Das religiöse Feld in Ostdeutschland
Von der Volkskirche über die Minderheitenkirche zur Avantgarde?
Thomas Großbölting
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Eine Reflexion von Thomas Großbölting: Welche Rolle spielt Kirche heute noch (oder wieder) im Osten Deutschlands, wo sie der SED-Staat lange Zeit isolierte? Dennoch gelang es ihr, zu einem der Motoren der Friedlichen Revolution in der DDR 1989 zu werden. Viele Prognosen für die Zeit nach dem Mauerfall schlugen fehl.
Wie man sich irren kann: „Mun statt Marx“ warnte das Wochenmagazin Der Spiegel in seiner Ausgabe 36 im Jahr 1990: „Halleluja“ töne es künftig aus dem Ostberliner Haus der Gewerkschaften, in denen sich amerikanisch-christliche Pfingstler daran machten, ihre Mission in der ehemaligen DDR aufzubauen. Auch die Scientologen hätten in Dresden, Leipzig, Halle und Berlin Zweigstellen aufgemacht, um ebenso wie die weltweit operierende Mun-Sekte für Nachwuchs zu werben.
Ihre Chancen, so folgerte das Nachrichtenmagazin aus Einlassungen von Experten, stünden nicht schlecht. Der hallesche Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz, der zu diesem Zeitpunkt bereits durch verschiedene Interpretationen der Lage Ostdeutschlands hervorgetreten war, attestierte den Ostdeutschen, für die unterschiedlichsten Formen von Verführung extrem anfällig zu sein. Wie bei Süchtigen entstünden bei den autoritätshörigen Ostdeutschen Entzugserscheinungen, „wenn wie hier in der DDR Autoritäten entmachtet und dekuvriert werden.“
„Das führerlose Volk“, so zitierte Der Spiegel den Therapeuten, giere „nach neuen Mächtigen – und seien es Götter.“ Der Berliner Sektenexperte und Pfarrer Thomas Gandow stieß in dasselbe Horn, wenn er beklagte, dass die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger keine „Abwehrkräfte gegen Okkultismus und Wahnreligiösität“ ausgebildet hätten. Und sein bayerischer Kollege Friedrich-Wilhelm Haack befürchtete gar einen Drehtüreffekt bei jungen Ostdeutschen: „raus aus der Parteijugend FDJ, rein in die nächstbeste Glaubensgruppe.“
Keine der Prognose traf ein
Nichts von dem Prognostizierten traf tatsächlich ein. Weder die als „Sekten“ diffamierten asiatisch inspirierten Religionsgemeinschaften noch andere internationale religiöse Vereinigungen „verführten“ die Ostdeutschen. Im Gegenteil: Bis heute ist der Markt neureligiöser Angebote in den fünf Bundesländern nicht so ausgeprägt wie in den Regionen der alten Bundesrepublik.
Die Menschen in Ostdeutschland wissen weniger über die Szene populärer Religionen – und wenn, dann ist das Interesse daran sehr begrenzt. Derselbe Befund gilt auch für die beiden in Deutschland beheimateten Großkirchen als die größten Religionsgemeinschaften. Auch deren Funktionäre und Würdenträger machten sich Hoffnungen auf eine grundlegende Trendwende nach der Wiedervereinigung.
Waren nicht über 40 Jahre lang die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands zur religiösen Abstinenz gezwungen worden? Musste sich jetzt nicht dieses Verhalten in sein Gegenteil umkehren? Dafür sprach doch insbesondere die wichtige Rolle, die vor allem evangelische Christen und partiell auch die evangelische Kirche als Institution in der friedlichen Revolution spielte. In den Pfarrhäusern und Kirchenkellern hatte sich seit Ende der 1970er Jahre die Oppositionsbewegung formiert. Pfarrer und Pfarrerinnen, aber auch viele andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der evangelischen Kirche waren maßgeblich am Sturz des SED-Regimes beteiligt.
Nicht zuletzt ein Blick auf die politische Elite der DDR-Opposition, die nach der Vereinigung noch in der ersten Reihe des Politikbetriebs stand, zeigt ihren Einfluss deutlich: Joachim Gauck, Markus Meckel, Rainer Eppelmann, Marianne Birthler und einige mehr standen zu DDR-Zeiten im Dienst der evangelischen Kirche und setzten ihre Karrieren in der Politik des wiedervereinigten Deutschlands fort. Sollte das nicht die beste Grundlage bieten für eine „Rechristianisierung“ – so das nach 1945 gebräuchliche Stichwort für die Erwartung einer umfassenden Neuorganisation des Gemeinwesens auf christlicher Grundlage?
Diese Hoffnung wurde gründlich enttäuscht, keine der hochfliegenden Erwartungen bewahrheitete sich. Ein statistischer Blick auf das religiöse Feld in den neuen Ländern zeigt, dass ein Trend bis heute dominiert: der Bedeutungsverlust von Transzendenzorientierung, sprich Säkularisierung (nachfolgend in Abschnitt 1).
Warum das so war und aus welchen Gründen sich diese Entwicklung weiter fortsetzte, ja sogar beschleunigte, lässt sich mit einer spezifischen Kultur der Konfessionslosigkeit begründen, die als Pfad bereits seit dem Ende der 1960er Jahre angelegt war. Der Unterschied zum religiösen Feld des alten Westens war und ist über die quantitativen Befunde hinaus auch strukturell begründet (Abschnitt 2).
Ist das ein Problem? Wo die neuen Länder als Avantgarde einer Entwicklung gelten können, die auch in vielen anderen Teilen West- und Osteuropas in den kommenden Jahrzehnten zu beobachten sein wird, sollen abschließend die Konsequenzen dieser Entwicklung diskutiert werden. Fehlt etwas, wenn das religiöse Feld schwindet? Und wenn ja, was fehlt für die Entwicklung von Zivilgesellschaft und politischer Kultur? (Abschnitt 3).
1. Kultur der Konfessionslosigkeit: Vergangene Trends und zukünftige Entwicklungen
Die Hoffnungen der Kirchenvertreter auf sich rasch füllende Gotteshäuser verflogen schnell, wie im Folgenden am Beispiel der ungleich größeren und gesellschaftlich bedeutenderen evangelischen Kirche gezeigt wird: Tatsächlich nährte die Entwicklung unmittelbar nach der friedlichen Revolution zunächst – zumindest im Ansatz – die Hoffnung auf eine „Rechristianisierung“. Während in den letzten Jahren der DDR um die 5.000 Menschen jährlich in eine der protestantischen Landeskirchen eingetreten waren, schnellte diese Zahl nach 1989 auf das Dreifache hoch und erreichte 1991 eine Höchstzahl von 24.000 neuen Mitgliedern.
Die neue Attraktivität war zweifelsohne begründet mit dem Wegfall politischen Drucks gegen die Kirchen, aber auch mit einem neuen Relevanzgewinn, den insbesondere die evangelische Seite in der friedlichen Revolution und danach für sich hatte verbuchen können. Ihre Kirchen waren oftmals Ausgangspunkte für die Aktivitäten der Demonstrationsbewegung, an vielen Orten waren Pfarrer und Kirchenmitarbeiterinnen zu Gesichtern des Protests avanciert.
Auch andere Indikatoren aus der soziologischen Forschung und aus den Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Kirche in dieser Situation an Wertschätzung und an Relevanz gewann. Unmittelbar nach dem Ende der SED-Diktatur brachten ihr große Teile der Ostgesellschaft Vertrauen entgegen und wurden ihr in hohem Maße soziale Kompetenzen zugeschrieben: In der Phase des sozialen Umbruchs, in der alle bisherigen Gewissheiten geschleift und eine neue Ordnung noch nicht sichtbar war, richteten sich anscheinend besonders viele Erwartungen an die protestantische Kirche, gestaltend einzugreifen. „Langfristig hat die Kirche von dieser Funktionszuschreibung, wie sie typisch war für die Phase des Umbruchs, aber nicht profitiert“, schon bald sanken die dieser Institution zugeschriebenen Vertrauens- und Kompetenzwerte wieder.
Dagegen aber stand eine massive Austrittswelle, die die Jahre des Umbruchs und danach stärker prägte als der Eintritt von Personen: Während sich das Verhältnis von Aus- und Eintritten 1989 1,6 zu 1 (11.172 Austritte zu 6848 Eintritte) bewegt hatte, schnellte es nach der friedlichen Revolution in die Höhe und stieg von 3,5 zu 1 (82.761 Austritte zu 23.980 Eintritte) auf später dann über 7 zu 1 (106.850 Austritte zu 15.237 Eintritte im Jahr 1992; 85.176 Eintritte zu 11.680 Austritte im Jahr 1993). Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Ein erster liegt darin, dass viele zunächst noch kirchennahe Menschen die während der friedlichen Revolution und davor entwickelten hochgesteckten Erwartungen an die Kirchen nicht erfüllt sahen. Mit der Übernahme der Staat-Kirche-Regelungen aus dem alten Westen, sprich: der Installierung einer „hinkenden Trennung“ zwischen Kirchen und Staat, rückten die Religionsgemeinschaften nah an die staatlichen Instanzen.
Für manchen veränderte sich damit die Rolle enorm. „Das hohe Vertrauen, das (die Kirchen) unmittelbar in der Zeit des Umbruchs als Schutzschild der Opposition, als Moderatoren des Wandels und als mutige Verfechter der Wahrheit genossen hatten, schlug innerhalb eines Jahres um in wachsendes Misstrauen“. Für die größere Gruppe derjenigen, die sich zum Austritt entschlossen, war aber wohl ein anderes Argument entscheidend: Mit der Währungsreform waren Kirchensteuern, die nun unmittelbar mit der Lohnsteuer abgezogen wurden, mit harter Währung zu bezahlen. Insbesondere der dann 1991 eingeführte Solidaritätszuschlag führte dazu, dass viele Steuerpflichtige ihre Belastungen durch einen Austritt aus der Kirche und die damit wegfallende Kirchensteuer kompensierten. Die weitere Entwicklung führte dazu, dass bis heute der Anteil von Nichtgläubigen wie auch von überzeugten Atheisten in der ehemaligen DDR besonders groß ist. Eine Studie der Universität Chicago, die 2008 den Gottesglauben vergleichend in 42 Ländern untersucht hat, erklärte die Ostdeutschen gar zu den „weltweit größten Gott-Zweiflern“. Damit überziehen die Verfasser deutlich, gibt es doch ähnliche Zahlen auch in der Tschechischen Republik, in Estland oder auch in den Niederlanden. Dennoch ist mit dieser Formulierung markiert, wie stark diese Einstellung bei den Ostdeutschen ausgeprägt war und ist.
Mit Stand 2011 hat die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) erhoben, dass der Anteil evangelischer Christen an der Bevölkerung von 82 Prozent im Jahr 1946 auf 20 Prozent im Jahr 2011 sank, bei den Katholiken waren es analog von 12 Prozent auf bis zu 4 Prozent. Die Zahl der Konfessionslosen stieg indessen auf 74 Prozent. Diese Entwicklung setzte bereits vor 1949 ein. In einigen Regionen, die die spätere DDR bildeten, war die Bevölkerung bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts weniger kirchengebunden als anderswo. So ging zum Beispiel die Abendmahlbeteiligung in vielen protestantischen Gebieten Mitteldeutschlands bereits seit 1910 zurück und unterschied sich damit signifikant von anderen Teilen Deutschlands.
Ein höherer Grad an Industrialisierung, eine starke Zu- und Abwanderung und eine damit verbundene stärkere Auflösung traditioneller religiöser Zusammenhänge waren Ursachen dieser Entwicklung. Katholiken waren in diesen Regionen ohnehin seit jeher wenig vertreten. Zwei regional begrenzte Ausnahmen bestätigen die Regel: Allein im Eichsfeld hatte sich eine katholische Lebenswelt ausgebildet, die sich in Ansätzen auch über das Ende der DDR hinaus erhalten konnte. Das protestantische Pendant dazu war der sächsische Erzgebirgskreis, der Teil des „sächsischen Bibelgürtels“ war und in dem sich vergleichbare, aber weniger starke Milieustrukturen religiösen Lebens ausbildeten.
Eine zeitlich begrenzte Ausnahme bildeten die Monate der friedlichen Revolution. Attraktiv waren für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demonstrationsbewegung die vielfältigen Möglichkeiten, die sich in und mit der Kirche boten. Nicht nur die Nicolaikirche in Leipzig, sondern zahlreiche weitere Gotteshäuser waren in den Städten der DDR Ausgangspunkte der Protestbewegung, die den Sturz des SED-Regimes maßgeblich herbeiführte. „Der Herbst 1989 war für die Kirchen eine einzigartige Ausnahmesituation: Niemals sonst waren sie dem Volk so nahe“, beschreibt der ostdeutsche Theologieprofessor Peter Maser euphorisch die Erfahrung des Herbstes 1989. Absolut gesehen aber blieb sie von der Mehrheit der Bevölkerung bis zuletzt getrennt, wie der Soziologe Detlef Pollack konstatiert.
Selbst während der friedlichen Revolution sprachen allenfalls einige ihrer Vertreter für einen Teil der Bevölkerung. Spätestens in dem Moment, als führende Kirchenfunktionäre vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) vor einer zu schnellen Wiedervereinigung warnten, deckten sich deren politische Ansichten nicht mehr mit einem Großteil der Bevölkerung. Für viele, die im Herbst 1989 in die Kirchen geströmt waren, blieb die christliche Lebenswelt doch fremd. Nicht religiöse Fragen oder Bedürfnisse, sondern politische Anliegen hatten sie in die Kirche gebracht. „Die massenhafte Begegnung von Bevölkerung und Kirchen der DDR blieb eine auf wenige Monate beschränkte Episode.“
Die eigentlich flächendeckende Veränderung, der umfassende Bedeutungsverlust von Religion für die individuelle Lebensführung wie auch für das kollektive Leben, setzte sich somit auch über die friedliche Revolution hinaus fort. Ein Blick auf die Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestätigt dies: 91 Prozent der Bevölkerung gehörten 1945 auf dem Gebiet der späteren DDR einer der christlichen Kirchen an. 45 Jahre später war es nur noch ein Viertel, heute sind es noch weniger, und ihr Anteil sinkt kontinuierlich. Religiöse Praxis wie auch die Teilnahme an den Übergangsriten wie Taufe, Hochzeit oder Beerdigung wurde zur Ausnahme von der Regel.
In den neuen Ländern, so lässt sich auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sagen, herrscht eine Kultur der Konfessionslosigkeit. Da drei Viertel der Bevölkerung ohne religiöses Bekenntnis leben, ist dieses Nichtbekenntnis stark in der Lebenswelt verankert und gilt als selbstverständlich. Das Kontrastbeispiel dazu bietet der alte Westen. Auch dort gehen die Mitgliederzahlen der Kirchen selbst wie auch der ihnen verbundenen Organisationen ebenso zurück wie die Beteiligung an kirchlichen Riten und das Engagement in Vereinen, Verbänden und Bewegungen. Im Unterschied zum Osten stellt die Kirchenmitgliedschaft dennoch den erwarteten „Normalfall“ dar, von dem große Teile der Gesellschaft und selbst viele derjenigen ausgehen, die nicht Mitglied einer der großen Kirchen sind.
Im Westen Deutschlands hält sich somit trotz der Erosion von Mitgliederbindung und Partizipationsverhalten grundsätzlich eine Kultur der Konfessionsbindung. Beide Kulturen – die der Konfessionsbindung wie auch die der Konfessionslosigkeit – zeichnen sich durch sich selbst verstärkende Effekte aus: Ähnlich wie sich in stark religiös geprägten Gesellschaften die Kirchenmitgliedschaft von den Eltern auf die Kinder überträgt, so verhält es sich auch umgekehrt im Fall des Desinteresses oder der erklärten Abwendung, wie sie in Ostdeutschland vergleichsweise stärker ins Auge fällt. Der Anteil derjenigen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören und auch kein Interesse an religiösen Fragen bekunden, stieg in den vergangenen Jahren kontinuierlich.
Befragungen von Ausgetretenen verweisen deutlich auf die Motive für diesen Schritt: Es ist weniger die Kritik an den Leistungen der Kirche oder ihrem tatsächlichen Agieren, sondern eher eine weit verbreitete und fest verwurzelte Überzeugung, dass Religion nicht relevant sei – weder für das eigene Leben noch für die Gesellschaft insgesamt. Da Religion einem nicht wichtig ist, soll sie einem auch nicht teuer werden. Insbesondere die Belastung durch die Kirchensteuer, die dann analog zum altbundesrepublikanischen Modell unmittelbar von der Lohn- und Einkommenssteuer einbehalten wurde, gab in vielen Fällen den Anstoß zum Austritt aus der Organisation, der man schon lange entfremdet war.
Diese auf solche Weise begründete Kultur der Konfessionslosigkeit lässt auch die Voraussage zu, dass eine Trendumkehr nicht in Aussicht steht. Es mangelt sowohl an der Vorstellung, dass die Kirche und die mit ihr verbundene Religion Relevanz besäße als auch an kommunikativen und lebensweltlichen Zusammenhängen, in denen Wissen um wie auch das Leben mit Religionen bekannt und eingeübt würde.
Diese Beobachtungen lassen sich zu einer Frage zuspitzen, die es in sich hat: Die DDR, die als Politik- und Gesellschaftssystem in vielerlei Hinsicht krachend gescheitert ist, scheint doch in einem Fall erfolgreich zu sein. Die antireligiöse Politik, welche die SED zeit ihrer Existenz betrieben hat, war und ist auch über das Ende der Diktatur hinaus nachhaltig prägend. Wie erklärt sich diese ausgeprägte, tief verankerte und deshalb langlebige Kultur der Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland?
2. Der Konflikt um die Jugendweihe: Zugehörigkeit als Entscheidung
Eine Antwort liegt auf der Hand, sie erklärt vieles, aber nicht alles. Hauptursache für den Rückgang der Kirchlichkeit war die staatlich betriebene ideologische Überformung der Gesellschaft. Mit der Etablierung des Parteiregimes ging eine Politik der Diskriminierung der christlichen Kirchen und ihrer Mitglieder einher. In ihrem Selbstbild präsentierte sich die DDR als atheistischer Staat. Auch wenn sich die antikirchliche Politik der Staatspartei SED mit den Jahren modifizierte und generell abschwächte, bestand doch im Weltbild prinzipiell kein Zweifel daran, dass in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft für Religionen jeglicher Art kein Platz war.
Nur wider besseren Wissens und gegen die Erkenntnisse von Natur- und Gesellschaftswissenschaften konnte man aus Sicht des Marxismus-Leninismus an religiösen Überzeugungen festhalten. Christlicher Glaube galt als unmodern, überkommen und irrational.
Hinzu kam, dass machtpolitisch insbesondere die evangelische Kirche der SED ein Dorn im Auge sein musste. Nach der Gleichschaltung der politischen Parteien war dies die einzige Großorganisation, die relativ autonom und unabhängig von staatlichem Einfluss agieren konnte und nicht zuletzt auch deshalb zu einem wichtigen Ausgangspunkt der friedlichen Revolution avancierte.
Wer nach einer Antwort auf diese vielschichtige Frage sucht, stößt unweigerlich auf die Auseinandersetzungen um die Jugendweihe, wie sie zwischen SED-Staat und den beiden christlichen Kirchen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre geführt wurden.
Dieser Konflikt ist mehr als nur eine Episode in der 40 Jahre währenden Streitgeschichte der Weltanschauungen, wurde dabei doch der Modus religiösen Lebens ganz grundsätzlich verändert: Volkskirchliche Strukturen, wie sie im bikonfessionellen Deutschland auf eine lange Tradition zurückblicken und sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Massen- und Mediengesellschaft in modernen Formen entwickelt hatten, basieren darauf, dass Mitgliedschaft nicht hinterfragt wird, sondern als selbstverständlich gilt. Mitglieder entscheiden sich nicht bewusst für ihren Eintritt oder Austritt, sondern sind qua Gewohnheit mit dabei – diese Grundtendenz erklärt die Langlebigkeit religiöser Zugehörigkeiten. Genau dieser Mechanismus aber wurde im Zuge der Auseinandersetzung um die Jugendweihe durchbrochen und verändert.
Mit der Einführung der Jugendweihe zielte die SED darauf, das kirchliche Monopol auf die Übergangsriten zu brechen. Mit der Taufe, der Konfirmation oder der Firmung, der Hochzeit und dem Begräbnis hatten bislang christliche Rituale das Leben vieler Menschen an entscheidenden Stellen geprägt. Damit sollte jetzt Schluss sein, wenn die Jugendweihe als staatliches Angebot der Konfirmation mindestens an die Seite gestellt wurde oder diese gleich ganz ablöste.
Höhepunkt der jeweiligen Feier war die Aufnahme der 14-jährigen Kinder in den Kreis der Erwachsenen. Das dazu gesprochene Gelöbnis veränderte sich im Laufe der Jahre stark und spitzte sich politisch durchaus zu. 1954 verpflichteten sich die Heranwachsenden zum Einsatz für ein einheitliches Deutschland. Schon die im Jahr 1957 veröffentlichte Fassung ließ die Sprechenden geloben, ihre „ganze Kraft für die edle Sache des Sozialismus einzusetzen“ und „für die Freundschaft der Völker einzutreten und mit dem Sowjetvolk und allen friedliebenden Menschen der Welt den Frieden zu sichern und zu verteidigen“.
Die Entwicklung des Gelöbnistextes steht paradigmatisch für die ideologische Eskalation des Konflikts insgesamt. Der Staat gab zunächst weiterhin vor, weltanschaulich neutral zu sein, obwohl der Zeitpunkt der Jugendweihe als auch deren Ausrichtung diese eindeutig als Konkurrenz zu Firmung und Konfirmation erkennen ließ. Warum, so suggerierte das Vorgehen der SED, sollten nicht beide Rituale, das weltliche und das kirchliche, nebeneinanderstehen?
Die Jugendweihe war keine DDR-Erfindung, sondern blickte in der Arbeiterbewegung auf eine länger verwurzelte Tradition zurück. Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte dieser Ritus in freireligiösen Gemeinden den Übergang vom Kind zum Jugendlichen markiert. In der Arbeiterbewegung war die Jugendweihe während der Weimarer Republik populär geworden, aber selbst in den eigenen Reihen doch immer ein Randphänomen geblieben. Die Bedeutung der kirchlichen Übergangsriten wie Taufe, Hochzeit und Beerdigung hatte sie nicht ernsthaft in Frage stellen und erst recht nicht beseitigen können.
Genau aus diesem Grund schreckte die SED 1949, im Gründungsjahr der DDR, noch vor der Einführung der Jugendweihe zurück, fürchtete man doch den Einfluss der Kirchen und ihrer Anhänger. Selbst der Großteil der SED-Mitglieder sei noch konfessionell gebunden, führte ein Beitrag in der Parteizeitschrift Der Funktionär aus, so dass eine harte Linie wenig erfolgversprechend sei. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gab man diese Zurückhaltung auf. Nach einer kurzen Phase der Zurückhaltung nach der Volkserhebung des 17. Juni 1953 forcierte die Staatspartei ihren Kurs des Gesellschaftsumbaus erneut und verstärkte dabei auch ihre Aktivitäten gegen die Kirchen. Die evangelische wie auch die katholische Kirche hatten gegen die Einführung des staatlichen Übergangsritus bei den staatlichen Stellen energisch protestiert.
Von ihren Gläubigen verlangten beide Konfessionsgemeinschaften eine strikte Entscheidung, als sie Konfirmation beziehungsweise Firmung und Jugendweihe für unvereinbar erklärten. Wer an der staatlichen Jugendweihe teilnahm, dem wurde die kirchliche Segenshandlung verweigert. Einen Zwischenweg sollte es nach Ansicht der Kirchenleitungen nicht geben.
Die ersten Monate des Konflikts schienen den Kirchenoberen Recht zu geben. Große Teile der Bevölkerung hielten zunächst an den traditionellen religiösen Formen fest, selbst SED-Mitglieder wählten in manchen Orten für ihre Kinder lieber die kirchliche Variante der Firmung anstatt den sozialistischen Ersatzritus.
Erst ab 1957 wendete sich das Blatt. Die Jugendweihe wurde nach und nach zu einem Massenereignis und auf Dauer zu einer „Volkssitte“, an der sich später bis zu 90 Prozent der Familien beteiligten. Eine konzertierte Aktion von staatlichen Stellen und politischen Organisationen hatte diesen Umschwung bewirkt: Mit Walter Ulbricht sprach der Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und damit der mächtigste Mann im Staate am 29. September im thüringischen Sonneberg zu circa 1.000 Jugendlichen und deren Eltern. Anlässlich ihrer Jugendweihe forderte er dazu auf, alte und überlebte Glaubenssätze über Bord zu werfen.
Der vormals aufrecht erhaltene Eindruck, die SED verhalte sich gegenüber den Religionen neutral, war damit aufgegeben. Nicht nur die Parteien und die Massenorganisationen, sondern auch die staatlichen Schulen hatten sich um steigende Teilnehmerzahlen zu bemühen. Das Freiwilligkeitsprinzip wurde aufgehoben. Wer nicht teilnahm, musste mit Nachteilen in der Schule, beim Studium oder im Beruf rechnen. Mit der Zeit verlor die Jugendweihe diese politische und kämpferische Note und wurde in weiten Teilen der Bevölkerung nicht nur als selbstverständlich, sondern auch als eher entpolitisiertes Fest und besonderes Familienereignis akzeptiert. Die Kirchen gingen aus diesem Konflikt als klare Verlierer hervor.
Auf längere Sicht folgten nur wenige und dort vor allem Pfarrerskinder und Kinder strenger Katholiken der kirchlichen Weisung und verweigerten sich der Jugendweihe. Die katholische Kirche hielt bis zuletzt an der Unvereinbarkeit von Firmung und Jugendweihe fest und beschritt damit den Weg einer maximalen Abgrenzung vom diktatorischen Umfeld. In der evangelischen Kirche baute man hingegen verschiedene Brücken, mit denen man auch die an der Jugendweihe Teilnehmenden wieder in die eigene Gemeinschaft zu integrieren suchte. Dennoch rückten Konfirmation und Firmung an den Rand des kirchlichen Lebens. In einer Situation der direkten Entscheidung, so hatte dieser Konflikt gezeigt, waren viele Kirchenmitglieder nicht bereit, den Vorgaben der religiösen Autoritäten zu folgen.
Dieser Konflikt veränderte die Grundlagen religiösen Lebens entscheidend. Die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft war jetzt keine Tradition oder Gewohnheit mehr, sondern erforderte eine bewusste Haltung und eine davon abgeleitete Praxis, in der DDR richtete sich diese gegen den Staat. Aus der Volkskirche wurde eine Entscheidungskirche – und das mit weitreichenden Folgen bis in die Gegenwart hinein. Nicht allein diktatorischer Zwang bewirkte die Religionslosigkeit, sondern – so zeigen biografische Interviews – viele Menschen haben sich im Laufe der Existenz der DDR die Distanz zur Transzendenz aktiv angeeignet und in ihr Lebenskonzept integriert.
Von vielen wird die Entscheidungssituation zwischen Staat und Kirche als selbstverständlich empfunden und nicht mehr hinterfragt. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“, so äußert sich einer der Befragten und steht damit für eine weit verbreitete Haltung. Dieses Entweder-Oder der Mitgliedschaftslogik haben auch die Kirchen selbst befördert, als sie Jugendweihe und Konfirmation für unvereinbar erklärten. Viele derjenigen, die in die SED eintraten oder einen staatsnahen Beruf ergriffen, gingen davon aus, dass der Staat ihnen abverlangen konnte, ihre Kirchenmitgliedschaft zu beenden. Die Konfessionslosigkeit machte das Leben unkomplizierter, die Kirchenmitgliedschaft hingegen barg Risiken und konnte zu Konflikten führen.
Diese Sichtweise auf die Religion internalisierten große Teile der Bevölkerung, unabhängig von ihren weiteren politischen Überzeugungen. Hinzu trat, dass sich eine zweite Konfliktlinie tief in die Anschauungen eingeprägt hat. Die wissenschaftliche Weltdeutung, so hatte die SED immer wieder propagiert, vertrage sich nicht mit einem religiös motivierten Weltbild. Mit dieser Überzeugung konnte die SED an eine Haltung anknüpfen, die auch über ihre Weltanschauungsgruppe hinaus weit verbreitet war und auch in aufklärerisch inspirierten Kreisen auf viel Zustimmung stieß. Rationalität und Religion wurden und werden nach wie vor von vielen als krasse Gegensätze angesehen. Wesentlich, so folgert Monika Wohlrab-Sahr aus ihren Untersuchungen, ist die Säkularität im Osten eine von der SED-Diktatur erzwungene Haltung, die aber an Überzeugungen anknüpfen oder diese stiften konnte, die die Religionslosigkeit unterstützten.
Unter den Bedingungen der „forcierten Säkularität“ bildeten sich eigene Werte aus, die zum Teil die Funktion religiöser Überzeugungen übernahmen und vor allem nach 1990 zusätzlich nostalgisch verklärt wurden. Der Gemeinschaftserfahrung der Jahre bis 1990 wird die kalte Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands gegenübergestellt. Die auf das Gemeinwohl bedachte „ehrliche Haut“ wird als Gegenentwurf zum kapitalistischen Raffzahn konstruiert, die Arbeit zu einem Wert stilisiert, die den Menschen in die Gemeinschaft integriert und ihm Würde verleiht.
Wenn es ein religiöses Interesse gibt, dann sind es die davon abgeleiteten Haltungen, die dieses motivieren: Gemeinschaftserfahrung, Kritik am Materialismus, aber auch die denkerische und kreative Arbeit am Selbst finden insbesondere Angehörige der jüngeren Generation eher in den neureligiösen Bewegungen als in den großen Religionsgemeinschaften. Generell aber fehlen insbesondere in den Familien, die bereits in der zweiten Generation konfessionslos sind, jegliche christlichen, aber auch andere religiöse Anknüpfungspunkte. Eine Kehrtwende ist daher nicht zu erwarten.
3. Religion und Zivilgesellschaft: Fehlt etwas? Was fehlt?
Markiert die „Kultur der Konfessionslosigkeit“ nicht vor allem einen Zustand, auf den mindestens die westeuropäischen Gesellschaften in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ohnehin zulaufen werden? Ist es ein Problem, dass die volkskirchlichen Strukturen nicht nur – wie im Westen – zunehmend erodieren, sondern bis auf wenige Reste bereits verschwunden sind? Immerhin sehen wir, dass sich auch im wiedervereinigten Deutschland die christlichen Großkirchen zunehmend einer kritischen Diskussion stellen müssen: Beide Kirchen sind Institutionen, in denen sexueller Missbrauch institutionell nicht nur nicht aufgedeckt und verfolgt, sondern auch durch sehr spezielle, auch spirituell begründete Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse ermöglicht, gestützt und deren Aufdeckung vertuscht wurden. Ist Ostdeutschland hinsichtlich seiner Konfessionslosigkeit Avantgarde, steht für den Zukunftstrend und ist die Entwicklung daher sogar begrüßenswert?
Oder – so wird normativ von der gegenüberliegenden Seite des Weltanschauungsspektrums argumentiert – fehlt in Ostdeutschland wegen des Mangels an religiöser Imprägnierung nicht ein wichtiges Element gesellschaftlichen Lebens? Für die Zivilgesellschaft in Deutschland – das hat die historische Forschung lange Zeit per Definition ausgeklammert – ist die Religion ein wesentliches Moment.
Auch wenn der Begriff Religion viel mehr als das Christentum umfasst, waren lange Zeit und sind bis heute die katholische und die evangelische Kirche die mitgliederstärksten und zivilgesellschaftlich einflussreichsten Organisationen – bei aller Pluralisierung des religiösen Feldes insgesamt. Prinzipiell kann Religion für das Funktionieren eines Gemeinwesens ein durchaus ambivalenter Faktor sein. In Religionsgemeinschaften finden sich Menschen zusammen, die ihr Leben im Austausch mit einer Transzendenz reflektieren, sei es Gott, Allah oder eine andere höhere Instanz. Diese gemeinsame Prämisse, unter der das Leben steht, kann sich dabei dogmatisch verengen und so die Gesellschaft als Ganzes belasten. Oder sie erweist sich als wichtiges Reflexionsmoment, welches produktiv in die Gesellschaft hineinwirkt und die Diskussion und Bewältigung von Herausforderungen mitträgt und befördert.
Bei aller Offenheit der Frage über den Nutzen oder den Schaden von Religionsgemeinschaften für die Zivilgesellschaft und die politische Kultur, lässt sich für die alte Bundesrepublik sagen, dass es einen engen Zusammenhang gab: Im Westen Deutschlands waren die Religionsgemeinschaften dicht angebunden an die staatlichen Vollzüge, mit der juristischen Konstruktion einer „hinkenden Trennung“ von Kirchen und Staat war auch rechtlich ein starker Zusammenhang geschaffen.
Weit darüber hinaus reichten die Kirchen und ihre Vorfeldorganisationen in die politische Kultur hinein, flächendeckend gab es Pfarreien und Gemeinden in der gesamten Bundesrepublik. Sie organisierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit praktische Lebenshilfe beispielsweise für Flüchtlinge und Vertriebene und schufen Öffentlichkeit für (die von ihnen unterstützten) politischen Anliegen. Bis heute ist an ihren religiösen Feiertagen das gesamte öffentliche Leben ausgerichtet. Das politische Leben wurde von den kirchlichen Verbänden nicht nur reflektiert, sondern intensiv mitgestaltet.
Die Diskussion darum, wie die Schulen angemessen zu organisieren seien, konzentrierte sich lange Zeit vor allem auf die Frage nach der Einrichtung von Bekenntnisschulen für die beiden Konfessionen. Die Debatte um die Gründung der Bundeswehr und die damit einhergehende Wiederbewaffnung der Republik war ebenso hochgradig mit religiösen Argumenten aufgeladen wie die Frage nach der militärischen Nutzung von Atomenergie. Selbst die Deutschlandpolitik wurde stark unter konfessionellen Gesichtspunkten diskutiert.
Für eine rasche Wiedervereinigung und damit auch für mögliche Konzessionen gegenüber der DDR beziehungsweise der Sowjetunion setzten sich verschiedene protestantische Gruppierungen ein. Die Westbindungspolitik des Kanzlers begleitete hingegen fortwährend der Verdacht, dem Katholiken Adenauer sei am Schicksal der protestantischen Brüder und Schwestern im Osten schon aus konfessionellen Gründen weniger gelegen.
Viele Aktivitäten der Sozial- und Familienpolitik wurden von den Kirchen angestoßen, zum Teil auch organisiert. Wer in den 1950er Jahren und danach beispielsweise über Geburtenregelungen, Schwangerschaftsabbruch, aber auch über Erziehung und Bildung sprach, kam um die Kirchen nicht herum. In all diesen Bereichen beanspruchten sie für sich Kompetenz und Mitsprache – und diese wurde ihnen von der Gesellschaft auch breit eingeräumt. Aber auch die neuen sozialen Bewegungen wie die Friedensbewegung, Teile der Ökologiebewegung, ja selbst der Einsatz für die Emanzipation und Gleichstellungen von Frauen war partiell von Strömungen aus den Kirchen mitgetragen.
Zuletzt waren viele Gemeinden und kirchliche Organisationen in der Flüchtlingshilfe für diejenigen aktiv, die seit 2015 aus Syrien und den Nachbarländern nach Deutschland gekommen sind. Dazu trug bei, dass viele der führenden Politikerinnen und Politiker aus ihren Reihen kamen. Den katholischen und evangelischen Verbänden und Vereinen entstammt nicht selten das politische Personal, bis heute haben viele Politikerinnen und Politiker ihre Wurzeln in der kirchlichen Jugendarbeit.
Trotz der Erosion der Mitgliederbasis und bei allem Einflussverlust, den die Kirchen in einer religiös wie auch weltanschaulich pluraler werdenden Gesellschaft zu verzeichnen haben, gibt es das Zusammenwirken von Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaft nach wie vor. Die Entwicklung des religiös-kirchlichen Lebens in der DDR hatte einen gänzlich anderen Verlauf genommen – und kehrte sich auch nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung nicht um.
Dennoch ist die Zuordnung von Staat und Kirchen in den neuen Bundesländern ganz nach dem Modell der alten Bundesrepublik gestaltet. Da eine Verfassungsdiskussion 1989 und danach ausblieb, ist die „hinkende Trennung“ von Kirchen und Staat in die neuen Länder übertragen worden – die jeweiligen Landesverfassungen haben dort keine neuen Akzente gesetzt. Nur: Aufgrund der fortgeschrittenen Säkularisierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge werden diese Strukturen zu wenig mit Leben erfüllt.
4. Folgen für die Zukunft
Die weitgehende Säkularisierung kann man bedauern oder begrüßen, je nachdem wie man zur religiösen Prägung einer Gesellschaft steht. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft birgt diese Konstellation aber eine besondere Herausforderung, die sowohl für den Osten wie auch in Zukunft für den Westen Deutschlands gilt: Es fehlen die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Kommunikationsstrukturen, die im alten Westen nach wie vor, wenn auch in schwindender Stärke, die politische Kultur mitgestalten.
Menschen in religiösen Zusammenhängen sind tendenziell stärker wertgebunden, intensiver in eine Gemeinschaft integriert und werden schon allein aus diesen Zusammenhängen heraus oft für zivilgesellschaftliches Engagement angefragt. Zudem tragen die christlichen Religionsgemeinschaften ihre Anliegen nicht nur über die Medien, sondern vor allem über den schulisch verankerten Religionsunterricht in die Bevölkerung. Mit dieser Beobachtung ist keine Werbung für eine Rückkehr zum Status quo der alten Bundesrepublik verbunden.
Religionsgemeinschaften können in ihrer Wirkung für das Gemeinwesen hochambivalent sein, zu einer politischen Kultur positiv beitragen oder ihr schaden. Vielmehr soll darauf aufmerksam gemacht werden, welch komplexe Funktionen Religionsgemeinschaften für das Gemeinwesen übernehmen können. Die Demokratie ist auf ideelle Grundlagen und kommunikative Zusammenhänge angewiesen, in denen sich die Gesellschaft ihrer selbst zu versichern vermag. Nur so können Liberalität und persönliche Freiheitsrechte, gewährleistet bleiben und darf die oder der Einzelne ohne Angst anders sein. Nicht im Gegensatz oder in Konkurrenz dazu, sondern in Übereinstimmung damit bedarf es auf der anderen Seite einer Kommunalität, in der sich das Individuum auch als Teil einer Gemeinschaft erleben und verorten kann.
Dazu gehören Gelegenheiten, bei denen sich unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Zusammenhänge begegnen, austauschen und wichtige Linien der Gesellschaftsentwicklung formulieren – sei es medial oder in körperlicher Anwesenheit, wie beispielsweise auf Demonstrationen, in Parlamentssitzungen oder in wo auch immer angesiedelten Diskussionsrunden. Dazu gehören Organisationsformen und gemeinsame Praktiken, die individuelle Selbstwirksamkeit erfahrbar machen und zugleich in eine solidarisch handelnde Gesellschaft integrieren.
Oft übernahmen und übernehmen Religionsgemeinschaften diese Funktion innerhalb der Gesellschaft. Mit dem weitgehenden Abbruch dieses Strangs in den neuen Ländern und mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust von Religionen auch in den alten Ländern stellt sich die Frage, wie die damit aufgegebenen Strukturen in Zukunft ersetzt und weiter gestaltet werden können.
Der Autor, Prof. Thomas Großbölting, war von 2009 bis 2020 Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit August 2020 ist er Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professor für Neuere Geschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg.
Buchcover (Ost)Deutschlands Weg
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Zitierweise: Thomas Großbölting, „Das religiöse Feld in Ostdeutschlan: Von der Volkskirche über die Minderheitenkirche zur Avantgarde? "", in: Deutschland Archiv, 15.04.2022, Link: www.bpb.de/507326. Der Text ist dem Doppelband entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes I+II", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert vom Deutschland Archiv der bpb.
Prof. Thomas Großbölting war von 2009 bis 2020 Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit August 2020 ist er Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professor für Neuere Geschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg.
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