Gabriel Berger nimmt in seinem Artikel Bezug auf den DA-Beitrag von Wolfgang Herzberg. Er stimmt mit ihm in vielen Punkten überein, zum Beispiel darin, dass die Auseinandersetzung mit der Shoah in der DDR umfassend stattgefunden hat. Im Gegensatz zu Herzberg sieht Berger allerdings auch den Geburtsfehler, unter dem die DDR als eine Schöpfung Stalins von Anfang an zu leiden hatte.
Dieser Text ist eine Replik auf den Interner Link: Beitrag von Wolfgang Herzberg im Deutschland Archiv . Ich teile seine Meinung, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung in der DDR von Anfang an und umfassend stattgefunden hat. Auch stimme ich als selbst Betroffener mit ihm überein, dass die materielle und soziale Unterstützung der Jüdinnen und Juden in der DDR in ihrem Umfang vermutlich weltweit einzigartig gewesen ist, was allerdings deren Loyalität gegenüber den politischen Verhältnissen in der DDR zur Voraussetzung hatte. Auch stimme ich ihm zu, dass der Beitrag der jüdischen Künstlerinnen und Intellektuellen zur Kultur, aber auch zur politischen Elite der DDR, trotz der insgesamt geringen Anzahl von Jüdinnen und Juden in der DDR, außerordentlich hoch gewesen ist.
Im Gegensatz zu Wolfgang Herzberg sehe ich allerding auch den Geburtsfehler, unter dem die DDR als eine Schöpfung Stalins von Anfang an zu leiden hatte. Ihr politisches System war ein Ableger des Sowjetischen, das wesentlich durch die Terrorherrschaft Stalins geprägt war, in der die Attribute Menschlichkeit, Demokratie, Selbstbestimmung, wenn überhaupt geäußert, zynische Phrasen gewesen sind. Es ehrt die jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten, zu denen auch mein Vater zählte, dass sie in der DDR eine neue, humane Welt errichten wollten. Aufgrund des stalinistischen Hintergrundes dieses Staates konnte aber ihr gut gemeinter Vorsatz nur eine Illusion bleiben. Denn das große Vorbild und der Mentor der DDR war die Sowjetunion, das Land des GULAG und des KGB.
Ohne Zweifel gab es in der DDR, was Wolfgang Herzberg hervorhebt, im sozialen Bereich und bei der Gleichstellung von Frauen Errungenschaften, die sich bis heute sehen lassen können. Aber der Preis dieser Errungenschaften, den die/der durchschnittliche Bürger/in zu zahlen hatte, nämlich der eklatante Mangel an persönlichen Freiheiten, war entschieden zu hoch. Auch lehne ich Wolfgang Herzbergs Haltung zu Israel strikt ab, besonders sein Verständnis für den extremen Antizionismus der DDR. Denn mit jeder, egal wie gut gemeinten, Unterstützung der arabischen Feinde Israels nahm man einen erneuten Genozid an Jüdinnen und Juden in Kauf. Und dennoch sollte man sich beim Rückblick auf die Verhältnisse in der DDR vor einer Dämonisierung und vor Übertreibungen hüten.
Nach dem Fall der Mauer sind alle Aspekte des Lebens in der DDR generell in Verruf geraten. Wer dem Leben dort irgendetwas Positives abgewinnt, gerät als hoffnungslose/r DDR-Nostalgiker/in unter Beschuss. Dabei muss aber die DDR, bei aller Kritik an ihrem Diktatursystem, differenziert betrachtet werden. Das gilt auch für die Haltung der DDR-Führung gegenüber Jüdinnen und Juden. Wegen ihrer ablehnenden Haltung zu Israel und der Ablehnung einer Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer wird die DDR von Zeithistoriker/innen oft pauschal als antisemitisch betrachtet.
Ich habe den folgenden Beitrag bereits 2012 geschrieben und ihn beim Externer Link: Compass-Infodienst für christlich-jüdische und deutsch-israelische Tagesthemen online veröffentlicht. Nachdem ich den Text von Wolfgang Herzberg gelesen hatte, nahm ich mir ihn wieder vor und fand ihn nach wie vor inhaltlich richtig. Für das Deutschland Archiv habe ich den Beitrag gekürzt, einige Zahlen und auch Anmerkungen aktualisiert und bringe hiermit meine Betrachtung in die Debatte ein.
Der bundesdeutsche Mainstream
Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung herrscht unter bundesdeutschen Historikern sowie einigen „gewendeten“ Ostdeutschen die Meinung vor, in der DDR habe es einen staatlich sanktionierten und instrumentalisierten Antisemitismus gegeben. Als selbst Betroffener sehe ich die Notwendigkeit, hierzu einige Fakten richtigzustellen, und zwar nicht aus der Position des Historikers, sondern aus der eines Zeitzeugen. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf die volle Wahrheit, bestreite aber die Richtigkeit des von der Mehrheit deutscher Zeithistoriker heute präsentierten Bildes über die Haltung der DDR-Machtelite zu den Jüdinnen und Juden.
Ein typisches Beispiel hierfür war der 2020 in 3Sat gesendete Beitrag "Schalom Genossen – Juden in der DDR" , wie auch die bereits 2007 zum gleichen Thema von der initiierte und heute noch verfügbare Wanderausstellung „Das hat es bei uns nicht gegeben“. Beide Präsentationen zum Thema Juden und Jüdinnen in der DDR konnten aus meiner Sicht nicht überzeugend darlegen, worin denn die im Vergleich zur Behandlung anderer DDR-Bürgerinnen und Bürger außergewöhnliche Verfolgung oder Benachteiligung der Jüdinnen und Juden bestanden haben soll, die den Vorwurf des Antisemitismus rechtfertigen würde.
Stalin führte einen Feldzug gegen „Kosmopoliten“ und „Zionisten“
Sieht man von der extrem israelfeindlichen Berichterstattung in den Medien ab, war das einzige als antisemitisch interpretierbare Faktum der Staatsmacht der DDR, das sich zweifelsfrei nachweisen lässt, die Verfolgung von Partei- und Staatsfunktionären Anfang der 1950er-Jahre, die zu der im Fernsehbeitrag wie in der Ausstellung geschilderten Massenflucht von Juden aus der DDR in den Westen geführt hatte. Diese wird auch in anderen Quellen fast ausschließlich angeführt, um den antisemitischen Charakter der DDR–Staatsführung zu belegen. Bedenkt man aber, dass die damals als „Kosmopoliten“, „Zionisten“ und angebliche „Agenten des westlichen Imperialismus“ Verfolgten meist hohe Funktionäre der SED und des Staates gewesen sind, könnte man diese hässliche Episode, die auf Anordnung Stalins und seines Apparats in allen Ostblockstaaten ablief und kurz nach seinem Tod im März 1953 beendet war, als eine Fehde innerhalb der DDR-Machtelite betrachten. Davon waren vorwiegend Juden betroffen, die selbst zu dieser Elite zählten und sich aufgrund ihrer marxistischen Überzeugung meist gar nicht als Juden betrachteten. Eine Ausnahme war Paul Merker, selbst kein Jude, der 1952 verhaftet und noch 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, als „zionistischer Agent“ verurteilt wurde, unter anderem deshalb, weil er die Zahlung einer Wiedergutmachung durch die DDR an deutsche Juden, unabhängig von ihrem Wohnsitz, also auch außerhalb der DDR, anregte. Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen, die gewiss nicht der Machtelite angehörte, hatte mit der Flucht in den Westen Anfang der Fünfzigerjahre ganz sicher überreagiert, aus verständlicher Furcht, wenige Jahre nach dem Holocaust wieder ausgegrenzt und verfolgt zu werden. Dass in der DDR noch Mitte der Fünfzigerjahre Gerichtsverfahren gegen „Zionisten“ und „Kosmopoliten“ im Geiste des Slansky-Prozesses in der CSSR stattfanden, folgte aus der Unsicherheit der DDR-Führung. Sie wollte den vergleichsweise liberaleren Kurs des „Tauwetters“ in der UdSSR und in anderen Ostblockstaaten nach dem 20. Parteitag der KPdSU nicht nachvollziehen, um sich nicht selbst der Kritik der Bevölkerung und der Parteimitglieder stellen zu müssen.
Dass es in den berüchtigten Gerichtsverfahren, beginnend mit dem Rajk-Prozess in Ungarn 1949, dem Kostov-Prozess in Bulgarien 1949, dem Slansky-Prozess in der Tschechoslowakei 1952 und den darauf folgenden Verfahren in anderen Ostblockländern einschließlich der DDR nur um Juden, mithin um den Antisemitismus, ging, ist ein in der öffentlichen Meinung häufig anzutreffender Irrtum. Hintergrund dieser Prozesse war vielmehr der stalinistische Wahn, alle Kommunisten, die nach dem Krieg aus der westlichen Emigration in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren, der Spionage für westliche Geheimdienste zu verdächtigen. Eine besondere Rolle spielte dabei der amerikanisch-jüdische Kommunist Noel Field, der zur Zentralfigur einer internationalen antikommunistischen Verschwörung stilisiert wurde, sodass alle kommunistischen Emigranten, denen Kontakte mit ihm nachgewiesen werden konnten, vor Gerichte gezerrt wurden. Opfer dieser paranoiden Fantasien wurden damals nicht ausschließlich Juden, sie waren aber unter den Verhafteten und zum Tod oder zu hohen Gefängnisstrafen Verurteilten in der Mehrheit, weil vorwiegend sie, um zu überleben, während der Nazizeit aus ihren Ländern fliehen mussten. Da in den Gerichtsverfahren gegen die „Spione“ und „Kosmopoliten“ das rechtsstaatliche Prinzip, wonach jeder bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat, umgedreht wurde, also jeder als schuldig galt, solange er nicht seine Unschuld beweisen konnte, waren für einen vermeintlichen Delinquenten die Chancen, seinen Kopf aus der Schlinge zu retten, denkbar gering.
Ist „Jude“ oder „Jüdin“ Religion oder Nationalität?
Die Juden, um die es in diesen Prozessen hauptsächlich ging, gehörten alle der kommunistischen Führungsriege an und waren selbstverständlich nicht religiös. In der DDR traf das auf einen Großteil der Jüdinnen und Juden zu, die sich zudem meist selbst nicht als Juden betrachteten. Dieser Umstand folgte aus der Tatsache, dass sie nach dem Krieg meist bewusst die Wahl getroffen hatten, in der sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, als dem vermeintlich in die Zukunft weisenden, besseren Teil Deutschlands Fuß zu fassen.
Andererseits herrschte in Deutschland seit der Zeit der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert die Auffassung vor, ein Jude sei ein Deutscher jüdischer Konfession. Wer sich vom jüdischen Glauben abwandte, weil er Christ oder Atheist wurde, war nach dieser Auffassung kein Jude mehr. Wer in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg meinte, es gebe auch nichtreligiöse Jüdinnen und Juden, wurde in diesem Sinne nazistischer, antisemitischer oder zionistischer Haltung verdächtigt. Doch diese Einschätzung traf nicht den realen Sachverhalt. Denn in Osteuropa unterschied sich die Auffassung, wer ein Jude sei, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gravierend von der in Westeuropa. Auch das Selbstverständnis der Mehrheit osteuropäischer Juden war anders als in Westeuropa. Das wird am Beispiel der Sowjetunion deutlich sichtbar. Wenn in der Sowjetunion in die Pässe jüdischer Bürger ein „J“ gestempelt war, galt das nicht dem religiösen Bekenntnis, sondern der Nationalität. Im leichtfertigen Analogieschluss zu dem „J“ bei den Nazis wird diese Tatsache oft heute noch als antisemitisch bewertet, als eine bewusste Stigmatisierung jüdischer Menschen. Dabei wird aber ignoriert, dass es eine solche Kennzeichnung im Pass in der Sowjetunion für jede Nationalität gegeben hat, etwa ein „R“ für Russe, ein „U“ für Ukrainer oder ein „T“ für Turkmene. Diese Vorgehensweise stammte noch aus der Zeit von Lenin Anfang der 1920er-Jahre und sollte ursprünglich sicherstellen, dass neben den großen auch kleine Völkerschaften der Sowjetunion volle Rechte nationaler Minderheiten erhalten, im Gegensatz zur Situation im Zarenreich, wo es üblich war, Volksgruppen abwertend als rein religiöse Gemeinschaften oder Sekten zu betrachten und ihnen deshalb Rechte auf die eigene Sprache und Kultur zu verweigern.
Die in der Sowjetunion zumindest in „guten“ Zeiten herrschende Selbstverständlichkeit, Jüdinnen und Juden als eine Volksgruppe mit eigener Sprache und Kultur zu betrachten, war in der DDR nie üblich. In Kreisen von Nichtjüdinnen und -juden, aber auch aus Deutschland stammender Juden, neigte man eher dazu, Judentum ausschließlich als eine Religion zu sehen, vermied aber öffentliche Diskussionen zu diesem Thema. Die Besonderheit der Jüdinnen und Juden in der DDR bestand aber gerade darin, dass selbst diejenigen, die sich als Juden betrachteten, meist ungläubig waren. Es wurde von ihnen auch nicht als ein Widerspruch empfunden, zugleich Mitglied der SED und einer Jüdischen Gemeinde zu sein. Jüdische Gemeinden galten in der DDR folglich nie im strengen Sinne als Religionsgemeinden. Taufe der Kinder oder Teilnahme an christlichen Ritualen waren für SED-Mitglieder ein strenges Tabu. Wenn dagegen zu jüdischen Feiertagen in Synagogen jüdische Rituale zelebriert wurden, galten sie ihren Teilnehmern mehrheitlich nicht als religiöse Handlungen, sondern lediglich als Traditionspflege. Die Mitgliedschaft von SED-Mitgliedern in den Jüdischen Gemeinden wurde, zumindest seit Ende der 1950er Jahre, toleriert, im Wissen, dass sie Atheisten, meist linientreue Marxisten und verlässliche Staatsbürger und -bürgerinnen waren. Erst in den letzten Jahren der DDR gab es bei einer Handvoll Jüdinnen und Juden eine vorsichtige Rückbesinnung auf die Religion und die jüdische Tradition.
Wichtig ist es auch zu wissen, von welch großem Kreis man spricht, wenn von Jüdischen Gemeinden der DDR die Rede ist. Im Jahre 1946 waren auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone 4.500 Personen in den Jüdischen Gemeinden eingeschrieben, 1990 betrug die Gesamtzahl der Mitglieder Jüdischer Gemeinden in der DDR etwa 400. Erheblich größer war die Anzahl von Personen mit jüdischen Wurzeln außerhalb der Gemeinden, zu denen auch ich gehörte.
Staatliche Fürsorge für ehemals „rassisch Verfolgte“
Bei aller politischen Distanz zum diktatorischen Einparteiensystem der DDR, die ich im Jahr 1977 nach einem Jahr Haft wegen „Staatsverleumdung“ verlassen hatte: Den Vorwurf antisemitischer Behandlung jüdischer Bürgerinnen und Bürger kann ich diesem Staat nicht machen. Weil ich 1944 in Frankreich in einer jüdischen Familie im Versteck geboren wurde, war ich ganz im Gegenteil selbst Ziel der Fürsorge und der materiellen Hilfe seitens der DDR-Behörden für die Überlebenden des Holocaust. Ich liste hier kurz die Vorteile auf, die ich in der DDR als Jude und deshalb anerkannter Verfolgter des Naziregimes (VdN) gegenüber der sonstigen Bevölkerung hatte:
Stipendium bereits als Oberschüler (Gymnasiast), später Zusatzstipendium während des Studiums
Halbwaisenrente im Fall des Ablebens eines Elternteils (meine Mutter verstarb, als ich 2 Jahre alt war)
Teilrente in Höhe von 280 Mark, zusätzlich zum Gehalt, seit meinem 26. Lebensjahr
Die feste Perspektive einer hohen Zusatzrente (VdN-Rente) ab dem 60.Lebensjahr (ab 1988 1.400 Mark monatlich)
Regelmäßige medizinische und psychologische Sonderbetreuung durch besondere VdN-Ärzte
Die von meinem Vater oft genutzte Möglichkeit von kostenlosen Urlaubsaufenthalten und Kuren in VdN-Heimen und VdN-Sanatorien
Sonderkontingent für Wohnungen und deshalb keine Wartezeit auf eine Wohnung
Sonderkontingent für PKWs und deshalb eine verkürzte Wartezeit auf einen PKW
Verkürzte Wartezeit auf einen Telefonanschluss
Kündigungsschutz für jüdische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Wer das Leben in der DDR mit allen seinen materiellen Beschränkungen, insbesondere der etwa zehnjährigen Wartezeit auf eine Wohnung oder ein Auto und keinem Anrecht auf ein Telefon, selbst erlebt hat, kann den hohen Wert der letztgenannten Vorteile, neben den Geldzuwendungen, sehr wohl einschätzen. Sie waren öffentlich nicht bekannt, weil sie sonst bei der übrigen Bevölkerung vermutlich Neidgefühle geweckt hätten. Diese Vorteile wurden allen Überlebenden des Holocaust gewährt, also nicht nur den etwa 400 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinden der DDR, sondern der etwa zehnfachen Anzahl von Personen. Neben der VdN-Rente für die in der Nazizeit „rassisch“ Verfolgten, zuletzt in Höhe von 1.400 Mark, gab es die „Ehrenpension für Kämpfer gegen den Faschismus“ in Höhe von zuletzt 1.700 Mark monatlich. Genaueres zu den beiden Renten, die im Laufe der Jahre erhöht wurden, ist in der einschlägigen Literatur zu finden. Hier einige Zahlen aus Internet-Quellen.
Um die Höhe der Zusatzrenten richtig einschätzen zu können, sollten sie mit der Einkommenssituation in der DDR verglichen werden. Das durchschnittliche Bruttogehalt entwickelte sich in der DDR wie folgt:
Dabei betrug 1960 die durchschnittliche Altersrente in der DDR 148 Mark, im Jahr 1987 377 Mark. Die genannten Zuwendungen und Vorteile konnte man allerdings als Überlebender des Holocausts nur dann genießen, wenn man sich nicht politisch von dem Staat abwandte. Da aber die meisten in der DDR lebenden Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg Ostdeutschland als den vermeintlich „besseren Teil“ Deutschlands selbst gewählt hatten und die „unsicheren Kantonisten“ bis 1961 die Möglichkeit hatten, die DDR zu verlassen, muss davon ausgegangen werden, dass Fälle des Entzugs des Verfolgtenstatus aus politischen Gründen selten gewesen sein müssen, obwohl, und dafür bin ich selbst ein Beispiel, sich manche Kinder jüdischer Kommunisten und Kommunistinnen in der DDR desillusioniert von den Anschauungen ihrer Eltern abwandten.
Wurden in der DDR „rassisch Verfolgte“ gegenüber „Kämpfern gegen den Faschismus“ benachteiligt? An diesen Vergleichszahlen kann man die materielle Privilegierung von anerkannten Verfolgten des Naziregimes, besonders aber von „Kämpfern gegen den Faschismus“, in der DDR deutlich erkennen. Letztere erhielten eine höhere „Ehrenpension“. Doch aus dieser, dem Selbstverständnis der DDR als „antifaschistischer Staat“ folgenden Differenz von 300 Mark monatlich (in früheren Jahren 200 Mark) eine grundsätzliche Benachteiligung der Jüdinnen und Juden zu konstruieren, ist eine Haarspalterei, bedenkt man, dass ein nicht unerheblicher Teil jener kommunistischen „Kämpfer gegen den Faschismus“ zugleich Juden gewesen sind, so auch mein Vater und zahlreiche seiner Freunde und Bekannten. Wohl kann man das Privileg der „Kämpfer“ grundsätzlich kritisieren, es vielleicht als Korruption betrachten, ihm aber nicht eine antisemitische Intention unterstellen.
Die Differenzierung zwischen „Kämpfern gegen den Faschismus“ und „rassisch Verfolgten“, die heute von manchen Zeithistorikern oder Publizisten als antisemitisch betrachtet wird, war ganz im Sinne der meisten jüdischen Kommunisten, für die die Haltung meines Vaters symptomatisch war. Er war bis zum Reichstagsbrand im März 1933 in der Berliner KPD als Agitator und Vertreiber marxistischer Literatur tätig. Die seit Januar 1933 in Deutschland herrschenden Nationalsozialisten nahmen den Reichstagsbrand zum Anlass, sich der kommunistischen Widersacher zu entledigen. Es kam zu Massenverhaftungen von exponierten KPD-Mitgliedern. Auch meinem Vater drohte damals die Verhaftung, weswegen er aus Deutschland nach Belgien floh. Seinen Kindern, Freunden und Bekannten erzählte er später, er sei nicht als Jude aus Deutschland geflohen, sondern als Kommunist und Gegner der Nazis. Diese Differenzierung war für ihn sehr wichtig, denn sie entsprach der Unterscheidung zwischen einem Opfer und einem Kämpfer. An einem Opfer haftete der Geruch der Passivität und des Versagens, und diesen Makel wiesen die jüdischen Kommunisten energisch von sich. Sie betrachteten sich selbst als Angehörige einer Elite, deren Leistungen im Kampf gegen den Faschismus besonders zu honorieren seien und die zudem aufgrund ihrer höheren Moral selbstverständlich befugt war, die einstmals der nazistischen Demagogie verfallene Masse des deutschen Volkes zu erziehen. Dass sich angesichts des schmeichelhaften Ruhms, als „Kämpfer gegen den Faschismus“ geehrt zu werden, und der daraus folgenden materiellen Vorteile viele kleine Lichter zu Helden des antifaschistischen Widerstandes stilisierten, ist menschlich verständlich.
War die antiisraelische Haltung der Machthaber der DDR antisemitisch?
Ein unrühmliches Blatt der DDR-Geschichte ist natürlich die Haltung zu Israel. Bedenkt man aber, dass die aggressive antiisraelische und undifferenziert araberfreundliche Rhetorik, derer sich die SED und die Medien in der DDR bedienten, in Moskau produziert wurde und sowjetischen Großmachtambitionen diente, wird sie zwar nicht entschuldbar, aber zumindest plausibel. Die SED und die Staatsmacht der DDR waren jedoch streng darauf bedacht, zwischen Israel und Juden zu unterscheiden, weshalb die antiisraelische Haltung der DDR und besonders die Militärhilfe an die arabischen Nachbarstaaten Israels wohl als unverantwortlich, in ihrer Intention aber kaum als judenfeindlich zu deuten ist. Man muss bedenken, dass die antizionistische Haltung schon vor der Nazizeit unter kommunistisch orientierten Juden gang und gäbe gewesen ist. Denn die zionistische Konzeption eines jüdischen Staates in Palästina wurde von den internationalistisch gesinnten Marxisten als ein nationalistisches Konstrukt verworfen und scharf bekämpft. Diese radikal antizionistische Haltung war aber mit strikter Ablehnung der Judenfeindschaft und der Diskriminierung von Jüdinnen und Juden verbunden, weswegen sie nicht als antisemitisch zu bewerten ist, ebenso wenig wie die grundsätzliche, zuweilen militante Ablehnung jeder Religion, einschließlich der jüdischen, durch die Kommunisten.
Die Frage drängt sich aber auf, ob die durchaus diskussionswürdige Ablehnung des Zionismus in der Zeit vor der Nazizeit und vor der Gründung des Staates Israel gleich zu bewerten ist mit der Ablehnung Israels, nachdem Millionen Juden aus Europa und dem Nahen Osten in diesem Staat Zuflucht vor Verfolgung und Massenmord gefunden hatten. Nach der Entstehung Israels hat sich die Einschätzung des Antizionismus geändert. Gemäß der heute geltenden Definition des Antisemitismus und dem moralischen Mindeststandard, ist eine unverhältnismäßig negative Bewertung Israels, verbunden mit Forderungen an Israel, die an keinen anderen Staat der Welt erhoben werden, so etwa der, das Leben der eigenen Bürgerinnen und Bürger nicht vor Terroranschlägen seitens palästinensischer Extremisten schützen zu dürfen, als antisemitisch zu bewerten- und demzufolge auch die antiisraelische Haltung der DDR.
Die antiisraelische Propaganda war in der DDR mit einer den Bürgerinnen und Bürgern auferlegten Pflicht verbunden, sich zu ihr öffentlich zu bekennen, was in Betrieben, Institutionen und Bildungseinrichtungen in besonderen Meetings geschah. Wer sich dem öffentlichen Bekenntnis verweigerte, konnte mit disziplinarischen Schritten, besonders innerhalb der SED, und mit negativen Folgen für seine berufliche Laufbahn rechnen. Diese Atmosphäre der Erpressung trieb viele Bürgerinnen und Bürger der DDR mit jüdischen Wurzeln, die sonst dem Staat und der kommunistischen Ideologie gegenüber loyal eingestellt waren, in tiefe Gewissenskonflikte, die sich bei manchen von ihnen in öffentlichen Bekundungen der Solidarität mit Israel entluden.
Es gab in der DDR einen traditionellen Antisemitismus
Die Judenfeindschaft im Sinne einer Diskriminierung von jüdischen Mitbürgerinnen und -bürgern war in der DDR, zumindest nach dem Tod Stalins im Jahre 1953, weder Staatsdoktrin noch Teil der Ideologie oder des politischen Systems. Sie wurde im Gegenteil schwer geahndet. Das schließt natürlich keineswegs aus, dass es bei einer ganzen Reihe von Menschen gegen Jüdinnen und Juden gerichtete antisemitische Vorurteile gegeben hat, die aber aus der deutschen, insbesondere nazistischen, Vergangenheit stammten. Nicht zuletzt deshalb scheuten sich in der DDR die meisten Menschen, die sich als Juden definierten, sich als solche zu outen. Das hatte auch gute Gründe, denn selbst kommunistisch orientierte Gegner des Antisemitismus waren von antisemitischen Klischees nicht frei. Das zeigte sich Ende der 1980er Jahre, kurz vor der Wende, ausgerechnet in Bemühungen Erich Honeckers (Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzender), jüdische Kreise in den USA DDR-freundlich zu stimmen, um dadurch, wie er meinte, eine finanzielle Unterstützung der DDR durch die USA zu erwirken.
Nazi-Verbrechen wurden in der DDR früher thematisiert als in der Bundesrepublik
In Ost- und Westdeutschland hatten sich einst ganz unterschiedliche Rituale des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und an seine Gegner etabliert. Während in der Bundesrepublik der ermordeten Jüdinnen und Juden, der Menschen mit Behinderungen, später auch der Sinti und Roma sowie der Homosexuellen als der Opfer des nazistischen Rassenwahns und des sozialdarwinistischen Menschenbildes gedacht wurde, galt in der DDR das Gedenken primär den ermordeten kommunistischen Antifaschistinnen und Antifaschisten sowie sowjetischen Kriegsgefangenen, in zweiter Linie den Juden, die in den zahlreichen antifaschistischen Gedenkstätten, wenn überhaupt, dann nur marginal erwähnt wurden. Das bedeutet aber nicht, dass die Ermordung der Jüdinnen und Juden in der DDR verschwiegen wurde. Der Vorwurf der in der DDR vermeintlich unterlassenen Aufklärung der Bevölkerung über die Nazi-Gräuel an Juden wird nach der Wende in der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit häufig erhoben. Er entspricht aber nicht meiner eigenen DDR-Erfahrung. Natürlich wurde in meiner Familie, aus verständlichen Gründen, das nationalsozialistische Massaker an Jüdinnen und Juden immer wieder thematisiert. Darüber hinaus habe ich aber diese Fakten auch in der Schule gelernt. Zudem gehörten Pflichtbesuche von ehemaligen KZs, Theaterstücken und Filmen wie „Ehe im Schatten“, „Professor Mamlock“ oder „Sterne“ über das Schicksal von (nicht-kommunistischen) Juden in der Nazizeit schon in den 1950er Jahren zum schulischen Repertoire. Die „Tagebücher der Anne Frank“ kannte seit den 1960er Jahren in der DDR jedes Kind und „Nackt unter Wölfen“ war in der Schule Pflichtliteratur. Zwar stellten sich in der DDR die Kommunisten als die wichtigsten Gegner und Opfer der Nazi-Diktatur dar, sie verschwiegen aber keineswegs den Massenmord an den Jüdinnen und Juden, auch wenn sie aus politischen und wirtschaftlichen Motiven allein die Bundesrepublik als den Nachfolgestaat des Nazireiches bezeichneten und ihr folglich die Gesamtverantwortung für die Gräuel der Nazizeit zuschoben, in moralischer wie in materieller Hinsicht.
1979, 34 Jahre nach dem Untergang des Nazireiches, wurde die bundesdeutsche Bevölkerung durch den US-amerikanischen Fernsehmehrteiler „Holocaust“ geschockt und für das Thema sensibilisiert. Ich lebte damals seit zwei Jahren in Westberlin und war von der Reaktion, die der Vierteiler auslöste, sehr überrascht, weil er mir weder neue Informationen noch ein neues Bild der Nazigräuel vermittelte. Mein Denken und meine Erfahrungswelt waren aber zum erheblichen Teil ein Produkt der DDR.
Die Aufklärung über den Nationalsozialismus hatte im Diktatursystem der DDR ihre Grenzen
Was in der DDR nicht thematisiert wurde und im Gegenteil ein striktes Tabu war, waren die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen der nationalsozialistischen Hitler-Diktatur und dem realsozialistischen DDR-Staat. Es gab sie im Einparteisystem, im Überwachungs- und Bespitzelungssystem, in paramilitärischen Kinder- und Jugendorganisationen, in der Gleichschaltung der Presse- und Kulturlandschaft, im Stil politischer Propaganda, in der Sprache. Die Liste könnte beliebig verlängert werden. Das noch in der sowjetischen Besatzungszone und später auch in der DDR verlegte Buch von Victor Klemperer, LTI (Die Sprache des Dritten Reiches), war in der DDR unter Akademikerinnen und Akademikern ein Bestseller, weil man in der von ihm präzise beschriebenen Vergewaltigung der Sprache durch die Nationalsozialisten ein Abbild der DDR-Wirklichkeit entdeckte. Deshalb konnte die Distanzierung der kommunistischen DDR-Machthaber vom Nationalsozialismus nur am Kern des Problems vorbei zielen, nämlich dem beiden Systemen immanenten, eklatanten Mangel an Bürgerrechten und demokratischen Freiheiten.
Da von SED-Ideologen gemäß kommunistischer Definition der „Faschismus“ als eine unmittelbare Folge des Kapitalismus betrachtet wurde, wurden die älteren „Werktätigen“ der DDR höchstens als in der Nazizeit „Verführte“ betrachtet und deshalb pauschal von der Schuld an Gräueln des Nazi-Regimes und von der Verantwortung für diese befreit. Allerdings wurden zunächst, unmittelbar nach dem Krieg, in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR weit mehr belastete Nazis vor Gerichten zur Verantwortung gezogen als in der Bundesrepublik. Außerdem waren, im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der DDR ehemaligen NSDAP-Mitgliedern Funktionen in hohen Positionen der Justiz, des Staats- und Sicherheitsapparates sowie in der Bildung weitgehend versperrt.
Die in der DDR-Propaganda mit tiefer Abscheu bedachte Nazi-Vergangenheit wurde einseitig dem bundesdeutschen Feind angelastet und so bei ihm „entsorgt“. Man kann der DDR deshalb den Vorwurf machen, dass junge Generationen in diesem Staat aufwuchsen, ohne zu ahnen, geschweige denn zu wissen, dass es nicht irgendwelche gesichtslosen Nazis, sondern ihre Verwandten, Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten waren, die durch ihr Schweigen, ihre Billigung oder aktive Mithilfe für die Verbrechen der Nazis zumindest mitverantwortlich waren.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurde in der DDR instrumentalisiert
Im Kontrast zu dem Verschweigen der moralischen Verantwortung auch des „einfachen Volkes“ für das Nazi-System stand in der DDR die ritualisierte Form, in welcher sich die Kommunisten als Gegner des „deutschen Faschismus“ ehren und feiern ließen, womit sie sich selbst auf Dauer die Legitimierung zum Führen des „antifaschistischen Staates“ DDR aussprachen. Der sozialdemokratische und „bürgerliche“ Widerstand wurde dagegen nur am Rande erwähnt und in seiner Bedeutung heruntergespielt. Man kann der DDR nicht ein Verschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus vorwerfen, sondern lediglich eine andere als in der Bundesrepublik übliche Gewichtung und Bewertung von Fakten, was aus der Verschiedenheit der Wertesysteme in beiden Staaten folgte.
Wenn es vor und nach der Wende auf dem Gebiet der DDR bei manchen Menschen zu einer Renaissance nazistischen Gedankenguts kam, lag das weniger an fehlender Aufklärung über den Nationalsozialismus, als vielmehr an der allgemeinen Ablehnung der als lügenhaft wahrgenommenen DDR-Propaganda. Die extrem negative Beschreibung und Bewertung der Nazizeit in Medien und Schulen der DDR wurde in Teilen der Bevölkerung als Zweckpropaganda gewertet und verlor deshalb ihre Glaubwürdigkeit. Zudem erfolgte schon in der DDR-Zeit bei zahlreichen Jugendlichen eine Hinwendung zum nationalsozialistischen Gedankengut, nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“, was durch die strukturellen Ähnlichkeiten des Nationalsozialismus und des realen Sozialismus begünstigt wurde. Zuweilen äußerte sich diese Haltung in demonstrativen Aktionen wie Hakenkreuzschmierereien oder Schändungen jüdischer Friedhöfe. Auch war seit Mitte der 1980er-Jahre, besonders in den Ostberliner Stadtteilen Marzahn und Lichtenberg, eine Skinhead-Szene präsent, die ganz offen mit Nazi-Symbolen provozierte. Etwas verkürzt formuliert kann gesagt werden, dass es in der DDR eine weitgehend unorganisierte Opposition gegen das herrschende kommunistische Regime gegeben hat, die die Zeit des Nationalsozialismus idealisierte und verherrlichte. Neben den „sozialen Errungenschaften“ vor Kriegsbeginn, etwa Autobahnbau, Wohnungsbau, „Kraft durch Freude“ und den Stolz einflößenden Großmachtambitionen des Nazireiches, wurde von den Nazi-Jüngern in der DDR der radikale Umgang der Nazis mit ihren kommunistischen Widersachern bewundert und als Vorbild angesehen. Zudem formierten sich, für die Öffentlichkeit verborgen, kontinuierlich seit dem Untergang des Nazireiches, in ostdeutschen Gefängnissen Gruppierungen von Ewiggestrigen, welche die Nazi-Traditionen an jeweils neue Generationen von Gefangenen weiterreichten und das Ziel verfolgten, nach der Entlassung aus der Haft die „nationale Bewegung“ in das Volk zu tragen.
Gibt es seit 1989/90 weniger Antisemiten in den neuen Bundesländern als in den alten? Schaut man sich die Ergebnisse der Umfragen über den Antisemitismus in Ost- und Westdeutschland an, ergibt sich ein verstörendes Bild:
Abgesehen von möglichen Inkompatibilitäten der hier aus zwei Umfragen zusammengestellten Ergebnisse, ergibt sich kurz nach der „Wende“ eindeutig eine etwa doppelt so hohe Rate antisemitischer Haltungen in den alten als in den neuen Bundesländern – und das trotz der im Osten gravierenden Fremdenfeindlichkeit. Dieses Bild wird durch das nächste Diagramm bestätigt:
Ob die vergleichsweise niedrigen Zahlen aus der Zeit unmittelbar nach der Wende als ein Erfolg der DDR-Propaganda und -Aufklärung zu bewerten sind, darf bezweifelt werden. Eher ist es wohl so, dass Jüdinnen und Juden vor der Wende in der DDR nicht als störende Fremde wahrgenommen werden konnten, weil man dort kaum einem Juden begegnete. Auch wurde man als DDR-Bürgerin oder -Bürger nicht persönlich von den deutschen Verbrechen an den Jüdinnen und Juden berührt, weil die Schuldigen für die Verbrechen nur im Westteil Deutschlands verortet wurden. In Schulen der DDR wurde nicht darauf verwiesen, dass es nicht wenige, inzwischen meist verstorbene, Angehörige der Schülerinnen und Schüler waren, die den Jüdinnen und Juden das Leid zugefügt hatten oder passive Nutznießer deren Ermordung und Vertreibung gewesen sind. Schülerinnen und Schüler in der DDR hatten folglich nicht das Problem, sich womöglich vom Verhalten eigener Verwandter distanzieren zu müssen, was heute vermutlich bei vielen jungen Leuten im Osten wie im Westen Deutschlands radikale Abwehrreaktionen auslöst. In Umfragen unter schulpflichtigen Jugendlichen in den neuen Bundesländern, die erst nach der Wende geboren wurden, ist vermutlich auch deshalb in den letzten Jahren ein rapider Anstieg antisemitischer Haltungen registriert worden, was auch das erste Diagramm zeigt.
Es ist außerdem anzunehmen, dass sich die extreme ostdeutsche Fremdenfeindlichkeit auch gegen die von „national gesinnten Deutschen“ als Fremde wahrgenommenen postsowjetischen Jüdinnen und Juden wendet, was sicherlich eines der Motive für den Anschlag von Halle gewesen ist.
Fazit
Als Überlebende des Holocaust waren Jüdinnen und Juden mindestens seit Anfang der 1960er Jahre in der DDR materiell und sozial privilegiert, sofern sie sich politisch nicht vom Staat abwandten. Sie waren als Gruppe den gleichen Repressionen seitens der Staatssicherheit ausgesetzt wie die ganze Bevölkerung. Das Misstrauen des Staates richtete sich gegen die christliche Religion mindestens ebenso stark wie gegen die jüdische. Es gab nichtjüdische wie jüdische Stasi-Spitzel. Außer in den frühen 1950er Jahren fand in der DDR eine Benachteiligung von Jüdinnen und Juden gegenüber anderen Bürgerinnen und Bürgern nicht statt. Doch auch damals fiel die juristische Verfolgung jüdischer oder mit Juden sympathisierender kommunistischer Funktionäre, die bekanntlich auf Anordnung Stalins erfolgte, in der DDR vergleichsweise mild aus; es wurden nicht, wie in der Sowjetunion, in der CSSR oder in Ungarn, Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt. Eine Instrumentalisierung antisemitischer Vorurteile für politische Zwecke ist in der DDR nach dem Tod Stalins im Jahre 1953 nicht nachweisbar, im Gegensatz etwa zu Polen, wo politische Krisen zu von der Partei und dem Staatsapparat initiierten Wellen des Antisemitismus führten, so 1956 und 1968. Die undifferenzierte, extrem antiisraelische Politik und Propaganda der DDR ist allerdings als antisemitisch einzustufen, weil sie die Vernichtung des Staates Israel und die Ermordung seiner jüdischen Bürger durch seine Widersacher in Kauf nahm. Zu Repressionen gegenüber jüdischen Bürgerinnen und Bürgern der DDR konnte sie aber nur dann führen, wenn sich diese proisraelisch äußerten. Doch solche Repressionen sind nicht als antisemitisch zu werten, weil sie sich gleichermaßen gegen jüdische wie nichtjüdische Freunde Israels richteten. Man muss sich nicht mit dem politischen System der DDR identifizieren, um die Lage der Jüdinnen und Juden in der DDR vorurteilsfrei zu betrachten. Sie war nicht so düster, wie es heute von manchen Zeithistorikerinnen und -historikern sowie Publizistinnen und Publizisten behauptet wird.
Im Jahr 1995 hat Zeitzeugen TV im Studio des Senders Fernsehen aus Berlin (FAB) aus Anlass des 50. Jahrestags der Kapitulation Nazideutschlands ein Gespräch zwischen Wolfgang Herzberg, Thomas…
Im zweiten Teil seines Debattenbeitrag widmet sich Wolfgang Herzberg den Stereotypen in Bezug auf die DDR und ihren Umgang mit jüdischen Überlebenden, zu den dortigen Auswirkungen der…
Ungewöhnliche Einblicke in das Leben in der DDR ermöglichen Neuerscheinungen über die Kinder von Stasi-Offizieren und über Eigeninitiativen, um der Wohnungsnot zu entgehen: dem "Schwarzwohnen".…
Die Lebenswirklichkeit der DDR-Bürger ist nach 1989/90 schnell verblasst. Nun widmet sich die Dauerausstellung des "Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR" in Eisenhüttenstadt den…
Warenhäuser prägten die Innenstädte in Ost und West. Der Vergleich von Bauten dieser Gattung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR für die Zeit zwischen 1949 und 1989 zeigt Einflüsse,…
Die DVD-Edition "Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur" enthält mehr als 30 Beiträge des Politikmagazins, die zur Zeit ihrer Ausstrahlung in Ost wie in West große öffentliche Aufmerksamkeit…
wurde 1944 als Sohn polnisch-jüdischer Emigranten in Valence/Frankreich geboren. Sein Vater ging 1948 nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der Antisemitismus zwang ihn 1957, Polen zu verlassen. Er übersiedelte mit der Familie in die DDR. Gabriel Berger wurde Physiker und war in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem Ende des Prager Frühlings 1968 verlor er seinen Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. Unter Berufung auf die KSZE-Schlussakte stellte er 1975 einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin, arbeitete zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den 1980er-Jahren Studium der Philosophie, Veröffentlichungen in Zeitungen und im Rundfunk. Heute als Buchautor tätig, hauptsächlich zu jüdischen Themen und mit Bezug zur DDR.
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