Die Staatsanwaltschaft war blamiert, die Medien empört. Entkommen war nicht nur ein Schwerverbrecher, der voller Judenhass tief in die rechtsterroristische Szene der Bundesrepublik verstrickt war, sondern auch Kontakte zu Terrororganisationen im Nahen Osten pflegte, die Anschläge im Libanon planten. Prompt suchte Albrecht auch Kontakte zur PLO, die Stasi war dabei dienlich. Was danach aus ihm wurde, ist bis heute nicht genau bekannt, Stasiakten enthüllen allerdings, was Albrecht in der DDR alles verriet, bevor er mit neuer Identität Richtung Libanon ausgewiesen wurde. Die Dokumente der DDR-Geheimpolizei sollten ursprünglich ab dem 3. Dezember 1989 vernichtet werden, was aber im Zuge der Stasi-Auflösung nicht mehr gelang. Eine Recherche des Historikers Jan Schönfelder.
Ein Nazi flieht in die DDR
/ 23 Minuten zu lesen
Ein dubioser und filmreifer Fall. Im Sommer 1981 packte der in Bielefeld inhaftierte Rechtsterrorist, Bankräuber und Ausbrecherkönig Udo Albrecht plötzlich aus. Er verriet polizeilichen Ermittlern ein geheimes Waffendepot in Dortmund und eins mit Falschgeld in München. Die Hinweise stimmten. Ein drittes Depot mit einer Panzerfaust sollte sich an der deutsch-deutschen Grenze nahe Büchen in Niedersachsen befinden. Die Fahnder gingen auf das Angebot des 41-Jährigen ein, sie an die fragliche Stelle an der Bahnlinie Hamburg - Berlin zu führen. Als ein Zug nahte, setzte der Häftling alles auf eine Karte, rannte über die Gleise und entkam Richtung Grenzzaun in den Osten...
Deutsch-deutsche Grenze bei Büchen (Niedersachsen) am 29. Juli 1981. DDR-Grenzposten beobachten eine Gruppe von etwa zehn Personen auf der bundesdeutschen Seite, die sich mit Schaufeln am Rande des Bahndamms der Interzonenstrecke Hamburg-Berlin zu schaffen machen.
Sie sind zusammen mit einem »gefährlichen Intensivtäter« in den lauenburgischen Grenzraum gekommen, um nach Depots zu suchen, in denen sich Sprengstoff, eine Panzerfaust und Handfeuerwaffen befinden sollen. Der Staatsanwalt hat es ausdrücklich abgelehnt, den Häftling besonders zu sichern, obwohl Grenzschutzbeamte mehrmals dazu raten. Fluchtgefahr bestehe nicht. Außerdem solle die Aussagewilligkeit des Mannes erhalten bleiben.
Offenbar grub zunächst auch Udo Albrecht mit, dort wo seinen Angaben zufolge eine Panzerfaust unter dem Unterholz vergraben sein sollte. Die Handschellen waren ihm entfernt worden.
Offenbar grub zunächst auch Udo Albrecht mit, dort wo seinen Angaben zufolge eine Panzerfaust unter dem Unterholz vergraben sein sollte. Die Handschellen waren ihm entfernt worden.
Die Achtlosigkeit der Bewacher hat vielleicht noch einen weiteren Grund: Ein Neonazi wird doch nicht in die DDR flüchten … Die Handschellen werden abgelegt – vom Staatsanwalt persönlich. Gegen 14:35 Uhr nähert sich ein Personenzug Richtung DDR. Plötzlich rennt aus der Gruppe ein Mann weg, den Bahndamm entlang. Ihm folgt der Staatsanwalt mit gezückter Pistole noch zehn bis 15 Meter auf DDR-Gebiet, bis ihn BGS-Beamte schließlich zurückrufen.
DDR-Grenzer, der den Ortstermin der westdeutschen Staatsanwaltschaft am 29. Juli 1981 für das MfS fotografierte.
DDR-Grenzer, der den Ortstermin der westdeutschen Staatsanwaltschaft am 29. Juli 1981 für das MfS fotografierte.
Ein Kriminalbeamter ruft: »Schießen Sie!« – Ein BGS-Beamter: »Nicht schießen!« Die Geschosse könnten auf DDR-Territorium einschlagen. Der Flüchtende schreit um Hilfe. Ein DDR-Grenzer geht mit seiner Maschinenpistole in Stellung. 30 Meter nach Überschreiten der Grenze trifft Albrecht auf zwei DDR-Grenzaufklärer. Im Rückblick sagt er: »Ich bin überzeugt, dass ich [es] ohne Anwesenheit dieser Grenzposten nicht geschafft hätte, da ich hörte, dass ich noch ein Stück auf DDR-Gebiet verfolgt wurde und außerdem später stürzte.«
Der Überläufer gibt sich den DDR-Grenzern als Mitglied der PLO zu erkennen und sagt, dass er in der DDR Dokumente übergeben wolle. Einen Personalausweis hat der Mann nicht dabei. Die Grenzer übergeben den Mann Ermittlern der Staatssicherheit. Dort sagt er aus, dass er Udo Albrecht sei. Zur Legitimation legt er Kopien seines Haftbefehls, Zeitungsartikel und ein Fernschreiben des Verfassungsschutzes vor.
Niedersächsische Polizisten auf der westlichen Seite des Bahndamms, ihnen gegenüber DDR-Grenzer, die die Grabung misstrauisch beobachten.
Niedersächsische Polizisten auf der westlichen Seite des Bahndamms, ihnen gegenüber DDR-Grenzer, die die Grabung misstrauisch beobachten.
Albrecht schildert seine Flucht später so: »Ich habe erst mitgegraben, das Loch wurde immer größer, die Kriminalbeamten haben gegraben und ich habe dann rumgesucht, ob es nicht vielleicht hier wäre oder mehr dort wäre«. Dann seien zwei DDR-Grenzposten auf den Bahndamm gekommen und hätten die Arbeiten beobachtet. Als der Zug gekommen sei und seine Bewacher zum Zug geschaut hätten, »da habe ich dann den Sprung gewagt und bin einfach losgerannt«, so Albrecht. Zwar hätte ihn noch der Staatsanwalt bis auf DDR-Gebiet verfolgt, aber als sich die DDR-Grenzposten mit MPi im Anschlag hingeworfen hätten, habe der Beamte die Verfolgung aufgegeben.
Für die Stasi kein Unbekannter
Für die Staatssicherheit ist Albrecht kein Unbekannter. Mit großem Aufwand forscht sie seit Jahren die rechtsextreme Szene in der Bundesrepublik aus.
Zunächst wird Albrecht in die zentrale Untersuchungshaftanstalt nach Berlin-Lichtenberg gebracht. Die Stasi-Untersuchungsabteilung übernimmt den Fall.
Dann geht es für Albrecht weiter in das konspirative »Objekt 74«. Der Fahrer hat Schwierigkeiten das Objekt zu finden und hält deshalb mehrmals im brandenburgischen Wald.
Zuständig ist die Abteilung XXII – die Terrorabwehr.
In einem späteren Gespräch mit einem PLO-Spitzenmann sagt Albrecht, dass er befürchtet habe, nach seiner Flucht in die DDR dort »in ein noch schlechteres Gefängnis« zu kommen.
Albrecht sei der Auffassung, »dass der Zionismus der ›Weltfeind Nummer eins‹ sei und gewaltsam bekämpft werden müsse«, notieren die Vernehmer. »Ausgehend davon entschloss er sich, Verbindung zu verschiedenen gegen Israel tätigen Kräften in arabischen Ländern aufzunehmen.« Albrecht nennt kaum Namen. Aber er schwärzt Willi Pohl als CIA-Agenten an, der gerade im Libanon sei, um Kontakte zur PLO zu suchen. In der Vernehmung, so notiert es die Staatssicherheit, »verhält sich Albrecht aufgeschlossen und erklärte mehrfach seine Bereitschaft, alle ihm gestellten Fragen wahrheitsgemäß und umfassend zu beantworten.«
Nach einer Woche in der DDR wird Albrecht noch immer verhört. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und ob er in den Nahen Osten ausreisen kann, ist völlig unklar. Seinen Vernehmern sagt er, dass er »sehr deprimiert« sei: »Es belastet mich psychisch sehr, dass ganz offensichtlich in dieser Hinsicht sich nichts wesentliches getan hat.« Er klagt, dass er im luftleeren Raum hänge.
Ein ungewöhnliches Auslieferungsbegehren
Am Nachmittag des 30. Juli klingelt im Büro von Carlos Foth in Ost-Berlin das Telefon.
Die DDR schweigt wochenlang zu der Bitte. Fast einen Monat nach der Flucht Albrechts schreibt Generalstaatsanwalt Geißler erneut nach Ost-Berlin und bittet um Auskunft.
Aber nicht nur der Generalstaatsanwalt aus Hamm schickt Briefe nach Ost-Berlin. Auch Anwalt Schöttler, den Albrecht abgelehnt hat, meldet sich und versucht, sich wieder ins Spiel zu bringen. Sein Mandant (»Inhaber eines Sonderausweises der Al Fatah, Kommandeur innerhalb der Palästinensischen Befreiungs-Organisation«) habe mit seinem Grenzübertritt offensichtlich das Ziel gehabt, »über die PLO-Vertretung in Ost-Berlin nach Beirut/Libanon ausgeflogen zu werden.«
Nach Absprache mit der Staatssicherheit wird die Anfrage nicht beantwortet.
Schöttler versucht auch über andere Kanäle an seinen entschwundenen Mandanten zu kommen: Anfang August meldet sich ein IM »Schwalbe« bei der Stasi-Bezirksverwaltung Neubrandenburg.
Im Westen zur Fahndung ausgeschrieben
In der Bundesrepublik wird Albrecht nach seiner Flucht in den Osten zur Fahndung ausgeschrieben. Der Grenzschutz rechnet damit, dass Albrecht ohne Ankündigung von der DDR heimlich abgeschoben wird. Deshalb werden alle aus der DDR in die Bundesrepublik einreisenden Männer »zumindest einer Sichtkontrolle« unterzogen.
Das Magazin zeichnet die Verbindungen von Neonazis, Fluchthelfer-Szene und PLO-Terroristen detailliert nach. Die Staatssicherheit nimmt den Artikel genau unter die Lupe.
Befragung durch die Stasi
Unterdessen wird der mehrfach vorbestrafte Albrecht von der Staatssicherheit weiter befragt.
Insgesamt dauert die Befragung über eine Woche. Das Tonband läuft immer mit. Nach Tagen klagt Albrecht über Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen.
In der Vernehmung belastet Albrecht Willi Pohl als Verfassungsschutz-Mitarbeiter. Davon habe er durch Fernschreiben zwischen dem BKA und dem Verfassungsschutz, die sich in seinen Prozessakten befinden, erfahren. Albrecht befürchtet, dass Pohl im Libanon an Unterlagen, unter anderem über rechtsradikale Gruppen in der Bundesrepublik und geplante Aktionen der PLO, kommt, die er dort hinterlegt habe. In seinen Vernehmungen nennt Albrecht zahlreiche Details und Namen. Gleichzeitig berichtet er ausführlich über seine Kontakte zu »Jung«, verneint aber alle weiteren Kontakte zu westlichen Geheimdiensten.
Albrecht legt Wert darauf, in der Vergangenheit Informationen über rechtsextremistische Kreise in der Bundesrepublik an den Palästinenser Atef Bseiso weitergegeben zu haben, der ihm »das Interesse der Organe der DDR an derartigen Kreisen« mitgeteilt habe.
Ein gesprächiger Informant
Albrecht gibt zahlreiche Details preis. Er spricht beispielsweise über die Falschgeld-Produktion und die personellen Verflechtungen. Albrecht charakterisiert Hoffmann als »feige«. Die Staatssicherheit legt ihm Ausgaben der WSG-Zeitschrift »Kommando« vor und Albrecht identifiziert auf Abbildungen einzelne Mitglieder der »Wehrsportgruppe«.
Auch über seine Verbindungen in die rechtsextremistische Szene in Italien und zur exilkroatischen Szene in der Bundesrepublik spricht er.
Auch später, als es um gemeinsame »Geldbeschaffungs«-Aktionen« mit der PLO in Westeuropa geht, ist Albrecht zugeknöpft: Er wolle darüber nicht sprechen, »da dies meines Erachtens nicht unmittelbar im Zusammenhang mit den Interessen der DDR berührenden Fragen steht.«
Wenn es Albrecht an Detailwissen fehlt oder er Details nicht preisgeben möchte, dann verweist er immer wieder auf seine Unterlagen, die sich in Beirut in einem Stabswagen befinden würden. In den 14 Koffern mit Zahlenschloss sollen auch Dokumente deponiert sein, die die detaillierte Vorbereitung von Anschlägen gegen israelische Einrichtungen, die von der Fatah, dem »Schwarzen September« und der PLO geplant waren, dokumentieren.
Außerhalb des Protokolls gibt Albrecht doch Details zur PLO preis. Die Stasi schreibt heimlich mit. So berichtet Albrecht darüber, dass er in Portugal für den Irak Waffen im Wert von 20 Millionen Mark beschaffen sollte.
Nach den allgemeinen Vernehmungen wird Albrecht gezielt zu einzelnen Personen befragt. Albrecht berichtet detailliert über Waffenhändler, Neonazis, Kampfstoff-Experten und Geheimdienstleute, die ihm bekannt sind. Auch über seine eigenen terroristischen Ambitionen spricht Albrecht.
"Nach außen prononciert antifaschistisch"
Die Befragung durch das MfS ist interessengeleitet. Sie konzentriert sich auf das, was nach Einschätzung der Genossen für die Sicherheit der DDR wichtig sein könnte. Eine ideologische Auseinandersetzung mit Albrecht findet nicht statt. Auch über private Dinge wird nicht gesprochen. Nach außen gerieren sich die SED-Genossen prononciert antifaschistisch. Doch im Fall Albrecht wird der staatstragende Antifaschismus zur Seite geschoben. Weshalb handelt die DDR im Fall von Albrecht ihren eigenen ideologischen Vorgaben zuwider? Weshalb hat sie keinen Skrupel, einen bekennenden Neonazi zu unterstützen und eine Liaison mit ihm einzugehen? Welche Gemeinsamkeit gibt es zwischen Albrecht und den DDR-Genossen? Es gibt einen gemeinsamen Feind: Israel. Albrecht und die DDR verfolgen einen politischen Antizionismus, der Israel als Feindstaat definiert.
Der Ostblock hat im Kalten Krieg Partei für die arabischen Staaten ergriffen und sich solidarisch mit der israelfeindlichen PLO als nationale Unabhängigkeitsbewegung erklärt, obwohl die Organisation auch vor Terroranschlägen nicht zurückschreckt. Die PLO und ihre Verbündeten fordern die Zerstörung Israels. Zwar distanziert sich die DDR – die nach internationaler Anerkennung giert – offiziell vom Terrorismus, unterhält aber enge Beziehungen zu radikalen palästinensischen Organisationen. Die DDR verbreitet nicht nur extreme antizionistische Hetze, sondern unterstützt die Organisation offen und hält den bewaffneten Kampf für legitim.
Seit 1973 hat die PLO eine offizielle Vertretung in Ost-Berlin – die erste im Ostblock. Damit wird der Eindruck eines besonders engen Verhältnisses vermittelt. Die DDR versucht, sich mit dieser Nahost-Politik Anerkennung bei den arabischen Staaten zu verschaffen – und Zugang zum Öl zu bekommen. Der Nahostkonflikt ist für die DDR außerdem ein Teil des Klassenkampfes: Israel wird als kapitalistischer Staat westlicher Prägung definiert.
Die Israelis gelten als imperialistische Unterdrücker der Palästinenser, als Aggressoren, als Urheber des militärischen Terrors gegen die arabische Zivilbevölkerung. Die DDR-Propaganda spricht sogar vom Völkermord am palästinensischen Volk – und relativiert damit den Holocaust. Ähnlich argumentierten westdeutsche Rechtsextremisten. Hier ist die Schnittstelle zwischen Albrecht und der DDR. Und so fördert die DDR eher den Terrorismus, als dass sie zu seiner Bekämpfung beiträgt.
Undatiertes Stasi-Foto von Udo Albrecht in Ost-Berlin. (© BArch MfS / Recherche Jan Schönfelder)
Verhandungen mit den Palästinensern
Während Albrecht verhört wird, nimmt die Staatssicherheit Kontakt zur PLO auf, um das weitere Vorgehen und vor allem Albrechts Schicksal zu klären. Die DDR will Albrecht loswerden. Ist er ein Sicherheitsrisiko? Es gibt zumindest keine Überlegungen oder gar Pläne, Albrecht in der DDR zu behalten und zu integrieren. Am 1. August spricht die Staatssicherheit mit Fatah-Gründervater Abu Iyad und mit Amin Al-Hindi.
Eigentlich wolle die PLO mit Albrecht und den Hoffmann-Leuten nichts mehr zu tun haben. Über eine libanesische Staatsbürgerschaft Albrechts sei nichts bekannt. In einem Strategiepapier für die nächsten Gespräche mit den Palästinensern plädiert die DDR-Seite dafür, Albrecht nicht in die Bundesrepublik auszuliefern.
Weiter heißt es in dem internen Argumentations-Papier: Die westlichen Pressemeldungen zur Flucht Albrechts in die DDR sollten nicht überbewertet werden. Denn: »Bei Prozess in BRD wären Konsequenzen für PLO viel schlimmer.«. Wichtig sei, dass Albrecht nicht selbst in die Öffentlichkeit gehe. Deshalb sei es die »beste und sicherste Variante«, wenn die PLO Albrecht übernehme. So könne er weiter kontrolliert werden.
Übergabe an die PLO
Am 3. August signalisieren die Palästinenser, dass sie mit den Vorschlägen der Staatssicherheit einverstanden sind.
Am 5. August landen Atef Bseiso, der Drahtzieher des Münchner Olympia-Attentats, und sein Bruder Sahar in Schönefeld.
Die Palästinenser bekunden ihr Interesse an Albrecht. Sie hätten keinen Grund, ihm zu misstrauen. Allerdings sei eine konspirative Zusammenarbeit mit ihm schon lange nicht mehr möglich, da seine Aktivitäten zu sehr in den Blick der Öffentlichkeit geraten seien. Albrecht habe von der PLO deshalb Geld erhalten, um einen legalen Fahrzeug-Handel aufzubauen und gleichzeitig sei er beauftragt worden, über die rechtsextremistische Szene zu berichten.
Die Palästinenser bestätigen der Staatssicherheit, dass Albrecht in Beirut tatsächlich rund 20 Koffer mit Dokumenten und Fälscherwerkzeug deponiert habe. Beide Seiten sind sich einig, dass Albrecht »zur »Vermeidung von politisch-negativen Folgen […] schnellstmöglich aus der DDR zu entfernen« sei. Die Palästinenser sagen zu, dass sie Albrecht zunächst nach Damaskus »und von dort weiter in Sicherheit« bringen wollen. Um die Ausreise zu ermöglichen, soll ihm ein falscher libyscher Ausweis ausgestellt werden: Ahmed Salem Mahmaad, geboren 1940 in Sabha und dort auch wohnhaft. Am 12. August soll Albrecht die DDR verlassen.
Nach Aussagen von Abu Daoud will Albrecht »nach wie vor, für die Interessen der PLO« kämpfen. In der Haft habe sich bei ihm die Überzeugung gefestigt, »dass die PLO mit allen Mitteln unterstützt werden müsse und der Kampf der PLO ein gerechter sei.« Gleichzeitig habe sich Albrechts »nationalsozialistische Haltung abgeschwächt«.
Die Staatssicherheit analysiert die Vernehmungen von Albrecht akribisch. Es geht um die Glaubwürdigkeit des Flüchtlings. Die Vernehmer suchen nach Widersprüchen, vergleichen die Aussagen mit anderen Dokumenten und formulieren offene Fragen. Eine offene Frage ist vor allem die Identität und der Hintergrund von »Jung«. In den Archiven des MfS findet sich über den Mann nichts.
Insgesamt, so die Staatssicherheit, verhält sich Albrecht in den tagelangen Vernehmungen »aufgeschlossen und zuvorkommend«. Wiederholt habe er sich bereit erklärt, »dem Untersuchungsorgan des MfS alle ihm bekannten Tatsachen über die Tätigkeit rechtsradikaler und neofaschistischer Kräfte in der BRD mitzuteilen.«
Lediglich mit Blick auf PLO-Interna habe Albrecht geschwiegen. Dazu wolle er keine Einzelheiten zu Protokoll geben. Die Staatssicherheit ist trotzdem zufrieden: Durch die Aussagen seien »zahlreiche operativ vorliegende Feststellungen bestätigt und in wesentlichen Punkten, insbesondere hinsichtlich der ›Wehrsportgruppe Hoffmann‹ neue Erkenntnisse gewonnen« worden.
Flucht im Flieger als "Ahmed Salem Mahmaad"
Am 7. August stellt der Bundesgrenzschutz seine »Aktivfahndung« nach Albrecht ein. Allerdings werden »weiterhin die Grenzübergänge besonders überwacht, die für eine Abschiebung in Frage kommen.«
8. August 1981. Um 1:15 Uhr in der Nacht ist Bewegung am Diensteingang C des Flughafens Berlin-Schönefeld. Die Staatssicherheit übergibt Albrecht an zwei Vertreter der PLO. Albrecht bekommt einen falschen libyschen Pass ohne DDR-Stempel. Dann darf er in die Interflug-Maschine 824. Um 2:50 Uhr hebt der »Ausbrecherkönig« »Ahmed Salem Mahmaad« unbehelligt nach Damaskus ab.
Über die internen Entscheidungswege der Staatssicherheit liegen keine Unterlagen vor. Deshalb bleibt unklar, wer was mit wem abstimmte. Wer traf letztendlich die politisch heikle Entscheidung, wie es mit Albrecht weitergeht? Ging es bei der Entscheidung nur um das internationale Ansehen der DDR? Oder waren noch andere Faktoren ausschlaggebend?
Offensichtlich ist jedoch, dass die DDR den Rechtsextremisten ohne viel Aufsehen loswerden wollte und sich auch nicht weiter für dessen Schicksal interessierte. Für die Zeit nach Albrechts Abflug liegen keinerlei Informationen vor, dass Albrecht im Nahen Osten für das MfS tätig gewesen ist. Spekulationen, dass der Rechtsextremist »mit einem neuen, unbekannt gebliebenen Decknamen für die Stasi tätig war und in den Finanzakten geführt wurde«, sind ohne jede Grundlage.
Am 12. August meldet Bild, die DDR weigere sich, Albrecht an die Bundesrepublik auszuliefern.
Erst am 17. August 1981, Tage nach Albrechts Abflug, legt die Staatssicherheit eine eigene Akte zu Albrecht an.
Das Ziel der Personenkontrolle: »Abwendung von Gefahren und Sicherheitsrisiken für die DDR und ihre Verbündeten.« Es soll weiter Material über Albrecht gesammelt werden. Die Akte hat am Ende einen Umfang von rund 1.800 Blatt. In dem umfangreichen Bestand gibt es keine Verpflichtung Albrechts. Auch sonstige Vereinbarungen sind nicht dokumentiert. Zwar interessiert sich das MfS nach Albrechts Abflug weiter für ihn, aber es gibt keine dokumentierte Kooperation.
Abgelehnte Auslieferung in die Bundesrepublik aber Ausweisung in den Libanon
Am 16. September trifft in Hamm der Brief aus Ost-Berlin ein.
»Im Übrigen« informieren die DDR-Behörden, dass der »widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eingedrungene Beschuldigte Udo Albrecht hier zwischenzeitlich ausgewiesen« worden sei. In welches Land Albrecht geschickt worden sei, teilen sie nicht mit. Die westdeutschen Fahnder machen die Antwort aus der DDR umgehend öffentlich.
Intern rätseln die bundesdeutschen Ermittler, wo sich Albrecht jetzt aufhalten könnte. Es sei nicht auszuschließen, dass Albrecht in ein Land seiner Wahl ausgewiesen worden sei und er sich wieder im Libanon aufhalte.
Zitierweise: Jan Schönfelder, „Ein Nazi flieht in die DDR“, in: Deutschland Archiv, 10.02.2023, Link: www.bpb.de/518131. Die Recherche wurde mit freundlicher Genehmigung der Akademischen Verlagsbuchhandlung Friedrich Mauke dem Buch entnommen: Jan Schönfelder, "Feindbild Israel: Udo Albrecht, der rechte Terror und die Geheimdienste", Jena 2022, das noch zahlreiche weitere Recherchen zum Fall Albrecht enthält.
Der Buchtitel, dem dieser Text entnommen ist: Jan Schönfelder, "Feindbild Israel: Udo Albrecht, der rechte Terror und die Geheimdienste", Jena 2022. Der Autor, der Historiker Dr. Jan Schönfelder, studierte Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist seit 1999 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk.
Ergänzend zum Thema:
Bernd Wagner, "Externer Link: Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis", bpb-Stasi-Dossier 2.1.2018
Externer Link: Die DDR und ihr Hass auf Israel. Mielke-Zitat im Artikel: Madlen Schäfer, "Stasi-Waffenhilfe für Syrien", bpb-Stasi-Dossier 17.4.2018
Weitere Inhalte
Der Historiker Dr. Jan Schönfelder studierte Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist seit 1999 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte und Bundesrepublik und DDR, siehe auch www.jan-schoenfelder.de.