Zwischen Entwertungsgefühlen und Ohnmachtserfahrungen - welche Wege führen heraus? Eine Analyse des Berliner Soziologen Steffen Mau, 31 Jahre nach der Wiedervereinigung. Der Beitrag ist dem neuen Doppelband aus der bpb-Schriftenreihe entnommen "(Ost)Deutschlands Weg" von 1989 bis heute - 80 Studien und Essays zur Lage des Landes.
Am Anfang stand das Wunder des Herbstes 1989, in dem sich mutige Menschen gegen die Zumutungen des vormundschaftlichen Staatssozialismus auflehnten. Nicht wissend, ob die DDR-Führung oder Moskau zur chinesischen Lösung greifen würden, machten sie sich daran, auf den Straßen Leipzigs und andernorts Forderungen nach Meinungsfreiheit und Reformen zu erheben. Unglaublich, wie schnell sich ein System, das jahrzehntelang die Selbstverteidigung gegen den "imperialistischen Feind" von außen und die Abweichung im Inneren probte, so sang- und klanglos zu Fall bringen ließ. In Ostdeutschland ist auf diese Weise ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse entstanden, wie versteinert und unverrückbar sie auch erscheinen mögen. Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 besiegelte das Schicksal des Staates DDR. „Die Mauer ist auf, das ist das Ende der DDR“ prophezeite ein hellsichtiger Kommentator schon in dieser Nacht. Recht behielt er.
1. Ausgangslage
Mit dem Zusammenbruch des politischen Systems und der Öffnung der Grenze kollabierte die DDR-Gesellschaft in den Schoß der Bundesrepublik hinein. Anders als viele osteuropäische Länder, die aus dem sowjetischen Imperium entlassen wurden, stand man von Anfang an nicht allein. Es war der ersehnte und potente Westen, der sich als Helfer in der Not anbot. Die Vereinigung dessen, was 40 Jahre getrennt war, erschien geradezu als organische Verbindung des zuvor künstlich Getrennten. Wie neidisch schaute man aus Prag, Warschau und Sofia auf das Privileg der Ostdeutschen, durch einen Staatsvertrag über Nacht im Westen anzukommen. Das Schneckenhaus der DDR wurde abgestreift, euphorisch zog man in die Villa Bundesrepublik ein, in der alles schon vorhanden war.
Wer heute das Erreichte bilanziert, sieht in der Tat grundlegende Veränderungen und viele Verbesserungen: Die Spuren der Deutschen Demokratischen Republik sind fast flächendeckend getilgt, neue soziale Arrangements haben Fuß gefasst, die Menschen haben sich eingelebt. Die Freiheitsgewinne – ob beim Reisen oder beim Recht, seine Meinung frei und ungehindert zu äußern – sind enorm. Den Menschen im Osten Deutschlands geht es materiell besser als sie zu DDR-Zeiten jemals zu hoffen gewagt hätten. Die Arbeitslosigkeit war Anfang 2020, vor der Coronakrise, auf dem tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung, die Löhne wachsen, das reale Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem und Erwerbstätiger hat sich seit 1991 mehr als verdoppelt, Boomregionen wie Leipzig und Dresden haben sich zu Magneten einer neuen West-Ost-Wanderung entwickelt. Im Gleichschritt mit der ökonomischen Entwicklung ist auch das subjektive Wohlbefinden im Aufwind – der Glücksabstand zwischen Ost und West schmilzt, weil die Ostdeutschen immer zufriedener werden.
Wie aus einer anderen Welt klingen da Berichte über die Problemzone Ostdeutschland. Diese verweisen auf die anhaltend hohen Produktivitätsrückstände, die fortbestehende Ost-West-Kluft bei den politischen Einstellungen, den lautstarken Widerstand gegen Geflüchtete und „die da oben“ sowie auf abgehängte Sozialräume. Die Fieberkurve des ostdeutschen Demokratiebewusstseins erscheint als kritisch, die Wahlergebnisse sowieso. Gravierende Ost-West-Unterschiede gibt es beim Vertrauen in die politischen Institutionen und der Unterstützung für Marktwirtschaft und Demokratie. Laut einer Allensbach-Umfrage sehen nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie als die beste Staatsform an; im Westen sind es 77 Prozent. Nur knapp über ein Viertel der West-, aber über die Hälfte der Ostdeutschen hält den Umstand, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt, für eine der wichtigsten Trennlinien in der Gesellschaft.
Dieses Doppelbild der Entwicklung verweist auf das Nebeneinander von Einheitserfolgen und Scheitern, von Gewinnen und Verlusten, von Hoffnung und Enttäuschung, von Eingewöhnung und Entfremdung. Die Bilanz der Einheit ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch durch und durch widersprüchlich. Um diese Diskrepanz zu entschlüsseln, ist der Begriff der gesellschaftlichen Fraktur hilfreich. Unter einer Fraktur versteht man in der Medizin den Bruch eines Knochens. Viele Frakturen sind unter der Haut verborgen und äußerlich nicht erkennbar, manche aber liegen offen. Oft verheilen sie; wenn es jedoch zu Verschiebungen kommt, muss man ein Leben lang mit Funktionseinschränkungen leben. Gesellschaftliche Frakturen lassen sich in diesem Sinne als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen, die zu Fehlstellungen führen können. Anders als bei Knochen ist die Wahrscheinlichkeit für eine vollständige „Reposition“ oder Ausheilung gesellschaftlicher Brüche sogar unwahrscheinlich. Ich betrachte Ostdeutschland als eine Gesellschaft mit zahlreichen Frakturen, die sich aus den Besonderheiten von Sozialstruktur und mentaler Lagerung ergeben. Diese sind weder allein der untergegangenen DDR noch den Tücken des Einigungsprozesses zuzuschreiben, sondern ergeben sich aus beidem gemeinsam. Eine frakturierte Gesellschaft, so meine ich, verliert an Robustheit und Flexibilität, auch wenn oberflächlich alles in Ordnung scheint.
Ich kann an dieser Stelle die ostdeutsche Gesellschaft nicht vollumfänglich analysieren oder auf die Couch legen – wer könnte das schon – aber ich möchte vier ineinandergreifende Aspekte hervorheben, die mir zur Erklärung der mentalen Lage hilfreich scheinen. Diese sind sozialstrukturelle Petrifikation, politische Duldungsstarre, soziokulturelle Entwertung und die veränderungserschöpfte Gesellschaft.
Die späte DDR war eine mobilitätsblockierte Gesellschaft. Studien haben gezeigt, dass die Sozialstruktur der DDR nach der Aufbau- und Konsolidierungsphase wieder aushärtete und sich die Übergangsraten zwischen den Berufsklassen sukzessive verringerten. Die sozialistische Dienstklasse, also jene Gruppe mit administrativen Funktionen, delegierter Autorität und spezialisiertem Wissen, die oberhalb der Arbeiterklasse stand, konnte über die Zeit ihre Chancen zur Vererbung der eigenen Position verbessern. Noch unter Walter Ulbricht verlief die Entwicklung der Studierendenzahlen in der DDR ähnlich wie in der Bundesrepublik, danach ging sie deutlich zurück. Man setzte nicht auf Bildungsexpansion und einen Ausbau des Hochschulsystems, sondern beschränkte den Zugang zu hochschulischer Bildung. Die Studierendenquote der DDR war deshalb zum Zeitpunkt des Mauerfalls gerade einmal halb so hoch wie im Westen.
Vermutlich war die DDR in dieser historischen Phase das einzige entwickelte Land, das über die Zeit seinen Studierendenanteil verringerte. Ende der 1980er Jahre mussten nicht nur viele Arbeiterkinder erfahren, dass das Aufstiegsversprechen des Arbeiter- und Bauernstaates uneingelöst blieb; auch viele Sprösslinge aus Akademikerhaushalten erkannten, dass sie im Flaschenhals zum Hochschulzugang stecken blieben. Durch diese Verstopfung der Mobilitätskanäle hat sich das Regime die Möglichkeit genommen, die Menschen durch Aufstiegshoffnungen an sich zu binden. Zum Ende hin war die DDR sozialstrukturell betrachtet eine sklerotische Gesellschaft: überaltertes Führungspersonal, politisch motivierte Rekrutierungs- und Beförderungspraktiken, ein dicht gedrängter Wartestand der nachwachsenden Generationen und ein demotivierendes Belohnungssystem. Viele hofften, dass sich dies mit der Einheit verbessern würde, verpasste Lebenschancen nachgeholt werden könnten.
Der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik stellte insgesamt ein recht komplexes Statusgeschehen dar. Zunächst einmal gab es in der ehemaligen DDR eine Wohlstands- und Konsumexplosion. Diese Zuwächse waren aber im Wesentlichen transferfinanziert und basierten nicht auf eigener wirtschaftlicher Leistungskraft. Konterkariert wurde dieser Trend durch die relative soziale Deklassierung, wanderten die Ostdeutschen doch kollektiv in eine wohlhabendere und statusmäßig höher gestellte Gesellschaft ein. Immerhin 27 Prozent der ostdeutschen – aber nur 5 Prozent der westdeutschen – Bevölkerung wurden 1991 dem auf Bescheidenheitsnormen verpflichteten „traditionsverwurzelten Arbeiter- und Bauernmilieu“ zugeordnet; die „Gruppe mit Arbeiterhabitus“, wozu auch das „traditionslose“ und das „hedonistische Arbeitermilieu“ gehören, wurde insgesamt auf 40 Prozent geschätzt (im Westen auf 22 Prozent).
Im Zuge der Wende wurde nun keine Aufstiegsmobilität ausgelöst. Auch bei denjenigen, die mit dem Umbruch erst ins Berufsleben eintraten, zeigen sich deutliche Risse in der Berufsbiografie und eine – im Vergleich zu den gleichaltrigen Westdeutschen – massive Schlechterstellung. Zwar öffneten die weiterführenden Bildungsinstitutionen ihre Pforten, wurde das Recht auf freie Berufs- und Bildungswahl durchgesetzt und stieg die Studierendenquote auf Westniveau an, ein nach oben gerichteter Mobilitätsschub entstand aber nicht. Die Bleiplatte, die auf der Sozialstruktur der späten DDR gelastet hatte, wurde ein wenig angehoben, doch dann trafen die Ostdeutschen auf zusammenbrechende Märkte, soziale Schließungen und durch die Transfereliten aus dem Westen besetzte Positionen.
Analysen zeigen, dass die Wiedervereinigung – wider Erwarten – nicht mehr, sondern weniger Aufstiegschancen für die mittlere und jüngere Generation brachte: Betrachtet man die Wahrscheinlichkeiten für intergenerationale Auf- und Abstiege im Klassengefüge, so schneiden vor allem ostdeutsche Männer schlecht ab. Während in den 1990er Jahren etwas weniger als jeder dritte Sohn eine bessere Klassenposition erreichte als sein Vater, gelingt dies heute nur noch einem Viertel. Von den westdeutschen Männern steigen mehr als doppelt so viele auf wie ab; in Ostdeutschland halten sich Auf- und Abstiege in etwa die Waage. Man kann diese Entwicklung aber auch anhand des Spiels „Reise nach Jerusalem“ veranschaulichen: Nachdem es jahrzehntelang kaum Bewegung gegeben hatte und alle an ihren Stühlen klebten, spielte plötzlich die Musik. Manche sprangen beherzt auf, viele wurden, ob sie wollten oder nicht, hochgerissen. Doch bevor es so richtig losging, verstummte die Musik wieder. Nun fehlte allerdings nicht nur ein Stuhl, sondern gleich mehrere, sodass für viele kein Platz mehr war. Und diejenigen, die einen ergattert hatten, hielten sich mit aller Kraft daran fest. An Bewegung war nicht mehr zu denken. So stellte sich nicht nur der Weg der wirtschaftlichen Erholung und des Aufschließens als weit steiniger heraus als erwartet, es kam auch zu erheblichen Mobilitätsblockaden, welche die ostdeutsche Teilgesellschaft auf Dauer klein halten sollten. Der Deckel auf der nach unten zusammengedrückten Sozialstruktur wurde somit nicht gelöst, sondern in mancher Hinsicht sogar noch fester zugeschraubt.
3. Politische Duldungsstarre
Mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 hat sich die Deutsche Demokratische Republik selbst ausradiert und so den Rückweg in die eigene Vergangenheit versperrt. Die Deutsche Einheit wurde im Schnelldurchgang vollzogen, wobei die Massenabwanderung, die unsichere geopolitische Konstellation und das starke Interesse der Menschen, schnell im Westen anzukommen, die wesentlichen Treiber dieser zeitlich rasanten, ja fast sturzgeburtsähnlichen Entwicklung waren. Im Vergleich zu anderen postsozialistischen Ländern beschritt die DDR einen Sonderweg, der von den östlichen Nachbarn als privilegiert empfunden wurde. Allerdings hatte auch das Inkorporationsmodell gesellschaftlicher Transformation seine Kosten.
Es kam in Ostdeutschland zur Übernahme eines „ready-made state“ nach westdeutschem Vorbild, was eigene Gestaltungsmöglichkeiten abschnitt. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik war sowohl Ausdruck der demokratischen Selbstbestimmung der Bürger*innen der DDR wie auch deren Beendigung, denn von nun an hörte das Staatsvolk der DDR auf zu bestehen und wurde Teil eines größeren staatlichen Gebildes, in dem zwar demokratische Teilhabemöglichkeiten gegeben waren, über dessen Grundkoordinaten sich aber nicht mehr verhandeln ließ. Viele Ostdeutsche, die eben noch anfingen, sich erstmals als politische Akteure zu verstehen, fühlten sich über Nacht in eine Zuschauerrolle gedrängt und durch den Westen majorisiert. Viele im Westen verstanden die DDR als insolventen Staat, den es samt Bevölkerung zu übernehmen gelte, was im Gegenzug den Osten nicht gerade mit großem politischem Selbstbewusstsein ausstattete.
Eine Vereinigung auf Augenhöhe ließ sich durch das enorme Gefälle im Hinblick auf wirtschaftliche Stärke und politische Macht zwischen Ost- und Westdeutschland nicht bewerkstelligen. Zwar wurde politisch eine gleichberechtigte Beziehung simuliert und der Begriff der „Wiedervereinigung“ gegenüber dem des „Beitritts“ vorgezogen, tatsächlich aber ging es um Letzteres. Auch ließen sich dadurch Fragen nach der Berücksichtigung ostdeutscher Interessen und Befindlichkeiten politisch übergehen. Es war die übergroße Zustimmung für die „Allianz für Deutschland“ bei der letzten Volkskammerwahl, die es den maßgeblichen Akteuren möglich machte, sich gegen jedwedes weitergehende Mitsprachebegehren des Ostens im Prozess der Vereinigung zu immunisieren. Das klare Einigungsmandat schwächte alle kritischen und abwägenden Stimmen und gab der Kohl-Regierung ungeahnten Auftrieb. Im Rückblick steht die Wiedervereinigung für das hauruckartige Hereinholen der 16 Millionen DDR-Bürger*innen in die westdeutsche Modellgesellschaft. Institutionen, Rechtsbestände, alle gesellschaftlichen Normen wurden transformiert und dem, was eben noch „DDR“ war, übergestülpt.
Mit fahrlässiger Übertreibung könnte man sagen, mit der Wiedervereinigung sei der „vormundschaftliche Staat“ durch den mindestens paternalistischen, wenn nicht gar seinerseits vormundschaftlichen Westen abgelöst worden, sodass der Umbruch in gewisser Weise an jene Verhältnisse anschloss, die er überwinden wollte. Damals dominierte im Osten das Gefühl des Überrollt-Werdens, der Überwältigung und der Verohnmächtigung, verbunden mit einer überdeutlichen „Duldungsstarre“. So setzten sich viele Ostdeutsche resignativ wieder auf ihre Plätze, nachdem sie mutig aufgestanden waren, weil ihre Ideen plötzlich nicht mehr gefragt waren. Als Träger und Akteure sozialer Wandlungsprozesse waren sie nur insoweit vonnöten, als dass es darum ging, das, was im Westen schon vorhanden war, im Osten umzusetzen. Die über den Osten gekommene Blaupause West ließ keinen Platz für eigene institutionelle Lösungen, Gestaltungsoptionen oder Selbstfindungen, egal ob Parteienstruktur, Kassenärztliche Vereinigung, Hochschulrahmengesetz oder Kurverwaltung, sodass letztlich nur vollzogen und implementiert werden musste, was im Westen als institutionelle Lösung bereitstand.
Der Preis des schnellen Beitritts war der Verlust der Option, gemeinsam einen gesellschaftlichen Entwicklungspfad auszuhandeln, die eigenen Interessen stärker einzubringen und den kollektiven Akteuren vor Ort eigene Suchbewegungen nach passenden Institutionen zuzubilligen. So verpasste es der Osten, zu einem politischen Bewusstsein zu kommen, in welchem Menschen sich als politische Subjekte verstehen konnten, deren Interessen und Vorstellungen im gesellschaftlichen Umbauprozess nachgefragt und erwünscht sind.
Entsprechend zeigten in den 1990er Jahren im Osten durchgeführte Umfragen erhebliche Vorbehalte gegenüber dem Verlauf des Einigungsprozesses. Das ging bis zu dem Vorwurf, die Westdeutschen zeigten zu wenig Veränderungsbereitschaft, sie wollten nicht teilen (was wiederum mit dem Vorwurf gekontert wurde, die Ostdeutschen übten sich in Selbstmitleid oder seien dem Leistungsdruck der Marktwirtschaft nicht gewachsen). Aus heutiger Sicht stellt sich dieser Modus des Übergangs deshalb als problematisch dar, weil in ihm eine Verankerung genuin ostdeutscher Interessen und durch die „von oben“ installierten Institutionen und Strukturen die Selbstbindung von Teilen der Bevölkerung an die durch sie verkörperten Prinzipien nicht hinreichend gelangen.
Anders als in der bundesdeutschen Nachkriegszeit wurde die Re-Education nicht von einem loyalitätsstiftenden „Wirtschaftswunder“ flankiert, vielmehr kam es zu Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung in der Fläche. Das spezifische Zusammenspiel von wirtschaftlichem Einbruch und politischer Dominanz Westdeutschlands im Einigungsprozess hat dazu geführt, dass viele Ostdeutsche sich mit dem Hineinwachsen in die demokratische Kultur schwergetan haben und wir heute eine erhebliche Skepsis gegenüber gesellschaftlichen Basisinstitutionen feststellen können.
4. Entwertung der Soziokultur
Mit der DDR sind nicht nur ihre Ideologie, ihre Symbole und ihre Institutionen verschwunden, es kam gleichzeitig zu einer Entwertung des dort angehäuften Erfahrungsschatzes. Als die DDR unterging und die Ostdeutschen kollektiv der Bundesrepublik beitraten, wurde ihre Herkunftskultur zurückgesetzt und stand als gewohntes Repertoire sozialen Handelns und sozialer Anerkennung nicht mehr zur Verfügung. Dieses Aufgeben und Zurücklassen nicht nur der DDR-geprägten Ideologie und politischen Symbole, sondern auch der Lebensweise sowie die schnelle Umgewöhnung und Anpassung in die neuen Institutionenarrangements, wurden sogar als wesentlich für die erfolgreiche Vereinigung angesehen. Es gab politisch keinen dringlichen Grund, eine „Sondermentalität Ost“ zu pflegen, weil sie dem schnellen Anpassungsziel entgegenlief. Jürgen Habermas‘ einschlägige Rede von der „nachholenden Revolution“ wies damals auch intellektuell den Weg.
Teil dieser Rede war die Vorstellung, dass das Ende des Staatssozialismus dem Lösen einer Entwicklungsbremse gleichkäme, in deren Folge bislang versäumte Entwicklungen nachgeholt werden würden (auch wenn es zugleich eine klare Kritik an der „Sogwirkung“ der nationalen Schlagseite der deutschen Einheit gab). Der Institutionenwandel gehe dem Bewusstseinswandel voran, so lautete das in den Sozialwissenschaften populäre Verdikt, kurz: Mentalitäten würden sich in Richtung der Institutionen wandeln. Wer noch in der DDR geboren sei, der trage am Gepäck der Vergangenheit, für die Jüngeren sollte der Unterschied im Laufe der Zeit keine Rolle mehr spielen. Wohl gab es im öffentlichen Diskurs Stimmen, die darauf drangen, den „Lebensleistungen“ der ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger Respekt zu zollen. Als eigenständige Kultur- und Traditionsform, als Lebensweise oder als positiv aufgeladener Heimatbezug hatte die DDR-Erfahrung jedoch ausgedient. Die ostdeutsche Soziokultur galt als defizitär, sah sich mit Anpassungs- und Umstellungserwartungen konfrontiert und war durch das alte Regime politisch kontaminiert. Auch eine „Subalternisierung ostdeutscher Soziokulturen“ wurde konstatiert. In den Registern der offiziellen Erinnerungskultur wurde dabei vieles gelöscht oder für anstößig befunden, was für die Individuen durchaus Bedeutung hatte und bis heute hat: Wer das solidarische Zusammenleben im Realsozialismus pries, musste sich entgegenhalten lassen, er unterschlage die repressiven Aspekte des Regimes; die ostdeutsche Skepsis gegenüber Ungleichheit galt als postsozialistische Gleichmacherei; die Kindergartenkultur als Ausdruck einer kalten Bildungsdiktatur mit Fernwirkungen bis hin zu heutigen Neonaziphänomenen.
Ohne weitere Differenzierung ließ sich vieles als Ostalgie schmähen und argumentativ entsorgen, auch wenn die wenigsten an der DDR als Staat hingen, sondern die meisten diesen kritisch sahen. In medialen Debatten und erinnerungspolitischen Initiativen lag der Schwerpunkt stets auf Mauer, Flucht und Teilung; lebensweltliche Bezüge waren selten. Vieles wurde den ideologischen Schablonen eines Dafür oder Dagegen unterworfen, was auch die kritische Reflexion des Einigungsprozesses selbst verhinderte. Auch deshalb lief die Aufarbeitung der Vergangenheit an vielen Ostdeutschen vorbei; sie erkannten sich in den offiziellen Geschichtsbildern von SED-Diktatur und Unrechtsstaat nicht wieder und reklamierten einen Unterschied zwischen „System“ und „Lebenswelt“. Öffentliches Erinnern und persönliches Erleben ließen sich so oft nur schwerlich aufeinander beziehen, manche kritische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit fand zu wenig Gehör oder wurde ganz abgewehrt.
Vor diesem Hintergrund gab und gibt es in vielen ostdeutschen Milieus eine verbreitete „Angst vor Mindereinschätzung“. Diese Unterlegenheitserfahrung kommt auch in der zugespitzten Formel der „Bürger zweiter Klasse“ zum Ausdruck, die in Umfragen immer wieder geäußert wird. Während sich in den frühen 1990er Jahren über 90 Prozent der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“ fühlten, waren es 20 Jahre später immer noch über 40 Prozent. In einer aktuellen Studie gaben zuletzt über 35 Prozent der Ostdeutschen an, sie würden als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt.
Man kann das sowohl als Echoeffekt sozioökonomischer Deklassierung als auch als Reaktion auf kulturelle Umwertungen deuten, die tradierten Mustern der ostdeutschen Lebensführung und Soziokultur Anerkennung entzogen. Für den ostdeutschen Fall wäre es aber – nicht zuletzt aufgrund interner Differenzierungen und unterschiedlicher Abschichtungen von Erfahrungen vor und nach der Wende – eine zu starke Behauptung, unterstellte man eine in sich geschlossene und stark konturierte Teilkultur, sodass die Rede von „den Ostdeutschen“ immer auch eine vereinfachende Pauschalisierung darstellt. Dennoch gibt es einen ostdeutschen Erfahrungs- und Erinnerungsraum, der sich sowohl auf die DDR-Gesellschaft wie auch die ostdeutsche Umbruchserfahrung bezieht.
5. Veränderungserschöpfte Gesellschaft und populistisches Ressentiment
Manche sagen heute, Ostdeutschland habe dem Westen eine Transformationserfahrung voraus, das sei angesichts des anstehenden sozialen Wandels sogar ein Vorteil. Für manche im Osten mag das stimmen, man kann Ostdeutschland aber zugleich als veränderungserschöpfte Gesellschaft beschreiben. Der Transformationsgalopp, angefangen von der siechenden DDR und ihrem Zusammenbruch, über den Systemwechsel und die einschneidenden Transformationserfahrungen der 1990er, den Arbeitsmarktreformen unter Schröder bis hin zur Digitalisierung, hat viele Gruppen überfordert. In den 1990er Jahren sind die Existenzkämpfe und die Gefühle der Unsicherheit und der Prekarität besonders stark ausgeprägt gewesen. Es sind diese sozialen Erschütterungen im Kontext der Wende und der Restrukturierung in Ostdeutschland, die bisweilen ein starkes, veränderungsavers zu nennendes Festhalten an Besitzständen hervorgerufen haben. Das Festhalten, Bewahren und Verteidigen ist ein wichtiges Grundmotiv im Handeln und Denken vieler Ostdeutscher.
Die Gemeinschafts- und Sicherheitsverluste werden in Teilgruppen der ostdeutschen Bevölkerung durch die Hinwendung zu ethnisch bestimmten Kategorien der Zugehörigkeit und durch recht rigide Ordnungsvorstellungen kompensiert. Die Ankunft von Migranten gilt nicht wenigen als erneute Bedrohung einer gerade erst wieder halbwegs zur Ruhe gekommenen Gesellschaft. Im Zusammenspiel mit medialen Berichten zu „anschwellenden Flüchtlingsbewegungen“ schaukeln sich solche Wahrnehmungen zu einem diffusen Bedrohungsszenario auf – der Migrant wird dann zum Repräsentanten einer "Welt aus den Fugen", die an die eigene Haustür klopft. Nachdem die DDR-Gesellschaft untergegangen ist und man schon einmal sein kulturelles Gepäck zurücklassen musste, befürchten nun viele, dass es in einer diverseren Gesellschaft zu einer – drastisch formuliert – zweiten Welle der „kulturellen Enteignung“ kommt. Hierbei wird ein national gefärbtes Gemeinschaftsverständnis artikuliert, das auf starken und essentialistisch verstandenen Grenzziehungen zwischen einem vorgestellten „Wir“ und „den Anderen“ beruht.
Für die kulturell definierte Eigengruppe werden nicht nur Vorrechte reklamiert, sie wird auch als durch Zuwanderung gefährdet angesehen. Und noch eine argumentative Schleife wird von manchen hinzugefügt: Da man sich selbst im Übergang zur westlichen Gesellschaft anpassen musste, sei es nur recht und billig, dass sich auch die Migranten unterordnen und ihre eigene Kultur nicht einfach fortführen. Ganz im Sinne der von Arlie Russell Hochschild beschriebenen emotionalen Buchführung wird vieles aufgerechnet und gegen die Ansprüche anderer gestellt. Man sieht Zuwanderer als „Vordrängler in der Warteschlange“, also als Gruppe, deren Ansprüche besser bedient werden als die eigenen, und fragt sich, warum die eigenen Anliegen so wenig Berücksichtigung finden. Von hier ist der Weg zur Konstruktion eines ostdeutschen Opferkollektivs nicht weit.
Populistische Bewegungen kapitalisieren solche Gefühle der ökonomischen und kulturellen Zurücksetzung. Sie versprechen den vermeintlichen Verlierern nicht nur materielle Kompensationen, sondern auch Respekt, symbolischen Status und Selbstwertgefühl. Nachdem man – in der subjektiven Wahrnehmung jedenfalls – jahrelang nur herumgeschubst und an den Rand gedrängt wurde, hat man nun das Zepter wieder in der Hand. Populistischer Protest auf der Straße wird von vielen als Selbstermächtigung erlebt, als erfolgreiche Gegenwehr gegen übermächtige Verhältnisse. Schnell werden dann auch Vorwürfe in Richtung derer laut, die man als Profiteure des Systems identifiziert – kulturelle Eliten, Meinungsführer, Arrivierte, ökonomische Gewinner, etablierte Parteien, herausgehobene Funktionsträger. Sie haben nicht zuletzt deshalb einen schweren Stand, weil sie als Repräsentanten des „Von-oben-herab“ wahrgenommen werden, als ignorant oder gleichgültig gegenüber den Problemen vor Ort. Gerade dort, wo die politische Kultur unterentwickelt und die Zivilgesellschaft schwach ist, nimmt das schnell Züge einer „Erregungsdemokratie“ an. Diese zeichnet sich allgemein dadurch aus, dass nicht abgewogen und reflektiert wird, um ein Problem politisch gestaltbar zu machen, sondern dass Emotionen verstärkt und hochgekocht werden.
Die institutionelle Pazifizierung dieser Konflikte gelingt nur unvollständig, da die etablierten politischen Akteure kaum Zugang zu diesen Lebenswelten haben. Die politische Dynamik in Ostdeutschland oszilliert somit zwischen passiver Duldung und Protest auf der Straße und schließt damit in gewissem Sinne an die politischen Artikulationsformen in der späten DDR an. Kein Wunder also, dass die Protagonisten der Radikalisierung von rechts schamlos an diese Tradition anknüpfen. Dass darunter etliche mit Westbiografie sind, die nun im Osten reüssieren und dort wie etwa Björn Höcke oder Alexander Gauland ihre Hausmacht haben, gehört zu den augenfälligen Paradoxien dieser Entwicklung, vermag aber nicht wirklich zu überraschen, wenn man sich die vorhandenen Repräsentationslücken vergegenwärtigt.
Erschwerend kommt hinzu, dass der ostdeutschen Gesellschaft bis heute die zivilgesellschaftlichen und politischen Ressourcen fehlen, um sich der rechtspopulistischen Bewegung entgegenzustellen. Zwar haben die alten Volksparteien etliche Wahlen gewonnen, aber sie blieben mitgliederschwach. Vor allem blieb der vorpolitische Raum im Osten weitgehend unbesetzt. Gemeint sind damit die den Parteien und Parlamenten vorgelagerten Strukturen und Netzwerke, die nicht unmittelbar die Politik entscheiden, diese aber unterfüttern. Einstmals durch die staatlichen Organe und die Betriebe besetzt, klaffte nach der Wende eine Lücke. Viel dünner ist im Osten der Kranz aus Gewerkschaftsgruppen, Landschulheimen, Innungen und Bürgerinitiativen, die politische und soziale Integrationsleistungen vollbringen, ohne gleich mandatierte Politik zu sein. Diese unbesetzten Räume haben insbesondere Rechtspopulisten genutzt, um sich zu verankern und Wahlerfolge zu erzielen.
Angesichts eines löchrigen Netzes zivilgesellschaftlicher Assoziationen, der personellen und intellektuellen Schwäche der politischen Eliten und einer Bevölkerung, die kritisch auf die politischen Institutionen, ihre Repräsentanten und die Medien schaut, war es für die Rechtspopulisten ziemlich leicht, in den neuen Bundesländern Fuß zu fassen. Es ist eine bittere Erkenntnis, dass die rechten Bewegungen zu den wichtigsten Profiteuren der skizzierten Frakturen geworden sind. Die Kanalisierung und politische Übersetzung von Kritik und Unzufriedenheit – eigentlich eine vordringliche Aufgabe der etablierten Parteien – wurde ihnen überlassen.
Im gegenwärtigen politischen Diskurs haben die rechten Populisten jedenfalls ein Angebot in der Tasche, das scheinbar kaum zu schlagen ist, weil es die Menschen von Zumutungen entlastet. Ihre Botschaft lautet: „Die Welt muss verändert werden, um sich an dich anzupassen!“ Die Liberalen, egal ob Marktliberale oder aufgeklärte Kosmopoliten, haben hingegen eine andere Botschaft: „Du musst dich ändern, um dich an eine sich wandelnde Welt anzupassen!“ Die Populisten machen also ein Entlastungs- und Anerkennungsversprechen, die liberalen Kräfte treten den Menschen mit Veränderungs- und Anpassungszumutungen gegenüber. Das kann den Aufruf beinhalten, sich für den Markt zu optimieren, aber auch die Aufforderung, traditionelle Werte abzustreifen und sich auf eine diverser werdende Kultur einzulassen. In einer Teilgesellschaft wie der ostdeutschen, die in den zurückliegenden 30 Jahren einen regelrechten Transformationsgalopp durchgemacht hat, trifft diese Botschaft auf Erschöpfung, auf eine Haltung des „Nicht schon wieder“.
6. Schluss
Fragt man heute nach dem großen Aufbruch, geben sich viele verzagt. Diejenigen, die nunmehr von Revolutionen und Umsturz reden, meinen nicht selten die Rückkehr in ein schon längst vergangenes Gestern, mobilisieren das Ressentiment. Wenn ein Aufbruch notwendig wäre, dann der zur Wiedereroberung der Demokratie, um sie weder den nörgelnden Eckenstehern noch den Rechtspopulisten zu überlassen. Anknüpfen könnte man durchaus an einige Erfahrungen der Wende. Warum nicht aus den Runden Tischen von damals Bürgerräte von morgen machen? Wo der Glauben an die Parteiendemokratie schwindet, wo sich jenseits der Wahlurne nur eine kleine Minderheit parteipolitisch engagiert, wo bei der jüngeren Generation neue politische Artikulations- und Beteiligungsformen auf dem Vormarsch sind, müssen sich auch die etablierten Formen demokratischer Partizipation befragen lassen. Ansonsten bleiben viele – zu viele – außen vor oder stumm.
Eine Stärkung der Demokratie kann nicht allein vom Protest auf der Straße ausgehen, sondern braucht auch das Gespräch, die Abstimmung, das Verständnis für die Vielfalt der Positionen, will sie sich nicht in einer Erregungsdemokratie erschöpfen. Das zu leisten, erfordert neue Proberäume der Demokratie, offen für alle Bürger, vielstimmig, im Dialog mit der etablierten Politik. Vielleicht entsteht dadurch in manchem oder mancher auch das befreiende Erlebnis eines demokratischen Aufbruchs, das für viele den Herbst 1989 ausmachte, als man plötzlich aus dem Mief und der Enge hinauskam ins Freie, als die offene Rede, der Dialog und die politische Auseinandersetzung zum beglückenden Erlebnis wurden. „Heimweh nach 1989“ stand einst auf einer verwitterten Hauswand im Berliner Prenzlauer Berg. Man würde sich heute mehr von diesem Impuls des demokratischen Aufbruchs wünschen. Mehr Experimente wagen – mit der und für die Demokratie.
Zitierweise: Steffen Mau, „Ostdeutsche Frakturen für immer?", in: Deutschland Archiv, 09.07.2021, Link: www.bpb.de/336341. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Autor des Buchs "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" (Suhrkamp 2019 und bpb 2020 im Rahmen der Schriftenreihe, Band 10490).