Zusammenwachsen in Feindseligkeit?
Ähnlichkeiten und Unterschiede in (anti)demokratischen Orientierungen in Ost- und Westdeutschland
Andreas ZickBeate Küpper
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Ist der Osten anti-demokratischer eingestellt? Schnell taucht das stereotype Bild vom „rechten Osten“ auf, in dem Rechtsextremisten mehr Zulauf erhalten, als im Westen. Woran liegt das? Eine Analyse.
1. Rechter Osten, selbstgefälliger Westen?
Vielen rechtsextremen Gruppierungen, mögen sie auch aus dem Westen stammen, gelang es, im Osten besonders leicht Anhänger zu rekrutieren und sich dort zu verankern (Schubarth/Stöss 2001). Aktuelle Analysen von Hasstaten (zum Beispiel Übergriffe auf Geflüchtete beziehungsweise deren Unterkünfte) auf der Kreisebene belegen eine signifikant stärkere Verdichtung im Osten (zum Beispiel Rees et al. 2019). Es sind Räume entstanden, in denen sich rechtsextreme Gruppierungen besonders verbreiten konnten und entsprechende Normalitätsverschiebungen beobachten lassen. Parteien der äußersten Rechten erreichen im Osten schon seit vielen Jahren einen deutlich höheren Stimmenanteil als im Westen mit bis zu einem Drittel der Wähler*innen, die sich bei Wahlen auf den verschiedenen Ebenen für eine Rechtsaußen-Partei entscheiden. Zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie und Vielfalt hat es dort deutlich schwerer als im Westen, gerät bisweilen sogar in den Verdacht linksextrem zu sein, stößt auf Widerstand in der Bevölkerung bis hin zu persönlicher Bedrohung der Aktiven.
Neben vielen anderen Faktoren, die ähnlich auch im Westen (anti-)demokratische Orientierungen beeinflussen, kommen im Osten die Transformationserfahrungen und -erzählungen nach „der Wende“ hinzu. Während im Westen die Einführung der liberalen Demokratie mit Aufstiegserfahrungen aus den Trümmern des Krieges und mit dem Vergessen-Wollen verbunden war, war sie im Osten für viele erst einmal mit Entbindungs- und auch Herabsetzungserfahrungen und dann auch Nostalgiegefühlen an die Zeit vor 1989 verknüpft, während sich gleichzeitig die Heilsbotschaft der „blühenden Landschaften“ entzauberte. Der gegenseitige Blick ist geprägt von Vorbehalten wie auch Vorurteilen.
Der Blick des Westens ist seit dem Zusammenbruch der DDR geprägt vom Klischee der armen Brüder und Schwestern, der problembeladenen Ossis, denen man weniger zutraut. Umgekehrt geht dies oft mit der vorwurfsvollen Reaktion einher, „integriert doch erstmal uns.“ So jedenfalls fasst Petra Köpping, vormals Integrationsministerin in Sachsen, das Gefühl vieler im Osten zusammen. Viele weitere gegenseitige Bilder, Eindrücke und auch Vorurteile dokumentiert der vorliegende Band. Und ein wesentliches Klischee ist die anhaltende Vergleichsdebatte, ob der Osten illiberaler wie rechtsextremer ist als der Westen, oder ob es sich hierbei um ein gesamtdeutsches Phänomen handelt.
Aber sind die Menschen im Osten tatsächlich „rechter“ beziehungsweise rechtsextremer und antidemokratischer orientiert als die im Westen? Oder äußern sie einfach offener und lauter Unmut, werden antidemokratische Stimmungen stärker von der regionalen Politik toleriert, die ihre Bürger*innen – auch jene am rechten Rand – nicht verlieren möchte? Werden rechtsextreme Meinungen nicht auch im Osten nur von einer kleinen Minderheit vertreten? Und anders gefragt: Ist der Westen dagegen ein Hort der Demokratie? Dort sind die Demonstrationen, die sich gegen Rechtsextremismus stellen, deutlich größer, die Anzahl an Hasstaten geringer, der Wahlerfolg von Parteien der äußersten Rechten niedriger, aber auch der Westen hat sich erst langsam und gegen innere Widerstände demokratisiert. Der Rechtsextremismus blühte in den 1980er Jahren im Westen auf und drängte nach 1990 in den Osten. In Ost wie West erfolgte die Aufarbeitung des Nationalsozialismus spät bis gar nicht, traf auf Unwillen, und in beiden Teilen des Landes bildete sich eine ‚rechte Kontinuität‘ (Frei et al. 2019). Die Erinnerungskultur ist heute in Ost wie West von Verdrängungen und Umdeutungen geprägt (Rees/Zick 2018).
Dieser Beitrag fragt nach den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen in ihren demokratiebezogenen Einstellungen unter Bezug auf empirische Daten. Wir fokussieren vor allem Einstellungen, welche die demokratische Verfasstheit herausfordern oder gar gefährden. Dazu gehören rechtspopulistische, rechtsextreme wie menschenfeindliche und rassistische Orientierungen, die sich gegen soziale Gruppen richten – markiert unter anderem über kulturelle, religiöse oder soziale Zuweisungen wie sie ähnlich auch in Artikel 3 des Grundgesetzes benannt sind –, und deren Gleichwertigkeit infrage gestellt wird. Es geht um politische Überzeugungen beziehungsweise (anti-)demokratische Orientierungen im Sinne von Wahrnehmungs- und Denksystemen, die mit bestimmten Einstellungen einhergehen (Bar-Tal 1990). Diese Einstellungen werden von anderen übernommen, mit anderen geteilt, stellen kollektive Verbindung her, das heißt sie wirken im sozialen Raum. Am Ende des Beitrags richtet sich der Blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen. Wie soll es weitergehen angesichts der gleich berichteten Entwicklungen?
2. Demokratiebezogene Einstellungen bei Ost- und Westdeutschen
Wir berichten im Folgenden über demokratiegefährdende Einstellungen von Ost- und Westdeutschen unter Verwendung von repräsentativen Meinungsumfragen. Herangezogen werden insbesondere die Ergebnisse der "Mitte-Studie“ aus dem Winter 2018/19, durchgeführt im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) als computergestützte telefonische Befragung (Zick/Küpper/Berghan 2019); thematisch verwandte Befragungen kommen im Großen und Ganzen zu ähnlichen Befunden (unter anderem die Leipziger Autoritarismusstudie von Decker/Brähler 2020, die anonym auszufüllende Fragebögen verwendet, was üblicherweise zu etwas höheren Zustimmungen zu kritischen Fragen führt).
2.1 Anmerkungen zur Methodik
In der Studie wurden 1.885 repräsentativ ausgewählte Personen nach Standards der Sozialforschung telefonisch befragt (Details dazu in der Originalpublikation). 85 Prozent der Befragten wohnten zum Zeitpunkt der Befragung in westdeutschen, 15 Prozent in ostdeutschen Bundesländern. Die Befragten wurden mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens interviewt. Hierzu wurde ihnen eine Reihe von auf ihre Zuverlässigkeit vorgeprüften Aussagen vorgelegt, zu denen sie jeweils gebeten wurden, auf einer 5-stufigen Antwortskala ihre Zustimmung beziehungsweise Ablehnung anzugeben. Als Zustimmung wurde gewertet, wenn eine Person einer Aussage „eher“ oder „voll und ganz“ zugestimmt hat. Eine Überzeugung wird durch mehrere Aussagen abgebildet. Die Unterschiede zwischen Ost und West und anderen Gruppen wurden mit üblichen statistischen Verfahren auf ihre Zuverlässigkeit beziehungsweise Signifikanz überprüft (Details bei Zick/Küpper/Berghan 2019). Im Einzelfall kann eine Aussage von einer oder einem Befragten anders als intendiert verstanden werden, etwa weil die befragte Person gerade ein ganz persönliches Beispiel assoziiert oder in einer besonderen Stimmungslage ist. Für die Interpretation der Befunde ist es daher wichtig, nicht nur eine einzige der unten ausschnitthaft vorgestellten Aussagen herauszugreifen, sondern stets das Gesamtmuster der Antworten einer oder eines Befragten und der Befragung insgesamt in den Blick zu nehmen.
Erhoben wurden verschiedene Facetten (anti-)demokratischer Einstellungen, darunter die Befürwortung oder Ablehnung demokratischer Grundwerte, Vertrauen oder Misstrauen in Demokratie, die Unterstützung einer offenen, pluralen Gesellschaft oder illiberale Demokratievorstellungen, rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen. Die Befunde der FES-Mitte-Studie dürften aufgrund der gewählten Methodik einer telefonischen Befragung ein eher konservatives Bild von der antidemokratischen Stimmungslage in der Gesellschaft geben. Telefonische Befragungen führen erfahrungsgemäß bei heiklen Fragen zu eher zurückhaltenden Antworten im Vergleich zu einer anonymen Befragung mittels selbstständig auszufüllendem, schriftlichem Fragebogen, wie ihn etwa die Leipziger Autoritarismusstudie verwendet; in geschlossenen Foren im Internet werden Einstellungen bisweilen dann noch drastischer ausgedrückt. Dieses unterschiedliche Antwortverhalten ist nicht per se mehr oder weniger „wahr“, sondern spiegelt die Tatsache, dass Einstellungen und ihre Äußerung immer auch von der jeweiligen sozialen Situation abhängen, in der unterschiedliche soziale Normen und Motive auf unterschiedliche Art und Weise wirksam werden.
2.2. Befürwortung von Demokratie und ihren Grundwerten
Die Befunde der Mitte-Studie 2018/19 zeigen, ähnlich vergleichbaren Studien, ein zwiespältiges Bild in Bezug auf (anti-)demokratische Einstellungen in Deutschland und diesbezügliche Unterschiede zwischen Ost und West. Auf den ersten Blick findet sich eine große Zustimmung zur Demokratie in Ost- wie Westdeutschland, die Unterschiede zwischen beiden Landesteilen sind marginal, kleine augenscheinliche Unterschiede oft nicht signifikant. So befürwortet die große Mehrheit der Befragten die demokratische Verfasstheit, indem sie zum Beispiel der Aussage zustimmt: „Es ist unerlässlich, dass Deutschland demokratisch regiert wird“ (Gesamt: 86 Prozent, Zustimmung Ost 84%, West 87%). Eine Mehrheit von 65 Prozent bewertet auch das Funktionieren der Demokratie als „im Großen und Ganzen ganz gut“ (Ost 58%, West 66%). Die absolute Mehrheit ist davon überzeugt: „In einer Demokratie sollte die Würde und Gleichheit aller an erster Stelle stehen“ (93 Prozent; Ost 96%, West 92%). Fast ebenso viele Befragte meinen: „In einer Demokratie geht es darum, die Interessen unterschiedlicher Gruppen zu berücksichtigen“ (83 Prozent; Ost 87%, West 83%).
Auch die Befürwortung der Vielfalt und Offenheit ist ausgeprägt; zwei Drittel stimmen der Aussage zu: „Verschiedene kulturelle Gruppen bereichern die Gesellschaft“ (67%; Ost 71%, West 66%). In diesem Antwortmuster spiegelt sich die breite Zustimmung zu einer liberalen Demokratie und offenen, pluralen Gesellschaft, wie sie das Grundgesetz vorgibt, welches die lebendige Auseinandersetzung um Sachfragen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessenslagen, aber stets vor den Prämissen von Würde und Gleichwertigkeit unterstreicht. Ost- und Westdeutsche unterscheiden sich hierin kaum. Auch unter jungen Menschen in Ost und West nivellieren sich die Einstellungen zur Demokratie – drei Viertel und mehr sind ihr gegenüber positiv eingestellt (Albert et al. 2019).
Politische Überzeugungssysteme sind allerdings keineswegs immer konsistent. Da sie mit anderen Menschen mit jeweils etwas anderen Meinungen geteilt werden und sich auf ihrer Grundlage gemeinsame Identität bildet, müssen sie fähig sein, divergente Einstellungen aufzulösen, um für das Kollektiv konsistent zu erscheinen. Gerade populistische und verschwörungstheoretische Überzeugungen zeichnen sich durch eine mühelose Integration ambivalenter und sogar widersprüchlicher Informationen aus, ermöglichen ein „Doppeldenken“ (Irwin/Dagnall/Drinkwater 2015). So können die eben festgestellten positiven Einstellungen zur Demokratie durchaus auch mit illiberalen Meinungen bei ein und denselben Befragten einhergehen. Dies zeigt sich in den Ergebnissen der Mitte-Studie 2018/19, in der sich die große Mehrheit der Befragten zwar zur Demokratie bekennt, zugleich aber bei etlichen Befragten ein destruktives Misstrauen gegenüber der Demokratie, gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen bis hin zu Facetten rechtsextremer Ideologie zum Ausdruck kommen.
2.3. Verbreitung von Misstrauen gegenüber der Demokratie, rechtspopulistische Orientierung und Verschwörungsmythen
Ein erheblicher Anteil der Befragten misstraut den demokratischen Institutionen, Prozessen und der repräsentativen Vertretung durch Parteien und Politiker*innen und teilt zudem Gefühle politischer Machtlosigkeit und Entfremdung beziehungsweise die pauschale Skepsis, inwieweit die Grundrechte tatsächlich realisiert sind (zu letzterem Neu 2019). Dies öffnet Menschen für anti-demokratische Propaganda und Agitation, die dieses Misstrauen gezielt schüren. Im Osten ist dieser Anteil etwas größer als im Westen. So vertraut nur gut die Hälfte der Befragten staatlichen Institutionen wie Behörden, Gerichten und Universitäten (57 Prozent; Ost 54%, West 57%). Fast die Hälfte der Befragten meint: „Die demokratischen Parteien zerreden alles und lösen die Probleme nicht“ (43%; Ost 53%, West 41%). Auch etwa die Hälfte der Befragten unterstellen: „Politiker nehmen sich mehr Rechte heraus als normale Bürger“ (49 Prozent; Ost 45%, West 50%) und nahezu ebenso viele vermuten: „Politiker umgehen die bestehenden Gesetze, wenn es um ihre eigenen Vorteile geht“ (46 Prozent; Ost 47%, West 46%).
Ein knappes Drittel der Befragten meint: „Demokratie führt eher zu faulen Kompromissen als zu sachgerechten Entscheidungen“ (30 Prozent; Ost 33%, West 29%), ebenso viele vermuten: „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“ (36 Prozent; Ost 44%, West 35%). Jede*r fünfte Befragte hält es für "sinnlos, sich politisch zu engagieren“ (21 Prozent; Ost 22%, West 21%). Ein gutes Drittel teilt illiberale Vorstellungen. So ist fast ein Viertel der Befragten ist der Ansicht: „Es wird zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen“ (23 Prozent; Ost 24%, West 22%). Ein Drittel meint: „Im nationalen Interesse können wir nicht allen die gleichen Rechte gewähren“ (36 Prozent; Ost 37%, West 35%). Drei Viertel der Befragten sind der Ansicht: „Die Politik sollte auf den Volkswillen hören“ (75 Prozent; Ost 82%, West 73%). Rund ein Fünftel meint in diesem Zusammenhang: „Zu viele kulturelle Unterschiede schaden dem Zusammenhalt der Deutschen“ (21 Prozent; Ost 24%, West 19%). Trotz vieler Ähnlichkeiten, tendieren Ostdeutsche demnach insgesamt etwas häufiger als Westdeutsche zu einer homogenen, antipluralistischen Auffassung von „Volk“.
Diese Vorstellungen finden sich auch im Rechtspopulismus, der ein homogenes Volk mit einem einheitlichen „Volkswillen“ propagiert, vertreten durch eine einzige starke Führung (Müller 2016). Eine rechtspopulistische Orientierung wurde in den beiden Kerndimensionen einer gegen „die Eliten“ und einer antipluralistischen, gegen „die Fremden“ gerichteten Haltung erhoben, sowie einem Law-and-Order-Autoritarismus, also einem autoritären Verständnis von Gesellschaft, welches Unterordnung verlangt und sich klar gegen (in der Wahrnehmung und/oder Propaganda) Normabweichende richtet. Insgesamt wurden sechs Dimensionen statistisch abgesichert zu einem Index rechtspopulistische Orientierung zusammengefasst: Demokratiemisstrauen (siehe oben), Autoritarismus und die Abwertung von als „fremd“ wahrgenommenen und markierten sozialen Gruppen, die derzeit besonders im Fokus stehen – „Ausländern“, Asylsuchenden, Muslimen sowie Sinti und Roma, wobei hier, wie die Ergebnisse belegen, hohe Korrelationen auch zum Antisemitismus, schwächere auch zu Homophobie und Sexismus bestehen. Befragte im Osten tendieren insgesamt häufiger zum Rechtspopulismus (zusammengefasster Index; Zustimmung Ost 30%, West 20%).
Während Ost- und Westdeutsche fast gleichermaßen demokratiemisstrauisch sind (Ost 62%, West 58%; Unterschied nicht signifikant), tendieren Ostdeutsche noch etwas häufiger zum Autoritarismus (Ost 68%, West 61%) und zu einer Abwertung und Ablehnung von „Fremden“. Im Osten ist die Abwertung von Ausländern beziehungsweise Eingewanderten (Ost 22%, West 17%), Muslimen (Ost 25%, West 19%) und Asylsuchenden (Ost 63%, West 50%) signifikant stärker verbreitet als im Westen, wobei diese Tendenz durchaus auch im Westen beobachtet werden kann; die Abwertung von Sinti und Roma (Ost 27%, West 24%, Unterschied nicht signifikant) ist zum Beispiel dort ähnlich hoch wie im Osten. Zudem befürworten anteilig mehr Ost- als Westdeutsche Privilegien für Etablierte gegenüber „Neuhinzugekommenen“ (Ost 42%, West 35%). In Bezug auf verwandte Abwertungsphänomene wie Antisemitismus, Sexismus, Homophobie oder die Abwertung von sozial schwacher Gruppen wie langzeitarbeitslosen und wohnungslosen Personen unterscheiden sich Befragte in Ost- und Westdeutschland hingegen nicht voneinander (detaillierte Ergebnisse bei Zick/Küpper/Berghan 2019, Tabelle 3.3.).
Verschwörungsmythen sind in besonderer Weise fähig, inkonsistente Ideen miteinander zu vereinbaren; dies geschieht um den Preis des autoritären Gehorsams gegenüber den Akteur*innen, die sie verbreiten (vgl. Rees/Lamberty 2019). Die Vermutung von Verschwörungen von als fremd, abweichend oder bedrohlich wahrgenommenen Gruppen, die einem geheimen Plan folgen, der sich gegen „das Volk“ richtet, gehören traditionell zur Agitation und Propaganda von rechtem Populismus und Rechtsextremismus (Wodak 2016). In der "Mitte-Studie" 2018/ 2019 glaubt mehr als ein Viertel der Befragten an Verschwörungsmythen, im Osten mehr als im Westen. Dazu gehören etwa Behauptungen wie „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte (33 Prozent; Ost 35%, West 32%) und: „Die Medien und die Politik stecken unter einer Decke“ (24 Prozent; Ost 25%, West 24%). An eine Unterwanderung durch den Islam glauben im Osten 36 Prozent, während es im Westen, wo viel mehr Muslime leben, nur 23 Prozent sind (Gesamt 25%). Auch antisemitische Verschwörungsmythen werden geteilt. So glauben 4 Prozent „Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss“, weitere 11 Prozent stimmen dieser Aussage immerhin teils-teils zu (addiert sind dies im Osten 13%, im Westen 15%). Und etwas mehr Personen im Osten als im Westen halten das Corona-Virus für einen „Vorwand zur Unterdrückung der Menschen“ (Roose 2020). Verschwörungsmythen sind untereinander deutlich korreliert, das heißt wer an einen Verschwörungsmythos glaubt, glaubt auch an andere, einschließlich antisemitisch konnotierte.
2.4. Zustimmung zu Facetten rechtsextremer Ideologie
Eine rechtsextreme Ideologie wurde in der Tradition der „Mitte-Studie“ ebenfalls in zwei Facetten mit je drei Subdimensionen erhoben: Zum einen als rechtsextreme Politikvorstellung, die sich in der Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur, der Verharmlosung des Nationalsozialismus und einem starken Nationalchauvinismus zeigt, zum anderen als auf soziale Gruppen bezogene, menschenfeindliche und völkische Weltsicht, wie sie sich in Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und einem sozialdarwinistischen Denken manifestiert. Eine rechtsextreme Orientierung ist insgesamt im Osten weiter verbreitet als im Westen, und während sie in den letzten Jahren im Osten tendenziell (wieder) zugenommen hat, ist sie im Westen kontinuierlich gesunken wie die jüngste Leipziger Autoritarismusstudie von Mai/Juni 2020 zeigt (Decker/Brähler 2020). Offen im Telefoninterview abgefragt ist dieser Trend in unserer Studie nicht so deutlich (Zick/Küpper/Berghan 2019). Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen tritt vor allem in der Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur hervor, die von signifikant mehr Bürger*innen im Osten befürwortet wird (FES-Mitte-Studie 2018/19 Ost 7%, West 2%).
Befragte in Ostdeutschland sind auch häufiger offen fremdenfeindlich eingestellt als jene in Westdeutschland, wie oben bereits berichtet (Ost 13%, West 8%). In 2020 vertreten Ostdeutsche darüber hinaus auch signifikant häufiger einen nationalen Chauvinismus, zudem verharmlosen sie etwas häufiger als Westdeutsche den Nationalsozialismus und tendieren etwas eher zu Antisemitismus und Sozialdarwinismus, wie die Leipziger Studie zeigt (Decker/Brähler 2020). Bemerkenswert ist außerdem: Ostdeutsche wählen bei vielen rechtsextremen Aussagen häufiger als Westdeutsche die „teils-teils“ Antwortkategorie, drücken also eine zumindest teilweise Zustimmung oder Ambivalenz in ihrer Haltung aus. So meinen nur 4 Prozent der Befragten der FES-Mitte-Studie 2018/19 explizit: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umstanden eine Diktatur die bessere Staatsform“, doch weitere 10 Prozent antworten mit teils-teils (Ost 5% klare Zustimmung + 14% teils/teils, West 4% + 9%). Ein gutes Fünftel der Befragten meint: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (21% + 13%; Ost 29% + 14%, West 20% + 13%). 11% der Befragten plus weiteren 6%, die mit teils teils antworten, fordern: „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ (Ost 14% + 8%, West 11% + 5%).
2.5 Politische Selbstverortung
Die oben skizzierten Einstellungen gehen nur bedingt mit der politischen Selbstverortung einher. Unter den potentiellen Wähler*innen der AfD (erhoben über die Sonntagsfrage) sind rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen auffallend verbreitet (unter anderem auch Vehrkamp/Merkel 2020), doch auch Wähler*innen anderer Parteien sind davor nicht gefeit. Die meisten Befragten sehen sich dabei ungeachtet ihrer Parteipräferenz „genau in der Mitte“ (Ost 59%, West 62%), rund ein Drittel verortet die eigenen politischen Ansichten links der Mitte (Ost 35%, West 28%), weniger platzieren sich selbst rechts der Mitte (Ost 6,5%, West 10%). Ein erheblicher Anteil derjenigen, die sich selbst „genau in der Mitte“ sehen, vertritt allerdings zugleich rechtspopulistische Einstellungen (Ost 40%, West 20%), bisweilen sogar eindeutig rechtsextreme Ideologiefacetten wie etwa einen nationalen Chauvinismus, der von 14 Prozent derer, die sich selbst „genau in der Mitte“ positionieren, geteilt wird.
Während sich Befragte mit rechtsextremen Einstellungen im Westen auch selbst eher rechts der Mitte verorten, halten sich jene im Osten dennoch selbst politisch für „genau in der Mitte“. Offen bleibt, ob sie dies so sehen, weil es ihren Erfahrungen entspricht – in ihrem sozialen Kontext im Osten teilt man auch in der Mitte rechtspopulistische Einstellungen. Vielleicht scheuen Befragte im Osten auch die Antwort „eher rechts“ aufgrund der öffentlichen Debatten oder aus der DDR-Tradition heraus, während dies im Westen primär mit konservativ übersetzt wird. Einige mögen sich auch ungeachtet ihrer Ansichten demonstrativ als „Mitte“ bezeichnen, um diese zu besetzen und politisch neu zu bestimmen. In jedem Fall dürften sich viele Befragte insbesondere im Osten nicht adressiert fühlen, wenn von rechtspopulistischen und antidemokratischen Einstellungen die Rede ist.
2.6 Ambivalenzen und Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen
Insgesamt befürwortet die große Mehrheit der Befragten eine liberale Demokratie, wünscht sich eine offene und vielfältige Gesellschaft und eine enge Bindung an Europa. Zugleich aber ist ein nicht unerheblicher Teil der Befragten misstrauisch gegenüber der repräsentativen Demokratie und lehnt und wertet Gruppen ab, die als „fremd“ wahrgenommen werden. Ambivalenzen und Dissonanzen prägen die politischen Überzeugungen einiger Befragter, andere wiederum äußern demokratieverachtende Überzeugungen kohärent, direkt und klar in Opposition zu den etablierten Institutionen und in Ablehnung gegenüber Menschen, die ihrer Ideologie zufolge nicht zum „Volk“ gehören.
Ost- und Westdeutsche sind sich in ihren politischen Einstellungen im Großen und Ganzen recht ähnlich. Der Blick auf Details deutet jedoch darauf hin, dass das Modell einer liberalen und pluralistischen Demokratie im Osten etwas geringere Unterstützung findet. Zugleich sind die Vorstellungen von einem „homogenen Volk“ dort verbreiteter als im Westen. Auch das Verständnis von Demokratie ist im Osten ambivalenter. So betonen zwar noch mehr Befragte im Osten als im Westen die Menschenwürde, sprechen sich jedoch zugleich häufiger gegen Minderheitenrechte aus. Während viele einerseits die Demokratie für gefährdet halten, meinen sie andererseits, die Politik solle „mehr auf den Volkswillen“ hören. Das distanzierende Misstrauen in das „System Demokratie“ ist im Osten etwas ausgeprägter als im Westen und mehr Ostdeutsche als Westdeutsche befürworten rechtsgerichtete Diktatur und zeigen bei eindeutig rechtsextremen Aussagen keine klar ablehnende, sondern eher eine ambivalente Haltung. Auffällig ist zudem das im Osten deutlich weiter verbreitete Gefühl der politischen Machtlosigkeit und Entfremdung. Insgesamt sind offen rechtsextreme Einstellungen im Osten nicht weiterverbreitet als im Westen, Facetten davon und mindestens rechtspopulistische aber durchaus, vermutlich ohne dass dies den meisten Befragten – das gilt mehr noch für den Osten – selbst bewusst sein dürfte.
3. Ursachen für Differenzen in den Einstellungen zur Demokratie
Zur Erklärung antidemokratischer Tendenzen werden diverse, auch phänomen-überlappende Erklärungen vorgeschlagen (zur Übersicht unter anderem Jörke/Selk 2017). Wir schlagen vor, sie weniger in Konkurrenz zueinander, als vielmehr in ihrem Zusammenwirken zu betrachten. Entlang der im Folgenden angesprochenen Faktoren lässt sich ein „modernisierungsskeptisches Milieu“ identifizieren, welches „sich sozial, ökonomisch und kulturell als Verlierer gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse“ fühlt und sich durch die etablierte Politik nicht mehr vertreten sieht (Vehrkamp 2019). Die Konfliktlinie verläuft damit weniger zwischen Ost und West, als zwischen Modernisierungsbefürworter*innen und -skeptiker*innen (ebenda). Der Weg in die Modernisierung ist in Ostdeutschland allerdings deutlich schneller und für viele Menschen auch begleitet von gravierenden positiven wie negativen Transformationserfahrungen verlaufen.
Zu den zentralen Erklärungsansätzen des gesamten Phänomenbereichs (Wahlerfolg von Rechtsaußen-Parteien, antidemokratische Einstellungen und so weiter) gehört der Verweis auf schlechte ökonomische Bedingungen beziehungsweise soziale Ungleichheit; wobei bisweilen schlechte und schlechtere Bedingungen vermischt werden. Empirisch bestätigt sich der Einfluss ökonomischer Bedingungen auf die Neigung zu antidemokratischen Orientierungen nur bedingt. Zusammengefasst scheinen es also weniger die tatsächlichen ökonomischen Bedingungen zu sein, als vielmehr ihre Verarbeitungen (auch in Relation zu anderem, dem, was war, man erwartet, man meint, was einem zusteht) auf der individuellen wie kollektiven Ebene, die antidemokratische Tendenzen wahrscheinlicher machen.
So wählen zwar überdurchschnittlich viele der einkommensschwächeren und arbeitslosen Wähler*innen die AfD, deren Anteil ist aber in der Gesamtwählerschaft und auch der der AfD vergleichsweise gering, der Großteil lässt sich der (unteren) Mittelschicht zurechnen (Lengfeld/Dilger 2018, Bestätigung auch in den Daten der FES-Mitte-Studie). Menschen mit individuell niedrigem Einkommen neigen tendenziell häufiger zu rechtspopulistischen Einstellungen. Allerdings geht dieser Einfluss oft mit Gefühlen kollektiver Relativer Deprivation (Benachteiligung) und Bedrohung einher, welche wesentlich erklärungskräftiger sind: „Wir“ werden im Vergleich zu „denen“ („Ausländer“, ,‚der Westen“) benachteiligt, „die nehmen uns etwas weg“ (Wohlstand, Frauen, Wertedominanz und so weiter). Neben weiteren Faktoren sind diese Gefühle – unabhängig von der Faktenlage – dann auch für das höhere Ausmaß rechtspopulistischer Einstellungen im Osten verantwortlich (Küpper/Schröter/Zick 2019).
Im Osten findet sich nach wie vor ein verbreitetes Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, ungerecht behandelt worden zu sein und immer noch benachteiligt zu werden (zuletzt Foroutan et al. 2020). De facto haben sich die Lebenslagen in Ost und West in den vergangenen Jahren weitgehend angeglichen beziehungsweise werden von regionalen Differenzen zwischen ländlichen und städtischen Regionen überlagert, die Lebenszufriedenheit ist in Ost und West gleichermaßen recht hoch (u.a. Krause 2019, Oberst/Voigtländer 2020). Die Nachwendegeneration der unter 30-Jährigen unterscheidet sich in Ost und West überhaupt nicht in ihrer insgesamt positiven Bewertung hinsichtlich der Veränderungen für ihre Eltern sowie ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage und Karriereaussichten. Die meisten leben gern dort, wo sie leben. Jedoch scheint rund ein Viertel bei den negativen Nachwende-Erzählungen „am Küchentisch der Eltern“ sitzen geblieben zu sein. Dieses Viertel vertritt dann auffallend häufig auch rechtspopulistische Ansichten (Faus/Storks 2018). Auch auf der Makro-Ebene erklärt weniger die aktuelle sozioökonomische Lage (gemessen zum Besispiel am Wohlstand in einer Region) den Wahlerfolg der AfD, als vielmehr die Begleiterscheinungen der ökonomischen Transformationen in der Vergangenheit. Dazu gehören neben regionalen sozio-strukturellen und -ökonomischen Veränderungen auch der erlebte individuelle Abstieg oder die Furcht davor (Manow 2018). Politischer Protest entstand auch in anderen Kontexten in der Vergangenheit weniger während akuter ökonomischer Krisen, sondern eher danach, wenn Ressourcen und Machtpositionen neu verteilt wurden (Chandra/Foster 2005).
Hier kommt ein zweiter Erklärungsansatz ins Spiel. Aus der Konfliktforschung ist bekannt, dass die Abwertung von Outgroups insbesondere dann virulent wird, wenn eine Gruppe ihre Identität als bedroht beurteilt (Zick 2005). In dem im Osten weit verbreiteten Gefühl Bürger zweiter Klasse zu sein, vermischen sich der Eindruck der sozio-ökonomischen Benachteiligung mit dem Gefühl der Herabsetzung, was zusammengenommen eine positive eigene soziale Identität erschwert. Die Abwertung der „Anderen“, in diesem Fall derjenigen, die als „fremd“ markiert werden, verbunden mit der Bestärkung der nationalen Identität bis hin zu nationalem Chauvinismus gegenüber anderen Nationen, ist dann ein einfaches Mittel, die eigene Deklassierung zu überwinden. Der Fingerzeig auf den kolonialisierenden Westen hilft aber zugleich vielleicht auch, Konfliktlinien innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung zu verwischen, etwa Konflikte zwischen den vormals in der DDR Etablierten und Verfolgten, den Angepassten und den Aufmüpfigen, denen, die nach der Wende offen „rechts“ waren und sind, und jenen, die bedroht und zusammengeschlagen wurden und werden. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, erwies sich in einer Studie 20 Jahre nach der deutschen Einheit empirisch als besonders erklärungskräftig für die im Osten höhere Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen (Klein/Küpper/Zick 2009).
Folglich wird ein dritter Erklärungsansatz relevant wird. Differente politische Sozialisationen erzeugen kulturell differente Identitäten und Orientierungen. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben. Dazu gehören auch „Gefühlserbschaften“ (Moré 2013), wie jene aus dem Nationalsozialismus. Der Westen stellte sich seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nur zögerlich, widerwillig und unter dem Druck der amerikanischen Besatzung, pflegte aber früh den Mythos der Aufarbeitung. Der Osten schob sein faschistisches Erbe kurzerhand dem kapitalistischen Westen zu, neben sozialistischer Bruderschaft wurde einem neuen, alten Nationalismus das Wort geredet. Nicht umsonst setzt die AfD propagandistisch auf die Meinung, der Osten sei das eigentliche Deutschland, was nicht nur an den überkommenen Nationalismus anknüpft, sondern auch an das Gefühl, zweitklassig zu sein. Regional verankerte Traditionslinien sind für die Analyse politischer Orientierungen bedeutsam. Hafeneger und Becker (2008) zeichnen beispielsweise für hessische Regionen nach, dass in ehemaligen Hochburgen der NSDAP auch heute noch eine rege rechtsextreme Szene besteht. Und in deutschen Regionen, in denen früher die NSDAP besonders erfolgreich bei Wahlen war, ist es heute die AfD (Cantoni/Hagemeister/Westcott 2019). Dies gilt insbesondere für Gemeinden, in denen es eine ausgeprägte Kontinuität der Bewohnerschaft gibt und wenig neue Menschen zugezogen sind, was generell eher für ländliche Regionen gilt als für städtische, in denen viel mehr auch aus anderen Regionen und Ländern eingewanderte Personen leben. In Regionen, in denen die AfD erfolgreich ist, werden darüber hinaus auch besonders viele Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verübt (Rees et al. 2019).
Ein vierter Erklärungsansatz legt den Fokus auf die Bedeutung gesellschaftlicher Vielfalt und interkultureller Kontakte. Ein fehlender Kontakt hat sich in vielen Untersuchungen als wesentlicher Faktor für das Vorhandensein von Vorurteilen erwiesen, also der Zuschreibungen (negativer) Eigenschaften an ganze soziale Gruppen basierend oft auf überkommenen Stereotypen und Erzählungen (Pettigrew/Tropp 2006). Hier hatte der Osten schlicht zu wenig Zeit Erfahrungen zu machen, die im Einzelfall mal so, mal so verlaufen können, aber insgesamt helfen, überkommene Vorurteile abzubauen. Der Zuspruch zur AfD ist gerade in den Regionen besonders stark, in denen der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung besonders gering und die Arbeitslosigkeit, die dann zum Thema von Verteilungskämpfen gemacht wird, nach wie vor vergleichsweise hoch ist (Rees et al. 2019). Doch wo sich, egal ob im Osten oder Westen, Menschen beispielsweise in der Flüchtlingshilfe engagieren, werden die Einstellungen ausgewogener (vgl. Ahrends 2016).
Ein fünfter Erklärungsansatz nimmt den Zustand der Demokratie selbst in den Blick. Starre und demokratiefreie Räume, Verkrustungen und Intransparenz des demokratischen Systems und mangelnde Partizipationsmöglichkeit verstärkten Populismus unterschiedlicher Couleur und machten es ihm leicht, Menschen anzusprechen, so die Annahme. Der Populismus kann sich in diesen Räumen mühelos als Erneuerungsprotest inszenieren.
Inwieweit eine größere Offenheit des demokratischen Systems, mehr Transparenz von Entscheidungsprozessen und mehr Partizipation zu weniger (in diesem Fall Rechts-)Populismus führt, und inwieweit Bürger*innen die komplexen Prozesse der Konfliktaushandlung in einer Demokratie klar sind, ist unseres Erachtens empirisch nicht hinreichend geprüft. Die Befunde sprechen dafür, dass weniger fehlende Partizipation oder Verkrustungen als vielmehr populistische Versprechen einfacher Lösungen und Wege antidemokratische Orientierungen bestärken. Wenngleich, wie berichtet, das Funktionieren der Demokratie im Großen und Ganzen positiv beurteilt wird, ist zugleich das pauschale Misstrauen bis hin zur Verachtung gegenüber der Demokratie hoch, im Osten mehr noch als im Westen. Demokratie wird selbst dann als elitär kritisiert, wenn sie vor Ort lebendig ist, zum Mitmachen einlädt und auch sozial ausgegrenzte Gruppen wie etwa migrantische Communities einbindet. Während offen-liberal-pluralistische zivilgesellschaftliche Gruppen als Extremisten wahrgenommen werden, gelten Initiativen von demokratiefeindlichen Gruppen wie etwa Pegida als Ausdruck von Demokratie (Vorländer/Herold/Schäller 2015). Mittlerweile gelingt es mancherorts alten und neuen Rechtsextremisten gar – das Grundgesetz gegen einen vermeintlich von links betriebenen Faschismus hochreckend – sich zu Verteidigern der Demokratie zu stilisieren.
Das Demokratiemisstrauen wird von der Suggestion beflügelt, keine Kontrolle zu haben, ein autoritäres Staatsverständnis lässt die repräsentative Demokratie als „System“ erscheinen. Dabei spielen die Beziehungen zwischen staatlicher und privater Ebene eine wichtige Rolle. Der DDR-Staat, der auch das Private regulierte, produzierte andere Orientierungen als ein individualistisch-marktwirtschaftlich orientiertes Staatssystem, welches Sicherheitsversprechen macht, aber private Lebenswelten separat betrachtet. Der reflexartige Vorwurf, das „Merkel-System“ sei an „allem, was schlecht ist“ schuld und der zugleich erhobene Anspruch, der Staat solle regulieren, verstärkt zum einen das Gefühl von Machtlosigkeit und entlastet im selben Moment von Eigenverantwortung. Rehberg (2016) konstatiert eine schon in der DDR vorherrschende „Halbdistanz“ zwischen Bürger*innen zu Eliten und Politik, und Demuth (2017) erkennt ein verbreitetes Missverständnis im Osten, welches „die pluralistische Demokratie mit einem DDR-Eingabewesen verwechselt“. Auch heute noch würden wie zu alten DDR-Zeiten „der Staat“ und seine Behörden für diverse Bereiche des Alltags haftbar gemacht, die sie heute aber gar nicht mehr kontrollieren und verantworten. Hier zeichnet sich ab, dass es doch Unterschiede im Verständnis von Demokratie zwischen Ost- und Westdeutschen gibt, die sich durch ihre unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen erklären lassen.
Manchmal scheint vergessen zu werden, wie jung die Demokratie in Deutschland ist und aus welchen Trümmern sie entstanden ist, die eben nicht so einfach weggeräumt werden können. Beide deutsche Teile mussten Demokratie erst lernen, üben und erfahren, der Osten hatte noch weniger Zeit dafür als der Westen, und dieses Lernen ist ein fortwährender Prozess.
4. Die Zukunft demokratiefest machen
Zukunft gestaltet sich aus Lernprozessen, die es ermöglichen, Chancen wahrzunehmen. Die Frage, ob die Demokratie eine Zukunft hat und heute so gestärkt werden kann, dass sie die berichteten antidemokratischen Orientierungen eingrenzt, reduziert, oder sogar abbauen kann, hängt davon ab, ob eine Gesellschaft Möglichkeiten dazu ausbaut.
Nach Einschätzung von 63 Prozent der Befragten der jüngsten MEMO-Studie nehmen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder anderer Gruppenzugehörigkeit in Deutschland wieder zu (Zick et al. 2020), 59 Prozent finden dies besorgniserregend. 77 Prozent der Befragten der "Mitte-Studie" 2018/2019 forderten ein stärkeres Engagement für eine vielfältige und offene Gesellschaft, ohne Ost-West-Unterschiede. Hieraus könnte sich die Motivation ableiten, für eine bessere Zukunft zu streiten. Doch was wären günstige Bedingungen, um die oben genannten Gefährdungen zu reduzieren?
Erstens muss der Zusammenhang von aggressiven und teilweise gewaltorientierten Angriffen auf Gruppen und den antidemokratischen Orientierungen in der Bevölkerung genauer, komplexer und auch ernsthafter betrachtet werden. Von Extremist*innen erwartet die Gesellschaft Gewalt, aber dass auch in der Mitte antidemokratische Orientierungen mit Diskriminierungsabsichten bis hin zur Befürwortung von Gewalt einhergehen, und sei es nur in Form passiver Duldung, wird gern übersehen. Immer wieder werden Hasstaten geradezu überrascht zur Kenntnis genommen, um sie dann rasch als die verrückte Tat von Einzeltätern auszusondern, sodass sich die kritischen Fragen nach der Verwobenheit in die Meinungslagen der Bevölkerung gar nicht erst stellen.
Aktuell ist dies an der Überraschung über die bisweilen aggressiv aufgeladenen Querfronten in Zeiten der Corona-Pandemie ablesbar. Zuvor gab es Erstaunen darüber, wie groß rechtsextreme Milieus sind, wie sich mitten in der Nachbarschaft Terrorzellen bilden konnten, wie aggressiv die Propaganda von nationalistisch orientierten Rechtspopulist*innen ist, wie groß ihr Auditorium auf Marktplätzen, und dass offenkundig normale Bürger*innen Hand in Hand mit erkennbaren Rechtsextremen demonstrieren. Mit Hass, der Gewalt des Vorurteils und der „Banalität des Bösen“ rechnet die Mehrheitsgesellschaft kaum und lässt Lehren aus der Vergangenheit vermissen. Wie sehr Alltagsrassismus Menschen bedroht und wie wichtig Gewaltprävention ist, wird bei allen Appellen an die Menschenwürde gern übersehen. Wir plädieren dafür eine Zukunftsfrage ernst zu nehmen: Wie kann es im Interesse des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einer vielfältigen Gesellschaft attraktiver werden, nicht menschenfeindlich gegen „die Anderen“ zu sein, die vermeintlich die Mythen von Einheit und Zusammenhalt stören? Dazu gehört auch, eine Ausgrenzungsrede zu entlarven, die sich gegen „Fremde“ richtet, um damit kurzfristig und kurzsichtig den Zusammenhalt eines homogen definierten „Wirs“ zu befördern.
Zweitens sind antidemokratische Orientierungen Folge wie Ausdruck von Demokratiedefiziten, die auch in mangelnder demokratischer Bildung begründet sind. Von Demokratiedefiziten und Bildungsversagen ist oft die Rede, als wenn eine Belehrung Demokratie fördert und es nur daran läge, dass Individuen Defizite hätten. Das blendet aus, wie sehr Demokratie Raum und Zeit braucht, um Bildung zu ermöglichen. Beschämend und zugleich erklärend ist, wie gering der Stellenwert politischer Bildung im Regelunterricht ist (Gökbudak/Hedtke 2019). Demokratisch werden Menschen, wenn sie in demokratischen Räumen von lauter Demokrat*innen umgeben sind. Wo an Raum und Zeit gespart wird, bildet sich weniger oder nichts, im schlimmsten Fall auch aus lauter Unkenntnis und Unerfahrenheit heraus, Antidemokratisches.
Drittens gehören dazu auch Möglichkeiten von Konfliktmanagement. In den oben genannten Konflikträumen in Ost wie West sollte all das gestärkt werden, was sich antidemokratischen Spaltungsversuchen widersetzt. Zusammenhalt ist eine zentrifugale Kraft in einer demokratischen Gesellschaft, antidemokratische Orientierungen sind eine zentripetale Kraft, die Gesellschaftsmitglieder nicht nur in Opposition bringt, sondern auch ihres Zusammenhalts beraubt. Die kollektiven Gefühle der Zweitklassigkeit im Osten sind eine Herausforderung. Sie machen anfällig für antidemokratische Orientierungen, wenn die Orientierungen als Identitätsmerkmale angesprochen werden können. Daher ist zu fragen, wie Stereotype von Ostdeutschen besser bearbeitet werden können, und Zugehörigkeiten jenseits der Wahrnehmungen von Höher- oder Minderwertigkeit gefunden werden können.
Viertens sollten Politik und Behörden nach Hasstaten und propagandistischen Bedrohungsszenarien mit Sicherheitsversprechen sorgsamer umgehen. Sicherheitsversprechen sind verlockend, aber nicht hinreichend und bisweilen fatal. Je stärker in manchen Wahlkämpfen demokratische Parteien den menschenfeindlichen Bildern von vermeintlich kriminellen Gruppen Sicherheitsversprechen entgegensetzt haben, desto virulenter wurde das Thema Sicherheit, und umso bedrohter schien sie in einem de facto so sicheren Land und desto leichter fiel es anderen, die maximale Sicherheit durch eine Reduktion der Nation auf die „Urdeutschen“ zu versprechen. Stattdessen wird immer klarer und sichtbarer, dass es dort weniger antidemokratische Milieus gibt, wo die Zivilgesellschaft und der Gewaltschutz stark sind. Die zivilgesellschaftlichen Selbstregulationskräfte und das Präventionswissen sind eine wesentliche Kraft, die es zu Stärken gilt, um die Zukunft der Demokratie zu stärken.
Klar ist: Demokratie ist nicht einfach da, sondern will immer wieder errungen, gelernt und ausgehandelt werden. Das Erschrecken über antidemokratische Entwicklungen bietet auch eine Chance. Die überwältigende Mehrheit, ob in Ost, West, Nord oder Süd ist von der demokratischen Idee überzeugt, aber vielen Menschen wird derzeit erstmals überhaupt bewusst, wie wertvoll und zerbrechlich sie ist. Das Engagement für die ins Land gekommenen Geflüchteten war groß, die Solidarität in der frühen Phase der Corona-Pandemie war es auch. Hieran lässt sich anknüpfen.
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Zitierweise: Andreas Zick und Beate Küpper, „Zusammenwachsen in Feindseligkeit?", in: Deutschland Archiv, 17.09.2021, Link: www.bpb.de/340317. Der Text ist dem Doppelband entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes I+II", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert vom Deutschland Archiv der bpb.
Prof. Dr. Andreas Zick lehrt als Sozialspsychologe an der Universität Bielefeld. Er leitet das dortige Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.
Prof. Dr. Beate Küpper ist Psychologin an der Hochschule Niederrhein Mönchengladbach, ihr Arbeits-Schwerpunkt ist soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen.
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