboren. Er arbeitet inzwischen bei der Bundespolizei im Bereich Funküberwachung. Eigentlich will er Militärflieger werden, aber er erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Beruf. Die Funktion seines Stiefvaters öffnete ihm die Tore zu früher Fahrerlaubnis und einem Segelklub, in den er mit dreizehn Jahren eintritt und dessen Drill er als »vormilitärisch« wahrnimmt. Doch die Strenge scheint ihm zu liegen, er bleibt dabei. Nach der Schule beginnt er bei Simson eine KFZ-Mechaniker-Lehre. 1990 zieht er in die alten Bundesländer nach Mainz und findet dort Anstellung in einem KFZ-Familienbetrieb, aber dort sieht er nur, »wie die Mitarbeiter ausgebeutet werden und schrecklich miteinander umgehen«. Er entschließt sich zu einer Umschulung zum Umweltmechaniker und geht 1993 zum Bundesgrenzschutz nach Oranienburg. Seitdem arbeitet er »bei dem Verein«.
Verfügt Simon über andere Quellen für seine Argumentation, frage ich ihn. Nein, antwortet er, aber er mache sich ein objektives Bild, in dem er im Internet alle möglichen Quellen miteinander vergleiche. Dabei will er beispielsweise bemerkt haben, wie alte Fotos in neuen Beiträgen auftauchen und so weiter. »Wofür andere keine Zeit haben oder es nicht wahrhaben wollen.« Dirk sagt, dass er von dem, was er in »den Medien« wahrnimmt, gar nichts glaubt. »Ich lache darüber, wie die uns verblöden wollen!« Er recherchiert auf ausgewählten Seiten, aber nicht in den sozialen Netzwerken.
Im Hintergrund fällt das zweite Mal Porzellan auf den Boden. »Nummer zwei!«, Josephine applaudiert. Die Stimmung bleibt heiter.
In der Folge der Umwälzungen nach 1989 schließt die Treuhand Josephines Betrieb, sie wird für ein halbes Jahr arbeitslos. Dann entscheidet sie sich für eine Umschulung zur Versicherungskauffrau und arbeitet anschließend im Außendienst bei Schwäbisch Hall. »Du hattest den Mut, den man dafür braucht«, sagt Dirk anerkennend zu seiner Mutter. In der Zeit arbeitet sie zwölf Stunden und länger im Büro. »Geschenkt wurde dir gar nichts, das hast du dir alles selbst hart erarbeitet.«
Josephine nickt, aber über die Spannungen, die Herausforderungen dieser Zeit will sie nicht sprechen. Sie geht vor die Tür rauchen.
Der Stiefvater veröffentlicht noch 1990 einen langen Artikel in der Zeitschrift Freies Wort, der den Sozialismus in den höchsten Tönen lobt. Die Familie reist nach Westdeutschland und der Stiefvater sieht in einer anderen Zeitung, von der er annimmt, sie erscheine nur im Westen, die Kategorie »Such und Find«. Er inseriert zur selben Zeit, in der sein Artikel im Freien Wort erscheint, eine Annonce mit dem Wortlaut »Wer schenkt einer armen Ossi-Familie ein Westauto?« Er denkt nicht nach und schreibt Namen und Adresse unter das Inserat. Seine Kollegen sehen die Annonce und hängen sie fein säuberlich neben seinen politischen Artikel an der Wandzeitung im Kombinat. Peinlich. Alle reden davon, die Kinder werden in der Schule ausgelacht. Josephine versinkt im Boden vor Scham.
Der Stiefvater verliert mit der Wiedervereinigung seine Funktion, seine Bestimmung. Während er zu Hause sitzt und nicht weiterweiß, verdient seine Frau immer besser, feiert erste berufliche Erfolge in der neuen Zeit. Die Leitung einer BP-Tankstelle wird ausgeschrieben und der Stiefvater, studierter Diplom-Chemiker, hat die Qualifikation, sich zu bewerben. »Da ist er größenwahnsinnig geworden«, meint Dirk. Der Stiefvater fährt mit Josephine zu einem Vorstellungsgespräch bei BP nach Berlin. Das Gespräch läuft wunderbar, bis er beim Rausgehen die Herren in den Anzügen noch fragt, wofür eigentlich das »BP« im Namen des Konzerns stehe?
Die Ehe zerbricht. Dirk ist überzeugt, dass »die Wende« daran schuld sei, dass Josephine und ihr zweiter Mann sich getrennt haben. Josephine wechselt später noch einmal den Beruf, heute arbeitet sie erfolgreich als Immobilienmaklerin.
Dirk will nach der zehnten Klasse so schnell wie möglich ausziehen und lernt Werkzeugmacher in Erfurt, eine Stelle, die ihm noch sein Stiefvater vermittelt. Im Anschluss absolviert er ein Fachhochschulstudium für Biotechnologie. Danach ist er lange arbeitslos, nimmt in der Zeit vierzig Kilo zu, hat kaum Kontakt zu seiner Familie. Bei Untersuchungen wird ein Tumor entdeckt und entfernt. Er nimmt wieder ab, schreibt 226 Bewerbungen, findet aber keine Stelle. Nach der Scheidung von seiner rumänischen Frau beginnt er, als Taxifahrer zu arbeiten. Inzwischen leitet er sein eigenes kleines Taxiunternehmen.
Nachts im Taxi trifft er die Leute meist in redseligem Zustand. »Sie denken, den Taxifahrer siehst du eh nicht wieder, und dann fangen sie an zu reden.« Die Gespräche prägen Dirk; er lacht, aber er sagt, sein Menschenbild sei katastrophal, egal ob Männer oder Frauen, »die nehmen sich alle nichts«. Josephine hebt die Stimme, wird lauter. Sie lebe jetzt zwar in einer gewissen Freiheit, »aber keinesfalls im besseren System«. Wir sollten alle einmal die Augen aufmachen! Sie erinnert sich an die Neunzigerjahre als eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, die schnell endete. »Ich möchte die DDR auf keinen Fall zurückhaben, aber dieses System lehne ich komplett ab. Das, was wir jetzt haben, diesen Rohkapitalismus, haben wir nicht gewollt!«
Wie ernst sie diese Sätze meint, verstehe ich, als sich mit Simon und Dirk eine Diskussion um die Legitimation Deutschlands als Staat entspinnt. »Deutschland hat immer noch keinen Friedensvertrag, wir leben immer noch im Kriegsrecht«, behauptet Simon. Josephine stimmt ihm zu: »Wir sind noch Reichsbürger, weil wir nur einen Waffenstillstand haben.« Sympathisieren die drei mit der Reichsbürgerbewegung?
Josephine glaubt, die Gesellschaft habe keinen »inneren Zusammenhalt« mehr. »Vielleicht ist es auch gewollt, dass diese Gesellschaft gespalten wird?« Sie sieht mich an. Ich habe darauf keine Antwort, auf die Sätze davor erst recht nicht. War es gut, »dass dich in der DDR der Vater Staat an die Hand nahm und von der Wiege bis zur Bahre durch dein Leben führte«?
Die Systemfrage, sie steht wie ein Elefant im Raum. Auch Simon sieht das »System« in der Schuld: »Sie wollen, dass du als Einzelkämpfer mit deinem Scheißleben so viel zu tun hast, dass du einfach nichts mehr mitkriegst!« Von oberster Stelle werde »alles zerstört«.
Josephine sagt, ihr liegt das deutsche Volk am Herzen. Sie möchte die alten Traditionen bewahren, mehr eigentlich nicht. »Das deutsche Volk, das gibt es doch gar nicht mehr«, antwortet Simon. »Wenn du das öffentlich sagst, bist du gleich der übelste Nazi, Mutter. Dafür können die dich in den Knast stecken!« Josephine nickt. »Aber ich fühle mich nicht wie ein Nazi, mir geht es um Werte.«
Werte. Dirk ist gerade vom Rauchen zurückgekommen. Nachts, wenn die Leute erzählen, erfährt er von den Flüchtlingsunterkünften, »wie es da wirklich ablief«. Die Menschen, die dort arbeiten, unterliegen der Schweigepflicht, im Taxi lassen sie die Luft raus. Wie die Flüchtlinge randaliert, wie sie den Helfern das Essen um die Ohren geworfen hätten, alles vollgeschissen – darüber darf man ja nicht reden! Aber wenn es so ist, wie soll man damit umgehen, fragt Dirk rhetorisch.
Er nimmt kategorisch keine Tunesier mehr im Taxi mit, er ist mehrmals angespuckt worden. Einmal ist einmal zu viel, er erstattet Anzeige. Die Staatsanwältin will ernsthaft gegen den Tunesier vorgehen, doch Dirk zieht seine Anzeige zurück, »die trifft man ja immer wieder«.
Vor kurzem wird er in die Taxizentrale gerufen. Ein Gast hat sich beschwert. Allen Fahrern wird ab sofort strengstens untersagt, sich mit der Kundschaft zu unterhalten. Dirk ist sauer: »Ich habe dieses Jahr das erste Mal seit sieben Jahren Urlaub gemacht. Ich arbeite sehr viel, immer nachts und permanent. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Warum darf ich nicht sagen, was ich denke?«
»Stasi 2.0« nennt Simon diese Art von Umgang mit der Meinung von Menschen in einer Demokratie. In einem Land, in dem Politiker, die keine Ahnung von den Sorgen der Menschen hätten, nur für Lobbyisten arbeiten würden. Es sieht nicht gut aus für Deutschland. Dirk hatte schon »den Trittin« im Auto, »so ein arrogantes Arschloch«, und »den Sarrazin« ist er auch gefahren. Der unterhält sich mit ihm, »ein dufter Typ«.
Simon sagt, er sei im Herzen Patriot. Im Raucherraum bei der Bundespolizei unterhält er sich mit Kollegen und teilt ihnen seine Meinung über die »Auffanglager« mit. Ein Vorgesetzter bekommt Wind davon und schreit ihn an. Simon hätte einen Eid auf die Verfassung geleistet, was er sich anmaßen würde? »Ich hätte den Mund zu halten, hat er gesagt. Man darf halt, was man denkt, nicht sagen.«
Wut. Auch Josephine steckt bei ihrer Arbeit in einer Zwickmühle. In ihrer Tätigkeit verwaltet sie auch Häuser und bekommt mehrfach Anfragen von »Ausländern«, die besonders gut Deutsch sprechen und nach Wohnungen suchen. Aber Josephine hat von den Eigentümern – den meisten – strikte Anweisung, nicht an »Ausländer« zu vermieten. »Und ich winde mich dann so wie ein Wurm. Ich kann ja nicht sagen: Der Hauseigentümer hat es verboten! Aber so ist es, die wollen die nicht!« Josephine antwortet in der Regel, dass es ihr leidtue, aber die Wohnung sei schon vermietet, nur das Inserat stehe noch online. Ich frage, ab wann denn jemand für Simon, Dirk und Josephine »deutsch« sei. »Mit dem Pass«, antwortet Simon. Ich gebe zu bedenken, dass ja viele schon längst einen deutschen Pass hätten. Simon korrigiert sich: »Aber das sind dann für mich keine Deutschen.« Josephine und Dirk fangen an zu kichern. Denken sie, jetzt fängt Simon wieder mit seiner Litanei an? »Ausländer bedeutet für mich kein deutsches Blut, sorry.« Josephine und Dirk kichern weiter.
So geht es weiter. Josephine, Dirk und Simon reden vom »fehlenden Respekt gegenüber dem Eigentum anderer«, Dirks Taxi wurde demoliert. Darüber, dass es keine richtigen Strafen mehr gebe. Die Jugendlichen verlotterten. So etwas hätte es früher nicht gegeben durch die Integration in der Schule, Jung-Thälmannpioniere, die FDJ, das war eine klasse Sache! In diesem System heute sei jeder auf sich allein gestellt. Die Liste dessen, was ihnen nicht gefällt, wird länger und länger. Im Café sitzen inzwischen kaum noch Gäste, durch das Fenster sehe ich die blaue Stunde in den Himmel ziehen. Es hat angefangen zu schneien. Sie seien sehr ehrlich zu mir gewesen, sagen die drei, als wir uns zum Abschied die Hände schütteln. Ich nicke. Ja, das waren sie. * (gekürzt)
* Die Autorinnen glauben, dass es wichtig ist, verschiedene Begegnungen zu dokumentieren, sie persönlich distanzieren sich jedoch ausdrücklich von rassistischen oder verfassungsfeindlichen Inhalten.
„Ich wollte, dass du ein glückliches Kind bist“
Anja *1971 und Ingrid *1940 Das nachfolgende Gespräch führte und bearbeitete Sabine Michel
Es ist Winter. Ich bin mit Anja verabredet und laufe durch Dresden. Ich bin am Hauptbahnhof angekommen und durchquere Dresdens Stadtzentrum. Die Prager Straße erinnert nur noch entfernt an die weite, helle Straße meiner Kindheit mit den schönen Springbrunnen. Wie oft bin ich mit meinen Eltern hier spazieren gegangen. Weiter über den Altmarkt und den Pirnaischen Platz zu einem kleinen Neubaugebiet. Die Häuser sehen von außen farbiger aus, der Fahrstuhl innen wie früher, Sprelacart und Neonlicht, auf der Etage vier Türen. Ich klingle.
Anjas Wohnung ist hell und man hat einen weiten Blick über die Stadt, bis hin zu den grünen Rändern. Im Flur stehen Regale mit Büchern und Filmen. Anja ist allein mit ihrer Mutter in einer ähnlichen Neubauwohnung ganz in der Nähe aufgewachsen. Sie spielt als einziges Mädchen ihrer Klasse Fußball, singt im Philharmonischen Kinderchor und beendet gerade die Schule, als die Mauer fällt. Für das Studienfach, für das sie in der DDR eine Zulassung hatte, gelten nach der Wiedervereinigung andere Aufnahmeregularien.
Also beginnt Anja nach einem Jahr in Paris das Studium der Rechtswissenschaften in den alten Bundesländern. Später bricht sie das Studium ab, kehrt zurück in ihren Geburtsort und arbeitet fast zehn Jahre als Geschäftsführerin eines bekannten Veranstaltungsortes mit Kneipe. Als ich mich mit ihr und ihrer Mutter Ingrid zum Gespräch verabreden will, spricht Anja von einem schwer errungenen Burgfrieden. Doch ich darf ihre Mutter anrufen.
Ingrid wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geboren. Ihre Mutter war Verkäuferin, ihr Vater kaufmännischer Leiter. Die Eltern verstehen die Gründung der DDR als eine neue Chance, einen Neuanfang. Ingrid tritt noch während des Studiums in die SED ein. Sie heiratet, wird Lehrerin und wieder geschieden. Nach dem Mauerfall bleibt sie Lehrerin, heute ist sie Rentnerin und lebt allein.
Ich kann mir meinen Platz am Tisch im Wohnzimmer aussuchen, ich bin die Erste. Anjas Ehefrau zieht sich mit dem Kater in einen anderen Raum zurück. Anja spricht ununterbrochen, sie ist aufgeregt. Sie trägt die grauen Haare sehr kurz. Durch ihre Brille schauen mich wache, helle Augen an. Ihre Aufregung verstärkt sich, als ihre Mutter unten klingelt.
Ich höre Geflüster im Flur. Dann tritt Ingrid in den Raum. Sie sieht schick aus: pastellfarbene Bluse und frisch vom Friseur. Auch sie ist aufgeregt, ich spüre es an ihrer kühlen Hand. Anja fragt, was wir trinken wollen. Ingrid bittet um Wasser, geht zum Fenster und zeigt hinaus. „Gewohnt haben wir zwei hier in der Nähe allein in einer kleinen Anderthalbraumwohnung. Die Küche war schmaler als der Tisch hier, auch nicht viel länger. Gewaschen habe ich in einem großen Topf auf einer der Gasflammen.“
Anja nickt. Sie stellt Gläser und eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch. „Wirtschaftlich können wir gerade auch keine Riesensprünge machen, aber ich habe von dir mitbekommen, dass ein gutes Gefühl im Leben nicht von materiellem Wohlstand abhängt. Das ist okay. Ich lebe in einer stabilen Partnerschaft, auch richtig ordnungsgemäß mit Ring, ehrbare Frau und so.“ Anja lacht. Ingrid versucht, auf den Witz zu reagieren, doch in ihrem scherzhaften Ton liegt Ernst. „Willst du damit sagen, ich war keine ehrbare Frau?“ Und Anja antwortet prompt: „Nee, du bist ja nicht verheiratet.“ Unvermittelt wird sie wieder ernst. Dieser Wechsel aus Ironie und Ernst, das Lachen, das im nächsten Moment im Hals stecken bleibt, wird dieses Gespräch bestimmen. „Kinder haben wir leider keine. Das ist schade, aber ist nun mal so. Ich kann also auch nicht nachvollziehen, wie das ist, so eine rebellische Fünfzehnjährige, wie ich es war, zu Hause zu haben. Und was ich in letzter Zeit immer mal denke: Ich habe früher wenig Freunde oder Freundinnen von dir wahrgenommen.“
Ingrids Antwort bleibt vage. „Immer dieses Drängen, dass alles andere wichtiger war: der Beruf, du ... Und jetzt im Alter ist man allein.“ Anja schüttelt den Kopf. „Aber das ist keine Frage der Zeit, das war auch früher keine Frage der Zeit. Das ist eine Frage der Einstellung.“ In Ingrids Ton mischt sich ein Spur Ungeduld. „Das ist Quatsch, Anja.“ Auch Anjas Ton wird ungeduldiger. „Ist es nicht.“
Für einen kurzen Moment ist es still. Mutter und Tochter schauen sich nicht an. In die Stille dringen leise die Rufe der spielenden Kinder auf der Straße. Ingrid bemüht sich um einen ruhigeren Ton. „Ich habe als Fünfjährige die Bombardierung Dresdens miterlebt. Ich bin mit meiner Mutter durchs Feuer gerannt. Sie hatte noch einen Kinderwagen für mich dabei, damit es schneller ging. Den hat sie beiseite geschmissen, weil der anfing zu brennen.“
Anja schaut ihre Mutter an. Deren Stimme wird weicher, unverstellter. Ingrid kann gut erzählen, man erkennt die ehemalige Unterstufenlehrerin. „Wir sind irgendwo angekommen, in einer Schule am Stadtrand, da wurden wir unters Dach gebracht. Meine Mutter hatte die Füße verbrannt, die Hände verbrannt und ich die Hände und das Gesicht. Man sieht es ja heute noch.“
Ingrid schaut auf ihre Hände. „Hast du ein Taschentuch, Anja?“
Anja gibt ihr ein Taschentuch und schenkt ihr Wasser nach. Dann sagt sie: „Diese Angriffsnacht am 13. Februar kommt immer wieder hoch. Bis heute, jedes Jahr im Februar. Die Erzählungen, wie Großmutter noch mal in ihr abgebranntes Haus zurück ist. Oder wie sie fast vergewaltigt worden wäre.“ Ingrid schnaubt ins Taschentuch und wischt sich die Tränen ab. „Im Mai kamen dann die Russen, und die schmissen uns aus den Häusern und wir mussten im Wald leben. Ich fand das als Kind wunderschön, denn als wir früh aufwachten, da blühten die Maiglöckchen. Aber die anderen fanden das nicht so schön.
Später sind wir dann zu meinen Großeltern nach Dresden zurück. Die waren nicht ausgebombt. Ich habe als Kind richtig oft gehungert. Ich bin so froh, dass das heute anders ist. Du musstest nie hungern. Meine Großeltern hatten eine Vierraumwohnung. Davon bekamen wir einen Raum. Meine Großmutter war keine liebe. Es gab da einen langen düsteren Flur und immer, wenn wir uns da begegneten, bekam ich von ihr einen mit dem Ellenbogen. Komisch. Dann kam mein Vater aus dem Krieg zurück und wir hatten immer noch nur dieses eine Zimmer.“
Bis Ingrid neun Jahre alt ist, schläft sie mit ihren Eltern in diesem Raum. Ein Tisch, ein Schrank und das Bett ihrer Eltern. Ingrid wird begeisterter Pionier, später ist sie Mitglied der FDJ und nimmt 1955 an einer der ersten Jugendweihen teil. „Da wusste ich, wohin ich gehöre. Das war mein Staat. Meine Eltern blieben skeptisch, aber ich war begeistert.“ Mit neunzehn Jahren bekommt sie ihre erste Klasse. Ungefähr zu dieser Zeit tritt sie in die SED ein, sie will zeigen, dass sie eine der ihren ist.
Ingrid knüllt das Taschentuch in ihren Händen. „Ich wollte etwas bewirken und verändern. Ich habe oft die Klappe aufgerissen und oft Dresche bezogen. Von den Genossen.“ Sie sieht Anja an. „Deinen Vater habe ich 1970 beim Tanzen kennengelernt. Da war ich von meinem ersten Mann schon wieder geschieden. Das war eine feine Liebe.“ Anja gibt trocken zurück: „Bis auf die Ehefrau und die drei Kinder.“
Für einen Moment scheint es, als ob ihre Mutter darüber lachen würde, dann erwidert sie mit einer Spur Empörung in der Stimme: „Das wusste ich doch nicht! Dein Vater war Berliner und kam hierher zum Studium. Er war regelmäßig in Berlin, aber geahnt habe ich nichts. Erst als ich schwanger wurde und ihn um die Vaterschaftsanerkennung für dich bat, schaute er mich an und sagte: ‚Weiß ich denn, ob das meins ist?‘ Da war bei mir Schluss, aus. Da hätte ich auch nicht weiterkämpfen können, da war es vorbei. Obwohl er später die Vaterschaft anerkannt hat. Vor dem Gerichtsgebäude habe ich den Kinderwagen genommen und gesagt: ‚Schau sie dir noch mal an, es ist deine Tochter! Und nun kannst du gehen.‘ Hab ich dich allein groß gezogen.
Später musste ich dich in die Wochenkrippe geben, sonst hätte ich das als stellvertretender Direktor nicht geschafft. Ich war noch im Krankenhaus, da hatte meine Schule schon den Krippenplatz besorgt. Nach acht Wochen bin ich dann wieder voll arbeiten gegangen und du warst die Woche über weg. Ich kriegte dich erst Freitagabend wieder. Das habe ich nicht lange durchgehalten.“
Anja ist still geblieben. Hat ihre Mutter reden lassen. Seit Ingrid jedoch von ihr erzählt, wirkt sie angespannt. Die Wochenkrippe scheint ein wunder Punkt zwischen Mutter und Tochter zu sein. „Immerhin ein Jahr“, sagt Anja. Ingrid verteidigt sich sofort. „Das war ein schlimmes Jahr. Da kam hinzu, dass ich die Schule wechseln musste. Und dann wurde Oma schwer krank, sie hatte Krebs. Ich konnte nicht mehr. Ja, ein Jahr, dann habe ich gesagt: ‚Ich will mein Kind und euren stellvertretenden Direktor könnt ihr euch an den Hut stecken!‘“ Sie sucht Anjas Blick. „Vielleicht war es ein Fehler. Obwohl, du hast dich in der Krippe wohlgefühlt und die haben sich rührend um dich gekümmert. Wenn du einen Infekt hattest, dann riefen die mich nicht an, sondern sie ließen das behandeln und gaben mir dann am Freitag nur die Restmedikamente mit. Ich musste mich nicht sorgen.“
Anja ahmt die Sprachmelodie ihrer Mutter nach. „Ich habe da erschütternd wenige Erinnerungen dran.“ Dann wird sie wieder ernst. „Aber was ich mittlerweile weiß, ist, dass man damals den Babys in solchen Einrichtungen Beruhigungspillen gegeben hat. Da würde heute jede Mutter auf die Barrikaden gehen.“
Anja erhält 1990 ein gutes letztes DDR-Abitur. Nach der Wiedervereinigung beginnt sie in den alten Bundesländern zu studieren. Im zweiten Studienjahr geht sie immer weniger nach draußen. Verpasst Prüfungen, fühlt sich nicht stark genug für die Herausforderungen. Keine Beziehung hält. Nach dem Studienabbruch und der Rückkehr nach Dresden begibt sie sich in psychiatrische Behandlung, weist sich selbst für ein paar Wochen in die Klinik ein. Woher ihr Wechsel aus Ängsten und der Neigung zur Selbstüberschätzung kommt, kann ihr bis heute niemand sagen. Eine Ärztin diagnostiziert eine bipolare Störung. Seit sie medikamentös eingestellt ist, bewältigt sie den Alltag wieder gut.
Ingrid reagiert persönlich betroffen. „Davon haben wir nichts gewusst!“ Das lässt Anja nicht gelten. „Aber selbst wenn ihr es gewusst hättet, hättet ihr nichts gemacht!“ „Darum hat sich niemand Sorgen gemacht.“ Ingrid klingt hilflos. Anja schaut ihre Mutter an. „Das eine oder andere Problemchen ließe sich vielleicht eben auch damit in Verbindung bringen. Aber das werden wir nie erfahren.“ „Einfach war es nicht“, verteidigt sich Ingrid. „Sechzig bis achtzig Arbeitsstunden die Woche, einschließlich der Vorbereitungen zu Hause. Die hatten dir in der Wochenkrippe angewöhnt, früh um vier Uhr aufzuwachen, damit alle fertig waren, wenn die Ablöse um sechs Uhr kam. Ich habe Jahre gebraucht, dir das wieder abzugewöhnen. Abends habe ich bis spät gearbeitet am Schreibtisch. Die Nächte waren immer zu kurz. Aber so war unser Leben.“
Anja schaut zum Fenster. Warmes Abendlicht fällt in das Zimmer, auf ihr Gesicht. Sie hat mir einmal ein Kinderfoto gezeigt. Ernst steht sie als Halbwüchsige mit großer Brille an einer steinernen Tischtennisplatte.
Ingrid schaut sie an: „Die Arbeit musste ich durchstehen und ich musste sie ordentlich machen. Ja, und aus Sitzungen konnte ich auch nicht früher gehen. Das mochten sie gar nicht. Da habe ich mich dann mit anderen Müttern abgesprochen. Irgendwie ging es immer. Ich war damals an einer riesengroßen Schule. Mit über dreiundvierzig Klassen. Da war es schwer, alles im Griff zu haben.“ Sie redet leidenschaftlich auf Anja ein, die schaut sie an, fast stellt sich so etwas wie Nähe ein.
„Es gab aber auch kluge Leute. Mein Direktor war so einer. Von dem habe ich viel gelernt, zum Beispiel dass man großzügig sein muss. Einmal kam eine Mutter und wollte für ihr Kind zu Maria Himmelfahrt frei haben. Ich wollte das ablehnen, das gab es doch nicht in der DDR! Da kam er dazu und sagte: ‚Selbstverständlich!‘ Das habe ich mir gemerkt. Als ich dann mit den Kindern im Musikunterricht die Internationale singen wollte mit ‚Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott ...‘, da kam ein Vater und sagte: ‚Mein Kind kann das nicht mitsingen.‘ Die waren Mormonen. Das musste das Kind dann nicht singen bei mir.“
Anja scheint ihr nicht zuzuhören. Sie schaut sie nicht an; ich spüre, dass sie ihre Mutter so noch nicht entlassen kann. Diesmal nicht. „Zu Hause warst du weniger großzügig. Wir haben wir uns seit ich zehn, elf war, so oft gestritten. Bei uns war immer eine gespannte Atmosphäre, ich fühlte mich damals komplett missverstanden und habe darunter gelitten. Du warst unerbittlich in meiner Erinnerung. In der fünften, sechsten Klasse habe ich das auch meiner Lehrerin erzählt. Die hat dann auch mal mit dir gesprochen. Das war dir sehr unangenehm.“ Ingrid antwortet tonlos: „Ja.“
Anja redet weiter. Sie ist nicht vorwurfsvoll, aber klar und bestimmt. „Das hast du mir gegenüber danach auch zum Ausdruck gebracht. Ich hatte noch kein Bewusstsein, dass Dinge richtig schiefliefen bei uns. Doch die Lehrerin ahnte etwas. Du hattest einfach zu viel zu verantworten. Es war nicht zu schaffen. Und dann so eine rebellische Tochter wie ich. Hilfe gab es für Fälle wie uns damals nicht.“ „Es wäre mir damals gar nicht eingefallen, Hilfe zu suchen“, erwidert Ingrid. „Ich fand das alles normal. Und besser als meine Kindheit. Ich wollte, dass du ein glückliches Kind bist. Glücklicher als ich es war.“
„Ich nehme an, dass du auch darunter gelitten hast, aber du warst erwachsen und hast nichts dagegen unternommen“, sagt Anja. „Und wenn dir dann nichts mehr eingefallen ist, hast du auch zu drastischeren Mitteln gegriffen. Das fand ich noch ungerechter als die Streitigkeiten, Anschuldigungen und Beleidigungen, weil du da ein Mittel genutzt hast, das mir nicht zustand. Da bin ich erst recht ausgetickt.“ Sie schaut ihre Mutter an. Ingrid sagt beschwörend „Alleinsein mit einem Kind war kein Makel. Das ging vielen Frauen so.“
„Aber nicht alle haben versucht, sich das Leben zu nehmen“, antwortet Anja nach kurzem Schweigen. „Ich war elf ungefähr, als du wahrscheinlich so was wie einen Nervenzusammenbruch hattest. Und ich weiß, dass du mit Schaum vorm Mund überm Gasherd hingst und den Gasherd aufgedreht hattest und immer gerufen hast, dass du dich jetzt umbringst und ich wäre schuld. Und ich war elf. Das Wort Depression habe ich nach der Wende das erste Mal gehört. Der gute DDR-Bürger wurde nicht depressiv. Und der hatte auch keine anderen Schwierigkeiten. Ich kann mich aber erinnern, dass du auch einmal einen, heute würde man vielleicht Burnout sagen, hattest, überarbeitet warst ... was auch immer. Da hatte dir deine Ärztin eine Schlafkur verordnet. Kannst du dich daran noch erinnern?“
Ingrid schreckt zusammen bei Anjas direkter Frage. „Nee.“ „Da hat sie dir Schlaftabletten verschrieben.“ Ingrid fragt „Hab ich die genommen?“ „O ja!“, sagt Anja, lauter als vorher. „Drei Wochen wurdest du damit ruhiggestellt. Du schliefst. Machtest offiziell eine Schlafkur.“ Ingrids Stimme zittert. „Das höre ich zum ersten Mal. Ich war manchmal überfordert. Auch mit meinen Erinnerungen. Und Beruf und Kind und kranker Mutter. Dafür habe ich mich aber immer eher geschämt.“
Jetzt ist es lange still im Raum. Dann legt Anja ihre Hand auf die Hand ihrer Mutter. „Ich bin damit durch. Ich weiß heute, dass es auch für dich nicht einfach war. Über manches denke ich trotzdem immer noch nicht gerne nach, weil mir das immer noch einen Stich gibt. Wir haben uns arrangiert. Meine Wut auf dich und unsere Vergangenheit ist mehr Mitleid geworden, auch wenn es ein brüchiger Frieden zwischen uns ist. Wir sitzen hier zusammen. Sieh es doch mal so.“
Ingrid nickt und schnäuzt sich geräuschvoll. „Du hast doch aber einmal zu mir gesagt: ‚Ich hatte trotz allem eine schöne Kindheit und du hast dafür gesorgt, dass wir jedes Jahr einen schönen Urlaub hatten.‘“ Anja schüttelt den Kopf. „Schlimm ist, dass du überhaupt da hineingekommen bist und dass keiner da war, um zu helfen.“
Da bricht es unvermittelt aus Ingrid heraus. „Ich habe immer an die DDR geglaubt. Ich habe nie gejammert, auch nicht über unsere viel zu kleine Wohnung. Ich konnte keinen Freund mitbringen und du auch nicht. Aber ich habe gedacht, es gibt andere, denen geht es noch viel schlechter. Als ich dann aber nach dem Mauerfall sah, wie unsere Oberen in Wandlitz gewohnt hatten, da war ich so bedient, dass ich an so etwas geglaubt habe, ich bin sofort ausgetreten aus der SED. Als die ersten Demonstrationen hier bei uns in Dresden anfingen, die führten an unserem Haus vorbei ... Ich stand am Fenster und konnte sehen, wie die auf die Demonstranten einprügelten. Da ist bei mir eine Welt zusammengebrochen. Da habe ich dann gewusst, wie dumm ich war. Aber da war es auch zu spät.“ Ingrid hat sich in Rage geredet. „Ich bin ein gebranntes Kind. Ich habe in der DDR gelebt, ich habe fast alles geglaubt, und jetzt nicht mehr. Warum verdiente ich danach weniger für die gleiche Arbeit? Warum erhalte ich bis jetzt weniger Rente? Ich fühle mich von niemandem richtig vertreten. Da habe ich gerade das erste Mal im Leben nicht gewählt.“
Anja schaut ihre Mutter an. Sie hat selbst gerade ihre Arbeit verloren. Ihre Kneipe wurde geschlossen, da ihr Mietvertag überraschend nach zwanzig Jahren Betrieb nicht verlängert wurde. Auf dem Arbeitsmarkt gilt Anja trotz ihrer Berufserfahrung als Ungelernte ohne Studien- oder Ausbildungsabschluss. Sie überlegt, eine Umschulung zur Steuerfachfrau zu machen, um endlich einen Abschluss vorweisen zu können. Trotzdem fällt ihr Resümee anders aus. „Mir hatten Mauerfall und Wende den anderen Teil der Welt dazu geschenkt. Obwohl ich auch viele Ängste hatte. Das, womit uns die DDR versorgt hatte, das trug ich ja noch in mir und das hatte ich auch verinnerlicht. Die Angst vor Arbeitslosigkeit beunruhigt mich bis heute nachhaltig, ich habe gelernt, dass Arbeit zum Menschen gehört. Demokratie ist schwer umzusetzen. Sie ist noch nicht optimal ausgestaltet, aber ist trotzdem die beste Staatsform, die wir bisher hatten.
Anja, die in Jeans und T-Shirt einen coolen Studentenklub geleitet hat, geht nun in Bluse und Bundfaltenhose ins Büro. „Abgrenzungsritual“ nennt sie selbst das. „Bis ich wieder so sicher bin wie in meinem Job vorher.“ Anjas Lebensgefährtin kommt jetzt herein und füllt den Raum mit Geschäftigkeit, sie öffnet das Fenster, klappert in der Küche. Es ist dunkel geworden, Lampen werden angeknipst. Anja holt eine Rotweinflasche, Ingrid lässt sich von ihr zu einem Glas überreden.
Im Jahr darauf erfahre ich, dass Anja ihre Umschulung geschafft hat und von ihrem Ausbildungsbetrieb übernommen wurde. Die Bundfaltenhose trägt sie immer noch. (gekürzt)
Unsere Gespräche geben Einblicke in Familien und damit in die Seele Ostdeutschlands. Die Eltern und Kinder erzählen von alten und neuen Sehnsüchten, Dazugewonnenem, Verlusten, aber auch von alten und neuen Ängsten und Enttäuschungen. Dafür haben wir überwiegend Eltern und Kinder mit komplizierteren Geschichten und eher schwierigerem Zugang zueinander ausgewählt. Natürlich gibt es viele ostdeutsche Familien, in denen die Generationen gut miteinander kommunizieren. Für dieses Buch erschien es uns wertvoll, darauf aufmerksam zu machen, welche Hürden und Probleme es zu bewältigen gab und gibt und mit welchen Spätfolgen von insgesamt drei deutschen Staatsformen, Mauerfall, Transformation und Nachwendezeit wir es heute zu tun haben.
Das individuelle Selbst-Begreifen wird so als eine bis in die Gegenwart spezifische innerfamiliäre Herausforderung sichtbar, die exemplarisch für die Suche nach einem gesamtdeutschen kollektiven Selbstverständnis steht. Um in die Zukunft blicken zu können, müssen wir die Vergangenheit begreifen. Nur so können aktuelle politische Entwicklungen verstanden und ihnen produktiv begegnet werden.
Die anderen Leben. Generationsgespräche Ost. Sabine Michel & Dörte Grimm in Zusammenarbeit mit Förderband e.V. Kulturinitiative Berlin, erschienen im BeBra Verlag, Berlin 2020, gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung.
Zitierweise: Sabine Michel/Dörte Grimm , „Die anderen Leben. Generationengespräche Ost“, in: Deutschland Archiv, 31.08.2023, Link: www.bpb.de/539597
geboren im brandenburgischen Pritzwalk, studierte Publizistik, Geschichte und Ethnologie und arbeitet seit 2008 als freie Autorin und Regisseurin. Sie schreibt Kinderbücher und arbeitet für diverse Fernsehformate. Seit 2014 engagiert sie sich ehrenamtlich im Verein „Perspektive³ / Dritte Generation Ostdeutschland“, der sich der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Zeit der Transformation nach 1989 widmet.
geboren in Dresden, studierte Filmregie in Potsdam/Babelsberg. Ihr Kurzfilm „Hinten scheißt die Ente“ führt als Publikumserfolg zu ihrem ersten Langspielfilm „Nimm dir dein Leben“ im Jahr 2005. Seitdem arbeitet die Adolf-Grimmepreisträgerin für Kino und Fernsehen und am Theater. Ihr neuer Film „Frauen in Landschaften“ hat im September 2023 Kinostart, in der ARD- Mediathek findet sich aktuell ihre Doku „Aufstand der Frauen – der 17. Juni 1953“ .