Schwierige Gemengelage
Ostdeutsche Eliten und die Friedliche Revolution in der Diskussion
Rainer Eckert
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Sind "Ostdeutsche" nur eine Konstruktion? Oder ein gerechtfertigter Anspruch? Ist über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Diskussion hierüber mehr als überfällig? Eine Reflexion von Rainer Eckert, dem ehemaligen Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, über Eliten, Karrieren und historische Leistungen, die mitunter immer noch im geeinten Deutschland Geringschätzung erfahren. Weil von "geeint" und Chancengleichheit noch immer nicht die Rede sein kann?
Am 30. und 31. Jahr nach der Friedlichen Revolution gegen die SED-Diktatur, dem Sturz der Berliner Mauer und dem dadurch ermöglichten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist ein erbitterter Streit darüber entstanden, wer diese Revolution auslöste und zum Sieg führte – die Bürgerrechtler oder die Masse der Ostdeutschen. Auch die Fokussierung auf die „großen Männer“ wie Michail Gorbatschow und Helmut Kohl ist immer wieder zu registrieren. Umstritten ist auch, welche Ziele die Revolution prägten, was die Bürgerrechtler und die Ostdeutschen wollten und wie es darum heute bestellt ist. Dazu kommt die Frage, ob die Berliner Mauer „fiel“ oder gestürmt wurde und verschiedentlich wird auch eine neue Verfassungsdiskussion gefordert.
Die aktuellen Debatten schließen meist heftige Auseinandersetzungen über den nach 1989/90 einsetzenden Transformationsprozess ein. Und in der Diskussion um den Begriff „des Ostdeutschen“ geht es meist darum, ob diese Konstruktion vor 1989/90 oder in der Zeit danach entstand. Zudem dreht sich der Streit immer wieder um die Treuhandanstalt, insbesondere aber auch um die Problematik der ostdeutschen Eliten. Diese Debatte ist vor allem unter Ostdeutschen entbrannt, sie ist jedoch von nationaler Bedeutung. Besorgniserregend ist, dass sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen in Ostdeutschland „fast flächendeckend“ Wut, Ablehnung, Hass und Gewalt ausbreiten.
Zudem fällt auf, dass meist im „Unterholz“ gestritten wird, wobei die „Streithähne“ sich und ihre Positionen bereits lange und gut kennen. Eine der Grundfragen ist dabei, ob es in der Revolution um das Erringen von Freiheit und die Überwindung der SED-Diktatur ging oder um einen demokratischen Sozialismus in der DDR. Aus meiner Sicht lässt sich beides jedoch durchaus vereinen.
Einigkeit herrscht in der Debatte, dass es keine eindimensionale Erklärung für Gründe, Verlauf und Ergebnisse der Revolution, der Wiedervereinigung und der Transformation gibt und geben kann. Bezogen auf den Elitenwechsel, also die vorrangige und in manchen Bereichen beinahe ausschließliche Besetzung von Führungspositionen mit Westdeutschen, überrascht, dass dieser Streit erst 30 Jahre nach dem Ende der DDR aufgebrochen ist und es so lange als selbstverständlich und nicht zu hinterfragen galt, dass in fast allen gesellschaftlichen Bereichen Altbundesdeutsche Elitepositionen geradezu automatisch besetzt haben.
Offensichtlich wird dieser Vorgang heute viel häufiger als damals als Akt der Kolonisierung angesehen, der nicht länger als unvermeidbar hingenommen werden sollte. Allerdings hält der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau den Kolonialisierungsvorwurf begrifflich für irreführend und unlauter, meint aber, dass es dafür durchaus auch Argumente gäbe. Dazu gehört, dass der Beitrittsgesellschaft ein komplettes institutionelles, politisches und rechtliches Korsett übergestülpt wurde, die „soziokulturellen Traditionsbestände der DDR“ liquidiert wurden, die Wirtschaft abgewickelt wurde und die Ostdeutschen letztendlich ihre politische Handlungsfähigkeit verloren hätten. So nimmt es nicht wunder, wenn die Meinung immer stärker wird, dass der Einfluss von Rechts- und Linkspopulisten erst dann zurückgedrängt werden kann, wenn es gelingt, diesen demütigenden Zustand zu beenden. Nur so lassen sich die kollektive Bindung der Ostdeutschen an die Verfassungsprinzipien und das Bewusstsein einer inneren Einheit langfristig stärken.
Eliten und Gegeneliten in Ostdeutschland
Zum Ersten ist nun die Frage zu stellen, wer denn überhaupt die Ostdeutschen sind. Man könnte sich darauf einigen, dass es die bis 1976 in der DDR Geborenen sind oder diejenigen, die bis Ende der 1990er Jahre hier oder in den Neuen Bundesländern geboren wurden und ihre primäre Sozialisation (bis 14 Jahre) im Osten erfuhren. Dabei ist einerseits zu beachten, dass sich die Anteile durch Wanderungsbewegungen ständig ändern und ostdeutsche Prägungen heterogener werden. Andererseits bleiben jedoch regionale ostdeutsche Erfahrungsräume erhalten – auch wenn eigene Erfahrungen von Diktatur, Friedlicher Revolution und Transformation zunehmend fehlen. Das Wohnortprinzip kann zwar aktuelle Wanderungen nicht erfassen, es ist jedoch dadurch gerechtfertigt, dass 89,5 Prozent der heutigen deutschen Eliten vor 1976 geboren wurden.
Zum Zweiten erscheint es notwendig, die Frage zu klären, was denn unter Elite überhaupt zu verstehen ist und wer zu ihr gehört. Den Angehörigen von Eliten eine besonders hohe Qualifikation, besondere Führungsqualitäten und spezifische Leistungspotenziale zuzuschreiben, wird schnell Zustimmung finden. Es existiert allerdings die weitverbreitete Meinung, dass sich Eliten vor allem aus abgehobenen Akteuren rekrutieren, die egoistische Interessen verfolgen. Es existiert auch die Theorie, dass sich die jeweiligen Eliten in einem Auswahlprozess den übrigen Mitgliedern eines sozialen Systems als überlegen erwiesen hätten. Dabei unterscheiden sie sich in Werte-, Leitungs-, Selbst- und Fremdeinschätzungs-, Positions- sowie Machteliten. Stark durchgesetzt hat sich das Konzept der Funktionselite, deren Vertreter die für ein funktionierendes Sozialsystem charakteristischen Prozesse entscheidend beeinflussen und dadurch den anderen Mitgliedern des Systems überlegen sind.
Eliten übernehmen also auf unterschiedlichen Ebenen von Staat, Gesellschaft, Politik und Kultur wichtige Leitungsfunktionen. Das gilt grundsätzlich auch für die Eliten, die Nomenklaturkader innerhalb der SED-Diktatur, die sich jedoch durch einige besondere Merkmale auszeichneten. Zuerst fällt hier natürlich die eindeutige Dominanz der Angehörigen der Staatspartei auf. Wer nicht Mitglied der SED war, dem war ein beruflicher Aufstieg in Leitungspositionen unmöglich oder zumindest äußert erschwert. Ausnahme waren hier nur die Positionen, die die Blockparteien zu vergeben hatten, die sich allerdings mehr oder weniger der SED unterordneten, Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie herausragende Wissenschaftler-, Künstler- und Sportlerpersönlichkeiten. Für Führungskräfte innerhalb der Diktatur war typisch, dass sie sich als „Kader“ in verschiedene Nomenklaturen einordneten und dass sie 1989/90 meist stark überaltert waren. Kritische Gegenkräfte, also Gegeneliten zur SED gab es kaum. Im Zweifelsfall war hier politische Zuverlässigkeit wichtiger als fachliche Eignung, zwar gab es eine Doppelstruktur von Staatspartei und staatlichen Verwaltungen, in der die SED-Instanzen jedoch in der Regel immer dominierten. Für ihre Mitglieder war „absolute Parteiergebenheit“ verpflichtend.
Die wenigen Reformer, die meist nur von den Insidern innerhalb der SED wahrgenommen wurden, waren besonders um das sogenannte „Sozialismusprojekt“ an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und in der Akademie der Wissenschaften konzentriert. Im Kern zielten diese überwiegend jüngeren SED-Wissenschaftler auf die Sicherung und Rettung der „führenden Rolle“ der Staatspartei mit veränderten Mitteln. Sie hofften auf die „biologische Lösung“, das Abtreten der bisherigen Führungsgilde der SED aus Altersgründen, und boten sich gleichzeitig als Kraft gegen die systemkritische Bürgerbewegung an.
Die eigentliche Gegenelite in der DDR waren die Akteure und Akteurinnen der Bürgerbewegung und besonders die Revolutionäre und Revolutionärinnen der Jahre 1989/90, die in einem kurzfristigen Zusammenschluss mit einem Teil der Bevölkerung gemeinsam handelten, sich dann aber bald damit konfrontiert sahen, dass ihre Ideen, Wünsche und Ziele mit der Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen waren. Die meisten Oppositionellen zielten wohl auf Reformen des Realsozialismus, ohne immer konkret sagen zu können, worin diese bestünden, andere hatten – wie die Dissidenten in Ostmitteleuropa – die Errichtung einer Zivilgesellschaft zum Ziel. Bürgerrechtler und Demonstranten einte, dass ihr Freiheitswille stärker war als die Angst vor Repressionen, ja sogar vor bewaffneter Gewalt. Insbesondere sie waren es, die Presse-, Reise- und Versammlungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte einforderten. Es waren Forderungen, deren Realisierung in der heutigen Bundesrepublik selbstverständlich war, die aber in der DDR das Ende der kommunistischen Diktatur bedeutet hätten. Gleichzeitig ist es wichtig, immer zu bedenken, dass durch die Gesellschaft der DDR nicht nur ein, sondern mehrere Risse hindurchgingen.
Sehr aufschlussreich ist es, sich vor Augen zu halten, wie groß die Zahl aktiver Bürgerrechtler und Oppositioneller war, die sich im Vorfeld der Revolution aktiv gegen die Diktatur stellten. Die Staatssicherheit selbst ging von circa 2.500 Menschen aus, davon etwa 600 Personen in Führungsgremien und einem „harten Kern“ von etwa 60 „unbelehrbare[n] Feinde[n] des Sozialismus“. Auch wenn die Geheimpolizei sicher nicht jeden erkannte, kann man von einem Personenkreis von nicht mehr als 5.000 Menschen ausgehen. Im Herbst 1989 fanden diese dann in einem glücklichen Moment der Geschichte mit einigen Hunderttausend Ostdeutschen zusammen, die dazu bereit waren, sich auf den Straßen, an „Runden Tischen“ und vielen anderen Orten beziehungsweise Gelegenheiten gegen die Herrschaft der Staatspartei, ihrer Verbündeten und ihrer Geheimpolizei zu stellen. Insgesamt war das etwa eine Zahl von einer Million Menschen, aber nie die Mehrheit der Ostdeutschen, wie in letzter Zeit immer wieder behauptet wird. So trafen besonders der Soziologe Detlef Pollack und der Publizist Klaus Wolfram, beides Ostdeutsche, mit entsprechenden Äußerungen auf heftigen Widerspruch.
Pollack vertritt die These, nicht die Opposition, sondern die Ostdeutschen hätten 1989 die Revolution „gemacht“. Wolfram bezieht sich auf das „Neue Forum“ und seiner Symbolfigur Bärbel Bohley und meint, der „Tanzpunkt der ostdeutschen Demokratie“ wäre bis Ende 1993 (dem Streik der Kalikumpel in Bischofferode) der Dialog, die „Generalaussprache“ zwischen den verschiedenen politischen Strömungen, die Basisdemokratie der eigenen Bewegungen und ihre Gewaltlosigkeit gewesen. Darüber könnte man noch streiten, fragwürdig ist jedoch, warum Wolfram alle anderen revolutionären Kräfte und Gruppen genauso unerwähnt lässt wie den 9. Oktober 1989, den Tag der Entscheidung in Leipzig. Empirisch nicht zu belegen ist auch seine Auffassung, dass sich die DDR-Bevölkerung vierteln ließe: in aktive Unterstützer des sozialistischen Versuchs, in passive Sympathisanten, ihn passiv Ablehnende und in ein weiteres Viertel von Menschen, die das System mehr oder weniger aktiv ablehnten.
Ursächlich für das revolutionäre Geschehen 1989 hält er die soziale Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit der Bürger der DDR und die daraus entstandene Eigendynamik, die sich mit dem „Mauerfall“ „ruckartig“ änderte. Die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 sei dann der „Moment der tiefsten Erniedrigung der Reformperspektive“ gewesen. Richtig dagegen ist, dass im Herbst 1989 „das Volk“ überwiegend „hinter der Gardine“ stand und Hunderttausende weiterhin der Diktatur anhingen. Das änderte sich dann mit dem Sturz der Mauer, als Millionen in den Westen strömten und nach ihrer Rückkehr für eine Reform des Realsozialismus nicht mehr zu begeistern waren. Das ging so weit, dass auch die Ausarbeitung einer neuen eigenen Verfassung kaum noch Interesse fand und diese im Entwurfsstadium verharrte. Dagegen überzeugt Wolfram mit seiner Auffassung, dass die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung einer wahren Welle der Entmündigung und Belehrung ausgesetzt waren. Hier gilt es allerdings, die Frage zu beantworten, warum dies nicht für alle zutrifft und warum sich viele als Bürger einer nunmehr liberalen und offenen Gesellschaft nicht stärker dagegen wehrten.
Elitenaustausch
Die Friedliche Revolution warf auch – zuerst vereinzelt, dann immer häufiger – die Frage nach dem Austausch der Eliten auf. Klar war, dass in vielen Bereichen die „Nomenklaturkader“ der SED und ihre Unterstützer ihre Machtpositionen verlieren würden. Noch mehr galt das für diejenigen, die offiziell oder inoffiziell für die Geheimpolizei, die Staatssicherheit, gearbeitet hatten. Je nach Definition handelte es sich dabei um Zehntausende, ja um Hunderttausende Menschen. Wenn bei den staatstreuen „Eliten“ auch untere Führungspositionen einberechnet werden, kumuliert sich diese Zahl bis auf circa eine Million Menschen. Letztlich handelte es sich um fast die gesamte ostdeutsche Funktionärs- und Dienstklasse. Überraschend fühlte sich durch ihr Ausscheiden nicht nur diese und die ihnen Nahestehenden „gedemütigt“.
Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass ein Teil dieser „Kader“ Leute in der Immobilien-, Versicherungs-, Wachschutz- und Finanzbranche Karriere machten. Die alte Macht war weg. Trotzdem glaubten viele Ostdeutsche, die weder in der DDR noch in der Bundesrepublik eine Chance erhielten, dass viele Funktionäre der SED-Diktatur immer noch Macht besäßen beziehungsweise inzwischen sogar die gesamte Bundesrepublik beherrschten. Dagegen war argumentativ nicht leicht anzukommen, weil jeder von einem Nomenklaturkader wusste, der beispielsweise einen Autosalon gegründet hatte oder einen Posten im Arbeitsamt bekleidete. Nach einer neuen Studie waren dagegen die Systemgegner, besonders die Revolutionäre des Herbstes 1989, und die „Stillen im Land“ nach der Wiedervereinigung im Durchschnitt beruflich erfolgreich. Das wäre dann auch nur zu begrüßen.
Zwangsläufig gehörte die Frage auf die Tagesordnung, wer an die Stelle der Funktionäre hätte treten sollen. Die Revolutionäre fragten danach nicht und eine nennenswerte öffentliche Diskussion zu diesem Thema fand ebenso nicht statt. Das entstandene „Elitenvakuum“ wurde relativ schnell und von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen gefüllt. Maßgeblich war dabei auch, dass das Personal dafür in der Altbundesrepublik in ausreichendem Umfang zur Verfügung stand. Als problematisch erwies sich allerdings, dass auch viele Personen aus der dritten Reihe die Chance nutzten, um im Osten Posten zu „ergattern“, und nicht selten solche, die sie im Westen nie hätten bekleiden können. Tatsächlich fand in Ostdeutschland der größte Austausch von Führungskräften statt, den eine Gesellschaft zu Friedenszeiten in Europa je erlebte. Dabei wurden fast ausschließlich Kriterien angewandt, die im Westen lange üblich und anerkannt waren. Ostdeutsche konnten dem im Allgemeinen und im Besonderen häufig nicht genügen.
Solche Probleme anzusprechen, heißt natürlich nicht, die Arbeit vieler Aufbauhelfer abzuwerten, ein Standpunkt, den auch die ehemalige sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping vertritt. Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass mit einem solch massenhaften „Elitenimport“ die Ostdeutschen auf die „unteren Ränge der gesamtdeutschen Gesellschaftshierarchie“ verwiesen wurden. Diese Überschichtung war trotz des zeitgleichen Wohlstandsgewinns für einen Großteil der Ostdeutschen mit massiven Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen verbunden. Die sehr wichtig gewesene Erfahrung „einer kollektiven Aufwärtsbewegung breiter gesellschaftlicher Schichten“ blieb so vollständig aus. Schließlich steht heute eine Minderheit, die Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Gewinn betrachtet, einer Mehrheit gegenüber, die sich in der DDR einigermaßen eingerichtet hatte und sich damals wie heute widerspruchsbereit, nörgelnd und opportunistisch verhält.
Für die Mehrheit im Osten ist Gerechtigkeit entscheidend, Freiheit wird hingenommen, auch verachtet. Typisch für diesen Prozess war auch, dass je einflussreicher und bedeutsamer, aber auch je besser bezahlt ein Posten war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er von einem Westdeutschen besetzt wurde. Altbundesdeutsche waren damit in aller Regel nicht Gleiche unter Gleichen, sondern von vornherein Vorgesetzte. Es waren vor allem Westmänner, die mit den Gepflogenheiten im Osten – beispielsweise mit dem frühen Aufstehen und Arbeitsbeginn – nicht vertraut waren und mit geografischer Mobilität einen Statusgewinn erzielen wollten. Viele von ihnen hatten – wie bereits erwähnt – in der alten Bundesrepublik kaum noch Aufstiegschancen. Dieser Negativeindruck wurde durch die sogenannte „Buschprämie“ noch verstärkt, die quasi eine doppelte Einkommensstruktur erzeugte. Zudem waren die Ostgehälter (teilweise bis heute) erheblich niedriger als die im Westen. Und schließlich verschärfte die Situation, dass viele der „Aufbauhelfer“ bei der ersten sich ihnen bietenden Gelegenheit auf eine adäquate Anstellung in den Westen, also ins „richtige Deutschland“, zurückkehrten. Ihren Posten übernahmen dann erneut Westdeutsche. Das verstärkte den ostdeutschen Unmut immer weiter.
Die Nomenklaturkader der SED mussten sich 1989/90 einigen zentralen Fragen stellen, die seit jeher die Elitenforschung beschäftigt: Wie bilden sich Eliten? Wie offen sind sie? Gibt es Mechanismen sozialer Selbstrekrutierung? Oder ist die individuelle Leistung für den sozialen Aufstieg entscheidend? Handelte es sich hier um Machteliten, die sich als Clique abgesondert hatten, um die eigene Herrschaft zu sichern? Wie verhielten sich die Nomenklaturkader der DDR gegenüber denjenigen, die der Diktatur ablehnend oder kritisch gegenüberstanden? Aus der Beantwortung all dieser Fragen war zu schlussfolgern, dass die Führungskräfte der Diktatur nach Revolution und Wiedervereinigung zwangsläufig ausgetauscht werden mussten und dass sich daraus die Notwendigkeit eines Transfers aus dem Westen ergab.
Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler als neue Elite?
Naheliegend wäre es ab 1990 „natürlich“ gewesen, wenn profilierte Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen die Macht übernommen oder dies zumindest versucht hätten. So sympathisch dieser Gedanke heute auch sein mag, so wenig hatte er damals mit der Realität zu tun. Das Ergreifen der Macht muss immer mit einem starken Willen verbunden sein, die bisher Herrschenden zu verdrängen, um eigene politische und gesellschaftliche Ziele umzusetzen und die errungenen Positionen zu behaupten. Eine Mehrheit der Oppositionellen setzte jedoch auf Reform, Dialog und Demokratisierung. Schließlich vertrat sie bei geöffneter Grenze noch weniger als zuvor die Mehrheitsmeinung und hatte deshalb keine Möglichkeit, die jetzt auftretenden gesellschaftlichen Spaltungen zu heilen.
Jetzt erwies sich auch die geringe Zahl der Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und zu den zu besetzenden Führungspositionen als Problem. Und so musste es, um zu verhindern, dass die Kader von Geheimpolizei und Staatspartei erneut Machtpositionen einnehmen, eine andere Lösung geben. Die Dringlichkeit einer solchen Lösung verstärkte sich dadurch, dass die akademische und mediale Intelligenz der DDR mehr und mehr abgewickelt wurde. Bei einer nicht geringen Zahl von Menschen hätten jedoch auch andere Formen des beruflichen Übergangs in die vereinte Bundesrepublik gefunden werden können. Das war dann oft nur schwer möglich, weil spätestens nach der „Übernahme“ Ostdeutschlands durch die Altbundesrepublik, deren Qualifizierungskriterien für die Besetzung von Führungspositionen verbindlich wurden und dies auch blieben. Für die Oppositionellen – bis auf wenige wie Theologen und Naturwissenschaftler – verhinderte dies einen beruflichen Aufstieg. Nun rächte sich, dass Kritiker der Diktatur ihre Opposition oft damit bezahlten, dass sie ihren Lebensunterhalt auf kirchlichen Friedhöfen und in aufopfernder Tätigkeit in Pflegeheimen verdienen mussten. Nur einigen bot sich die Möglichkeit, über Wahlen in Ostdeutschland in wichtige Positionen zu gelangen, andere arbeiteten auf dem Feld der Auseinandersetzung mit der gestürzten Diktatur und der Erinnerung an ihre Opfer.
Insgesamt gelang es den Bürgerrechtlern und Bürgerrechtlerinnen nicht, Vorbildfunktion zumindest für die Ostdeutschen oder gar für alle Deutschen zu übernehmen. Die Zeit-Journalistin Anne Hähnig sieht die Gründe dafür darin, dass sie die kleinbürgerliche Gesellschaft verachteten, das heißt, das eigene Volk nicht verstanden und zum Beispiel dessen Sehnsucht nach westlichen Lebensverhältnissen ablehnten. Dabei bezieht sie sich auf Kowalczuks Auffassung, dass in der Revolution der Nachbar, der zur Anpassung zwang, das größte Problem gewesen sei. Daher gab es auch keine „Generalaussprache Ost“ zwischen den Fügsamen und den Widerständigen.
Weiter meint Hähnig, dass nicht die Macht der westdeutschen „Aufbauhelfer“ und ihre „Buschprämien“ das eigentliche Problem war, sondern dass sich beispielsweise ostdeutsche Unternehmer „kapitalistischer“ als die westdeutschen aufgeführt und Parlamentarier schnellstens die Werte und Selbstverständlichkeiten des Westens übernommen hätten. Der Soziologe Lars Vogel erkannte, dass Ostdeutsche auf Führungspositionen keine Garantie für die Vertretung ostdeutscher Interessen seien. Nach Ansicht der Zeit-Redakteurin fehlt eine „mitfühlende Elite“ im Osten noch heute. Die „Neuen Bundesländer“ müssen endlich eine Elite hervorbringen, die Lobbyist der eigenen Gruppe sei und nicht auf die „breite Masse“ herabblicke. Die Notwendigkeit, der westlichen Konstruktion „des Ostdeutschen“ entgegenzutreten, teilt Hähnig, fügt aber hinzu, dass die Ostdeutschen dieses Problem schon selbst angehen müssten.
Offen bleibt, wie dies aus der Lage des Unterprivilegierten heraus geschehen und wie gegen die im Westen herrschende Meinung angegangen werden kann, dass sich eigentlich nichts zu ändern braucht. Ebenso fragwürdig ist Hähnigs Vorwurf, die Ostdeutschen hätten es versäumt, „belastbare eigene Netzwerke“ zu schaffen. Denn wie hätte dies aus der geschilderten Situation heraus, nach Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung, geschehen sollen? Schließlich, so merkt sie selbst an, waren die einzigen erfolgreichen Revolutionäre Deutschlands schon zu Lebzeiten fast vergessen, man ließ sie nicht zu „Helden“ werden. Die Bürgerrechtler waren ganz einfach eine Provokation, sie zeigten ihren Landsleuten, dass man auch anders leben konnte als es die Mehrheit tat. Und so bleibt die Aufgabe, den Riss zwischen den Befreiern und den Befreiten zu kitten. Fraglich ist jedoch, ob es dazu nicht bereits zu spät ist. Die Selbstbehauptung des Ostens gegenüber dem Westen wird als Aufgabe allerdings bestehen bleiben – die Lösung dieses Problems ist Sache der nachgerückten Generation und der noch folgenden.
Ostdeutsche in Spitzenpositionen
Dabei wird künftig zu beachten sein, dass es bei der Besetzung von Elitepositionen durch Ostdeutsche allerdings die Ausnahme der „großen Vier“ gab: ein Vorsitzender einer gesamtdeutschen Volkspartei, ein Bundestagspräsident, ein Bundespräsident und eine 16 Jahre lang amtierende Bundeskanzlerin. Unter ihnen waren Matthias Platzeck, Wolfgang Thierse und Joachim Gauck als Ostdeutsche erkennbar, Angela Merkel war es zumindest in den ersten Jahren ihrer Kanzlerschaft nicht und erst gegen Ende ihrer Kanzlerschaft ging sie von sich aus mehrfach öffentlich auf ihre Ostsozialisation ein, besonders betont am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2021 in Halle. Dazu kamen noch einige ostdeutsche Ministerpräsidenten, jeweils ein Ostdeutscher in den verschiedenen Bundeskabinetten, die erwähnten führenden Persönlichkeiten in Einrichtungen der politischen Bildung und „Aufarbeitung“ wie der Bundeszentrale für politische Bildung, der Heinrich-Böll-Stiftung, der Bundesstiftung Aufarbeitung, den Berliner Festspielen, dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und die Bundes- beziehungsweise Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Angesichts der Vielzahl der zu besetzenden Positionen war dies jedoch eine verschwindende Minderheit. Trotzdem wurde – besonders bezogen auf Merkel und Gauck – in den Medien fast schon der Eindruck erweckt, Deutschland werde jetzt „vom Osten regiert“. Noch gravierender war, dass jeder, der anmahnte, Ostdeutsche müssten entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in Leitungsfunktionen vertreten sein, mit Hinweis auf diese wenigen Spitzenpolitiker „abgebügelt“ wurde. Oft wurde „hinterlistig“ gefragt, ob man eine „Ostquote“ im Sinne habe. Das wollten viele – darunter auch ich – nicht, vielleicht war dies jedoch ein Irrtum. So sind die wenigen aufgestiegenen Ostdeutschen in der Regel solche, die sich rasch anpassten und kaum „Ostbefindlichkeiten“ vertraten. Besonders interessant ist ein Blick auf die Verwaltungsspitzen im Osten. Hier waren laut einer Studie von 2016 von 109 Abteilungsleitern in Bundesministerien unter Angela Merkel nur vier Ostdeutsche.
Insgesamt besetzen nur 25 bis 35 Prozent der Ostdeutschen (nach Herkunft definiert) in den „Neuen Bundesländern“ Führungspositionen in Gewerkschaften, Justiz, Kultur, Medien, Militär, Religion, Sicherheit, Verbänden, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, in manchem Bereich – wie beim Militär – liegt der Wert bei null Prozent. Berechnet auf die gesamte Bundesrepublik beträgt der Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen knapp über zehn Prozent. Die Studie von Michael Bluhm und Olaf Jacobs geht von 23 Prozent Ostdeutscher in Führungspositionen aus, eine Zahl, die seit 2004 noch weiter abgeschmolzen ist. Das gilt, obwohl der Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen in den fünf ostdeutschen Bundesländern 87 Prozent beträgt und nur in einigen Bereichen deuten sich langsame Veränderungen an. Petra Köpping verweist besonders auf die „Unterrepräsentanz“ von Ostdeutschen in „zentralen Führungspositionen“ innerhalb der gesamten Bundesrepublik, die nach ihren Zahlen nur 1,7 Prozent bei 17 Prozent Bevölkerungsanteil beträgt. Darüber hinaus verweist Kowalczuk auf eine vom Magazin Cicero veröffentlichte Liste der „500 wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen“ unter denen nur knapp fünf Prozent Ostdeutsche zu finden sind. Dazu gehören der Philosoph Wolfgang Engler, der Theologe Richard Schröder, der Religionssoziologe Detlef Pollack und der Psychologe Hans-Joachim Maaz. Für den Journalismus führt Kowalczuk außerdem noch Stefan Berg, Christoph Dieckmann und Alexander Osang an. Einige wenige weitere Namen könnten genannt werden – so Jens Bisky, Gunnar Decker, Evelyn Finger, Anne Hähnig und Regina Mönch.
Ostdeutsche Eliten in Einzelbereichen
Bei meiner nachfolgenden genaueren Betrachtung der unterschiedlichen Elitengruppen möchte ich den Blick zunächst auf das Gebiet der Wissenschaften richten. An ostdeutschen Hochschulen und Universitäten (ohne Medizin) wurden rund 75 Prozent der dort arbeitenden Professoren und Dozenten entlassen. Dabei gab es in solchen Fachgebieten wie Philosophie, Geschichte, Jura und den Wirtschaftswissenschaften „Verluste“ von bis zu 90 Prozent.
Nach einem Zwischenschritt gingen auch die rund 26.000 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und die knapp 100.000 der Industrieforschung verloren. Auch heute ist an den Leitungsspitzen der größten Forschungsinstitute nur jeder siebte Leiter in Ostdeutschland aufgewachsen oder ausgebildet worden. Damit liegt ihr Anteil mit nur 15 Prozent insgesamt sogar noch unter dem ausländischer Wissenschaftler, von denen 24 Prozent leitende Funktionen bekleiden.
Um zu diesem Ergebnis zu kommen, setzten westdeutsche Wissenschaftsschulen ihre Interessen und ihr Personal nahezu komplett durch und akzeptierten dabei keine anderen wissenschaftlichen Lebenswege als die eigenen. Selbst die gegen die SED-Diktatur kritisch eingestellten Wissenschaftler hatten kaum eine Chance. So kamen nach der Wiedervereinigung beispielsweise nur wenige ostdeutsche Historiker, vor allem aus der Akademie der Wissenschaften, auf Lehrstühle. Zu nennen sind hier Hartmut Harnisch (Humboldt-Universität), Jürgen John (Jena), Helga Schultz (Frankfurt/Oder) und Ludmila Thomas (Humboldt-Universität). Andere kamen später dazu, wie Ina Merkel (Marburg) und Michael Zeuske (Köln). Weitere erhielten außerplanmäßige Professuren wie Gerd Dietrich (Humboldt-Universität), Rainer Eckert und Frank Hadler (beide Leipzig), Dieter Hoffmann (Berlin), Matthias Middell (Leipzig) und Isolde Stark (Halle/Saale). In jüngerer Zeit kamen Christina Gundermann (Köln), Astrid Lorenz (Leipzig), Christina Morina (Bielefeld), Silke Satjukow (Magdeburg/Halle) oder Claudia Weber (Frankfurt/Oder) als Lehrstuhlinhaberinnen noch dazu. Es wurde jedoch keine einzige Professur für Zeitgeschichte, kein Institut und keine Forschungsstelle für Zeitgeschichte von einem Ostdeutschen geleitet. Das veranlasste den ostdeutschen Schriftsteller Jacob Hein zu der Feststellung, dass es an deutschen Universitäten keine Professoren mit Ostbiografie gäbe.
Tatsache ist, dass es lange Zeit von 81 möglichen Positionen keinen ostdeutschen Rektor oder Präsidenten an Hochschulen und Universitäten gab, und Diversität dort ohnehin bislang weniger eine Rolle spielt. Die typische Leitung einer deutschen Hochschule sei männlich, 57 Jahre alt und stamme aus Westdeutschland, diagnostizierte im März 2021 auch das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh. Ausgewertet wurden hierfür die Lebensläufe von rund 300 amtierenden Präsident*innen und Rektor*innen. Das magere Ergebnis: „Zurzeit werden zehn staatliche Hochschulen von Personen aus ostdeutschen Bundesländern – inklusive Berlin – geleitet“. Dazu zählen die TU Cottbus-Senftenberg mit der in Leipzig gebürtigen Psychologin Gesine Grande an der Spitze, und die Goethe-Universität Frankfurt am Main, ihr Präsident ist seit dem 1. Januar 2021 der Physiker und Biologe Enrico Schleiff, geboren in Luckenwalde. Seit 2012 amtierte er dort schon als Vizepräsident. Auch an der Spitze von Kunsthochschulen im ehemaligen Osten Deutschlands sind mittlerweile Ostdeutsche präsent, beispielsweise schon seit 2012 der in Demmin geborene Kunsthistoriker Matthias Flügge als Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Und im Februar 2021 wurde die gebürtige Dresdnerin Angelika Richter vom Erweiterten Akademischen Senat der Berliner Kunsthochschule Weißensee zur neuen Direktorin gewählt.
In der Wirtschaft waren 2012 von den 180 Dax-Vorständen, deren Herkünfte bekannt sind, nur zwei in Ostdeutschland aufgewachsen, das Führungspersonal in den ostdeutschen Bundesländern besteht noch heute lediglich zu einem Drittel aus Ostdeutschen, bei Top-Positionen 4,7 Prozent. Die 500 vermögendsten Familien der Bundesrepublik kommen komplett aus Westdeutschland, im Osten sind vor allem Zweigstellen und Montageeinrichtungen altbundesdeutscher und ausländischer Unternehmen beheimatet. Die Hauptniederlassungen und Zentralen der deutschen Großbetriebe befinden sich fast ausschließlich im Westen.
Nicht anders verhält es sich in der Justiz. Hier stieg der Anteil von Ostdeutschen in der Richterschaft in den letzten Jahren von 11,8 auf gerade mal 13,3 Prozent, bei den Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichte sowie den Vorsitzenden Richtern der einzelnen Senate von 3,4 auf 5,9 Prozent. Und das nur im Osten, nicht in der gesamten Bundesrepublik. Einen Lichtblick gab es im Juli 2021, als nach zähem Ringen erstmals eine in Ostdeutschland aufgewachsene Richterin ans Bundesverfassungsgericht berufen wurde. Die Gesamtzahlen aber unterstreichen die Expertenmacht altbundesdeutscher Anwälte, Notare und Steuerberater. Nicht anders sieht es beim Militär, bei der Polizei und den Geheimdiensten aus. Abgerundet wird dieses Bild schließlich von der deutlichen Dominanz Westdeutscher in Presse, Fernsehen und Publizistik. Ausnahmen sind hier die Leipziger Volkszeitung mit dem Chefredakteur Jan Emendörfer und der Mitteldeutsche Rundfunk mit der Intendantin Prof. Dr. Karola Wille. Die Berliner Zeitung wurde im Jahr 2019 von dem Unternehmerpaar Holger und Silke Friedrich gekauft. Als die Welt am Sonntag offenlegte, dass Holger Friedrich inoffiziell für die Staatssicherheit gearbeitet hatte, löste das eine erregte Diskussion aus. Nachdem ihn ein Gutachten von Marianne Birthler und Ilko-Sascha Kowalczuk entlastet hatte, haben sich die Wogen mittlerweile geglättet. Vor dem Hintergrund solcher Tatsachen könnte man den Eindruck gewinnen, es gäbe in den Medien weitgehend ein Selbstgespräch der Westdeutschen mit sich selbst, die Ostdeutschen kämen darin bestenfalls als Untersuchungsobjekte vor. Darauf reagiert ein Teil der Ostdeutschen dann mit den bekannten Verleumdungstiraden der Medien als „Lügenpresse“. Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Elitengruppen scheinen sich ostdeutsche Künstler, Schauspieler und Schriftsteller, aber auch Sportler im vereinten Vaterland noch am besten behauptet zu haben. Das zeigt sich etwa bei der Verleihung der wichtigen Literaturpreise in den letzten Jahren– wie bereits vor der Wiedervereinigung – an ostdeutsche Schriftsteller wie zum Beispiel an Elke Erb, Christoph Hein, Irina Liebmann, Eugen Ruge, Helga Schubert, Ingo Schulze und Lutz Seiler. 2019 wurde der schon jahrzehntelang erfolgreiche Verleger Christoph Links als erster Ostdeutscher vom Branchenmagazin BuchMarkt zum „Verleger des Jahres“ gewählt.
Die öffentliche Würdigung vieler ostdeutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen scheint ein Stück Anerkennung und Normalität zu sein, doch wird dadurch ein anderes Problem nicht behoben. Das besteht bis heute darin, dass in der Literaturkritik beziehungsweise im Feuilleton oder in den Jurys, selbst von Preisen, die im Osten, zum Beispiel in Leipzig vergeben werden, kaum Ostdeutsche vertreten sind. Auch hier unterliegt der Osten der Deutungshoheit des Westens, und in aller Regel werden ostdeutsche Schriftsteller auch als solche bezeichnet, die westdeutschen dagegen grundsätzlich als deutsche Autoren. Einige kulturelle Einrichtungen konnten sich unter ostdeutscher Leitung behaupten, wie die Berliner Volksbühne, die Leipziger Schule für bildende Kunst und die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Wichtige Namen sind in diesen Zusammenhängen Frank Castorf, Andreas Dresen, Prof. Dr. Wolfgang Engler und Leander Haußmann. Anders sieht es im Hinblick auf Spitzenämter in den Kirchen aus; Markus Meckel weist darauf hin, dass protestantische Kirchen selbst bei ostdeutschen Bischofswahlen Kandidaten aus dem Westen suchen.
In den Landesparlamenten im Osten ist mit circa 80 Prozent der Parlamentarier ein maßgeblicher Anteil an Ostdeutschen repräsentiert. 70 Prozent der Landesminister sind Ostdeutsche und bei den Staatssekretären ist der ostdeutsche Anteil von 26 auf 46 Prozent gestiegen. Genau gegenteilig sieht es allerdings bei den Führungskräften der darunter angesiedelten Verwaltungen aus. Hier sind nur wenige Ostdeutsche tätig, was auch daran liegt, dass die SED-„Eliten“ ab 1990 besonders auch in Verwaltungsbehörden ausgetauscht wurden.
Der Soziologe Steffen Mau macht völlig zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Zahlen die Kollateralschäden veranschaulichen, die die Integrationsprozesse nach der deutschen Wiedervereinigung angerichtet haben. Es gäbe „nur ein sehr loses Band zwischen dem Spitzenpersonal und dem Rest der Bevölkerung“, sodass sich „die Wahrnehmung einer Spaltung zwischen dem ‚Volk‘ und ‚denen da oben‘ immer mehr festsetzt“. So sei im Osten das Gefühl, „fremdregiert“ zu werden, viel weiter verbreitet als im Westen. Wesentlich dafür sei, „dass es bis heute nicht gelungen ist, ostdeutsche Aufstiege in die gesellschaftliche Führungsebene zum Normalfall werden zu lassen“. Für viele jüngere Ostdeutsche seien die Aufstiegswege „verstopft“ und es fehle auch an entsprechenden Förderungs- und Stipendienprogrammen. Auch im neuen Bundeskabinett, das am 8. Dezember 2021 seine Ernennungsurkunden erhielt, befinden sich mit den Ministerinnen Klara Geywitz aus Potsdam und Steffi Lemke aus Dessau nur zwei originär Ostdeutsche.
Heute sind viele aus der Generation der Bürgerrechtler, die nach 1989/90 einen gewissen Einfluss hatten und sich nachdrücklich öffentlich bemerkbar machten, Rentner und oft schon jenseits der 70. So geht es jetzt um eine neue ostdeutsche Elite, die auf die Erfahrungen „unserer Revolution“ zurückgreift. Diese kann nicht durch eine „Ostquote“ erreicht werden, aber zumindest eine ausgewogene Besetzung staatlicher Stellen sollte ein erster Schritt sein. Vor allem ging und geht es angesichts der Geschichtslügen der „Allianz für Deutschland“ damals und der „Querdenker“ und der Corona-Leugner in der Gegenwart vor allem darum, das öffentliche Bewusstsein für das beschriebene Problem zu wecken und zu schärfen. Dabei ist die Rückbesinnung auf den Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte der ostdeutschen Herbstrevolution notwendig, und auch die Lebenserfahrung und der Rat der Bürgerrechtler sind hier nach wie vor gefragt.
Eine neue Generation – mit neuen Ansätzen?
Zu diesen Themen verschaffen sich in der letzten Zeit zunehmend Ostdeutsche der mittleren Generation Gehör. Meist gehören sie der 89er-Generation an (2. Generation Ost), aber auch die Enkelgeneration meldet sich zu Wort (auch 3. Generation Ost beziehungsweise Wendekinder genannt). Zwar sind es bisher nur wenige, aber es gibt neue starke Stimmen aus dem Osten und auch ganz neue Perspektiven. Es braucht die nächsten Generationen, um neue Fragen zu stellen; eine Herausforderung ist es allerdings, wenn die neuen Fragesteller nur wenig oder nichts von ihren Vorgängern der letzten 30 Jahre wissen. Es ist die Aufgabe der Jungen, den Acker der Geschichte auf ihre Weise umzugraben. Dabei werden sie eine nach wie vor sehr wichtige Frage stellen müssen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Für eine solche gesamtgesellschaftliche Diskussion müssen die entsprechenden Formen entwickelt werden.
Wenn ich hier von einer jüngeren, also der 2. Generation nach der Revolution spreche, so weiß ich schon, dass der eine oder andere aus dieser Kohorte bereits die 50 überschritten hat. Entscheidend erscheint mir jedoch nicht das Alter, sondern innovative Ansätze, neue Ideen, Diskursfreudigkeit und die Möglichkeit und das Selbstbewusstsein, in die Öffentlichkeit zu gehen. Dabei ist es eine conditio sine qua non, sich auf die Ideen, Ansätze und Ergebnisse der Friedlichen Revolution zu beziehen und diesen neues Leben einzuhauchen. Wohl alle der genannten Mitglieder der neuen intellektuellen Elite des Ostens würden dem zustimmen. Die Älteren von ihnen nehmen noch direkt Bezug auf die Persönlichkeiten der Bürgerbewegung und der Friedlichen Revolution, kennen sie zumindest und beziehen sie manchmal noch in den Diskurs ein. Wichtige Namen sind hier Jana Hensel, Petra Köpping, Raj Kollmorgen, Ilko-Sascha Kowalczuk, Thomas Krüger, Stefan Mau, Christina Morina, Thomas Oberender und Frank Richter.
Zwischen dieser und der nachfolgenden dritten Generation scheint es jedoch eine Kluft zu geben, wie es sie auch zwischen den früh gegen die kommunistische Diktatur Widerstand leistenden und den Bürgerrechtlern der 1980er Jahre gibt. Noch ist es Zeit, diese Kluft zu überbrücken. Wenn dies nicht gelingt, wird sich diese Differenz „natürlich“ von selbst erledigen. Gleichzeitig könnte eine Kluft zu den folgenden Generationen entstehen.
Unter den genannten ostdeutschen Eliten im mittleren Alter ist meines Erachtens auf jeden Fall der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk zu nennen, dem mit „Die Übernahme“ eine aus meiner Sicht überzeugende Analyse insbesondere des deutsch-deutschen Transformationsprozesses gelungen ist. In diesem leidenschaftlichen Essay erklärt er, dass er nach 1989 zu jenen gehörte, die meinten: „Alles muss weg“, insbesondere die komplette Nomenklatur der SED-Diktatur, und der heute von den „unfassbaren sozialen Ungerechtigkeiten“ tief erschüttert ist, die vor allem mit der Finanz- und Bankenkrise verbunden sind. Vor diesem Hintergrund legt er dar, dass die Revolution 1989 nur von einer Minderheit auf die Straßen getragen wurde, während die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen Demokratie, Freiheit und auch Wohlstand nicht erkämpfte, sondern geschenkt bekam. Viele von ihnen fühlen sich heute infolge der Transformationsprozesse und unter den Bedingungen der Globalisierung als „Deutsche zweiter Klasse“ und in Ostdeutschland breiten sich Wut und Hass aus.
Dem wäre mit Stolz auf „unsere Revolution“ zu begegnen, doch entwickelten diesen nicht einmal diejenigen, die 1989 die SED-Diktatur tatsächlich stürzten. Kowalczuk führt aus, dass die Wünsche der Mehrheit der Ostdeutschen mit denen der Bürgerbewegung nicht übereinstimmten, dass sie Heilsversprechungen glaubte und dass bundesdeutsche Politiker nur eine Methode für die Wiedervereinigung zuließen: Im Osten musste alles wie im Westen werden. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Überschichtung des Ostens durch eine „Westelite“. Es zeigt sich in den letzten Jahren immer deutlicher, dass Ostdeutsche in den Eliten der Bundesrepublik entsprechend ihrer Leistungen vertreten sein müssen, neue Karrierewege sollten dafür geschaffen und die immer noch bestehende materielle Ungleichheit muss endlich unbedingt beseitigt werden.
Zu den besonders wichtigen „neuen“ ostdeutschen Stimmen gehört der jetzt in Berlin arbeitende Rostocker Soziologe Interner Link: Steffen Mau. Dieser stellt sich zunächst die Frage, ob der Osten und die deutsche Einheit „ausdiskutiert“ wären und kommt zu dem Schluss, dass dies vielleicht quantitativ zutrifft, nicht jedoch auf die Sache bezogen. Es müssten immer wieder die „Folgenlosigkeit einer unerhörten Begebenheit“ (Wolf Lepenies) und der ostdeutsche Politikverzicht diskutiert werden. Als problematisch erkennt er, dass sich die „Kombattanten in ihre Deutungsgräben eingeschaufelt“ hätten. Käme hinzu, dass sich Bürgerrechtler ungern von anderen sagen ließen, was „ihre Revolution“ gewesen ist. Im Ergebnis erkennt Mau, dass die „einst diskursstarken Bürgerrechtler […] im vereinten Deutschland in eine Schleife des Immergleichen hineingeraten“ sind. Zwar wären ihre Wortmeldungen wichtig, doch seien sie „überraschungsarm und monothematisch“. Entscheidend für die „schwächelnde Diskursfähigkeit“ sei jedoch die „Elitenschwäche des Ostens“. So gäbe es nur wenige Ostdeutsche in herausgehobenen Positionen und demzufolge auch nur wenige meinungsstarke Stimmen. Diese wären aber zu leise und zu begrenzt, um wirklich das gesamte Spektrum von ostdeutschen Meinungen zu artikulieren.
Ich stimme Mau durchaus in der Meinung zu, dass es „ohne große Debatte […] kaum gelingen [wird], zu einem neuen politischen Bewusstsein zu kommen“, einem Bewusstsein, welches die Erfahrungen des geteilten Deutschlands, die Erfahrungen mit Diktaturen und mit der Transformation nach der Wiedervereinigung reflektiert. In dieser Debatte müsste der dominante Blick des Westens jedoch aufgelöst werden. Nicht zustimmen kann ich allerdings seiner Feststellung, dass es eine „offiziöse Geschichtspolitik“ gäbe, die der Alltagserfahrung der Menschen nicht entspräche. Mau bezieht sich dabei auf den ostdeutschen Regisseur Oberender und fordert eine „offene und gut durchlüftete Debatte“, um aus den ausgetretenen Diskurspfaden auszubrechen und sich Geschichte neu anzueignen. Richtig erscheint mir, dass es dafür keinen Opferdiskurs braucht, es aber notwendig ist, den Osten nicht nur zu erklären, sondern diesen selbst zum Ort des Diskurses zu machen. Entscheidend könnte dabei sein, das demokratische Potenzial der „Neuen Bundesländer“ endlich zu nutzen.
Beeindruckend ist auch Maus in diesem Buch bereits mehrfach zitierte Publikation über Lütten Klein, einem Stadtteil Rostocks, der Stadt seiner Kindheit und Jugend. Wohl noch nie ist das Leben einer „sozialistischen Idealstadt“ mit so viel Kenntnis und Empathie geschildert worden. Überzeugend beschreibt er am Beispiel der dortigen Lebensweise, die soziale Nivellierung und blockierte Mobilität, die kleinen Freuden und Annehmlichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten des Alltags in der DDR. Genauso wichtig und überzeugend ist auch Maus Analyse des Transformationsprozesses nach der deutschen Einheit, dessen Bilanz er für „durch und durch widersprüchlich“ hält. Einen wesentlichen Grund dafür sieht Mau nach der „beglückenden Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit“ von 1989/90 im zwar notwendigen westdeutschen Elitentransfer, der aber bis heute auch andauernde massive Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen erzeugte. So gäbe es nur ein loses Band zwischen dem Spitzenpersonal und dem Rest der Bevölkerung. Zu Recht bewertet der Autor dies – wie erwähnt – als Kollateralschaden für den gesamten Integrationsprozess. Ähnlich sieht es der ehemalige Bundespräsident, Joachim Gauck, der meint, dass die Erfahrung „dieses glückhaften Moments des Aufbruchs und des Erkennens der eigenen Potentiale“ durch die zwar notwendigen, aber aus dem Westen kommenden Spezialisten beendet wurde. Als Konsequenz fordert Mau eine stärkere Beteiligung, wie eine pointierte gesellschaftliche Auseinandersetzung über das Was und Wie sowie einen „Sense of Ownership“, da sonst verantwortliches Handeln, Mitmachen und Entscheiden immer mehr abhanden kamen.
Zu Kowalczuk und Mau tritt Oberender, der für eine ostdeutsche Perspektive auf der Grundlage der Friedlichen Revolution und für das endliche Abschütteln der gefühlten Zweitklassigkeit der Ostdeutschen wirbt. Das ist auch deshalb notwendig, weil sich immerhin 57 Prozent der Menschen in Ostdeutschland als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen und damit die Ressourcen fehlen, sich den populistischen Bewegungen entgegenzustellen. Es verwundert nicht, dass dieses Gefühl bei 84 Prozent der Anhänger der „Alternative für Deutschland“ vorherrscht. Dies vergiftet unsere Gesellschaft. Eine solche negative Selbsteinschätzung habe vor allem mit dem „Trauma der Wiedervereinigung“, mit der erlittenen Schocktherapie, mit Unzufriedenheit und breiter Ohnmachtserfahrung (hier lägen auch die Wurzeln für den Erfolg der AfD) genauso zu tun wie mit den kurzzeitigen Erfahrungen demokratischer Mobilisierung in der Friedlichen Revolution. Um dieses Trauma zu überwinden, müssten die Ostdeutschen grundsätzlich anders auftreten, nämlich auf Augenhöhe und mit verstärktem Selbstbewusstsein. Wichtig sei dabei auch, dass „unsere Sprache und unsere Auffassung von der eigenen Geschichte [nicht] von der westdeutschen Lesart dominiert, verfälscht und um ihre kreativen und inspirierenden Einflüsse gebracht“ werden.
Im seinem Buch „Empowerment Ost“, es handelt sich um den Text eines Vortrages im Park der autonomen Athener Akadimia Platonos vom 21. Juli 2019, vertritt Oberender die These, dass die Revolution gegen die SED-Diktatur mit einer radikalen Demokratieerfahrung verbunden war, die sie zur ersten Revolution des 21. Jahrhunderts machte. Zwar ist es genauso möglich, dieses Ereignis und die Revolutionen in ganz Ostmitteleuropa als Abschluss des kurzen 20. Jahrhunderts zu begreifen, doch ist dies in unserem Zusammenhang nicht wichtig. Entscheidend ist, dass alle diese Revolutionen „begeisternde Aufrufe für die Möglichkeit einer anderen Zivilgesellschaft“ waren. In diesem Punkt ist Oberender nur zuzustimmen, doch geht es hier bisher nicht um reales Geschehen, sondern um eine in die Zukunft gerichtete Hoffnung. Abgesehen von kleineren terminologischen Ungenauigkeiten schildert der Autor, der sich nie als DDR-Bürger verstand, die Abläufe der Revolution präzise.
Überzeugend ist auch seine Auffassung, dass der 9. Oktober 1989 in Leipzig den Sieg der Revolution brachte und dieser letztlich der Bürgerbewegung zu verdanken ist, der sich immer mehr Menschen anschlossen. Für Oberender bedeutete das Freiheit und den Weg in ein selbstbestimmtes erfülltes Leben. Umso mehr überrascht seine Beschreibung, dass erst 30 Jahre später etwas in ihm zu „bluten“ beginne. Auf einmal sei ihm klar geworden, dass er sich über die Art „ärgert“, mit der im vereinten Deutschland über Ostdeutsche gesprochen wird, er stellt fest, dass diese Art etwas „verletzt“ hat, eine Verletzung, von der er lange nichts merkte. Dieses Gefühl ist auch mir – und vielen anderen – sehr vertraut. Es ist das Gefühl, dass der Befreiung durch eigenes Handeln, das die Berliner Mauer zum Einsturz brachte und die Einheit ermöglichte, die Entmündigung vieler Menschen folgte. Deshalb ist auch für mich die Erinnerung an die Revolution bedeutsamer als die an die Wiedervereinigung, wenngleich beides natürlich zusammengehört.
Diejenigen, die im Herbst 1989 auf den Straßen demonstrierten, haben Freiheit und Menschenrechte erkämpft – in Deutschland und in ganz Europa. Das schien uns mit den Werten des freiheitlichen Westens in Übereinstimmung zu stehen und letztlich war es auch so. Trotzdem wurde gerade in den letzten Jahren das Gefühl des Verletztseins im Osten immer stärker. Das hat verschiedene Gründe, für Oberender ist es die „koloniale Matrix der westdeutschen Macht in Ostdeutschland“.
Diese Begrifflichkeit erscheint auf den ersten Blick ins Dramatische gesteigert, trotzdem ist sie nicht von der Hand zu weisen. Im gesamten Osten war nach 1989 die Erfahrung prägend, dass europäisch zu sein heißt, westeuropäisch zu sein. Damit muss es aber nach 30 Jahren ein Ende haben. Ich kann deshalb Oberender nur zustimmen, wenn er meint, dass sich 1989/90 die Erfahrung der Selbstermächtigung und Zuversicht mit demokratischer Mobilisierung verbunden hat. Daran gilt es heute mit einem gleichberechtigten Diskurs der zweiten und dritten Generation nach den Revolutionen anzuknüpfen. Damit sind solche Probleme wie die ungleiche Eigentumsverteilung, die unterschiedlichen Gehälter und Besitzstände, die Verödung ganzer Landstriche und vieles andere zwar nicht beseitigt, es wäre jedoch ein Schritt auf dem richtigen Weg eines „Empowerment Ost“. Um voranzukommen, sollten sich viel mehr Menschen als bisher daran beteiligen, es müssen neue Kommunikationsstrukturen und Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen werden. Hier gibt es noch viel zu tun, Oberender gehört dabei zu denen, deren Gedanken in die richtige Richtung weisen.
Ein anderer Publizist, Gunnar Hinck, bemerkt, dass die ostdeutsche Elite über keine eigene Sprache verfügt, sie würde sich selbst marginalisieren und damit den ganzen Osten. Weder sollten „westdeutsche Phrasen“ nachgeplappert, noch das Ostdeutsche als defizitär und nachrangig an den Rand gedrängt werden. Zumindest das geistige Erbe von Bürgerbewegung und Revolution als ostdeutsche Erfahrung gehört zwingend in eine gesamtdeutsche Identitätserzählung und die krasse Ost-West-Umverteilung von Gestaltungsmöglichkeiten sollte beendet werden. Wie absurd ist es, dass das Bewusstsein dafür in Gesellschaft und Politik erst mit dem Erfolg der AfD, einer rechtspopulistischen Partei, gewachsen ist.
Doch noch einmal zu Oberender, der besonders auch auf die Reformvorschläge des „Neuen Forums“ von 1989 mit dem Ziel, die Wiedervereinigung nicht „westdeutsch-kapitalistisch“ zu organisieren, auf den ostdeutschen Verfassungsentwurf sowie auf die dort entstandene Friedens- und Umweltbewegung verweist. Zu Recht meint er, dass Ostdeutsche sich mit ihrer Revolution von einer Diktatur selbst befreit und in einer breiten demokratischen Mobilisierung eigene Vorstellungen von einer künftigen anderen Gesellschaft entwickelt hätten. Wenngleich bei ihm Details im Dunkeln bleiben, ist die Idee, die ostdeutsche Revolution in eine osteuropäische Transformation einzubetten, sicher interessant. Weiter wäre zu fragen und öffentlich zu diskutieren, was diese neuen Vorstellungen beinhalteten – oder ob die Zeit vom Herbst 1989 bis zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 für die Herausbildung solcher Ideen einfach zu kurz war.
Allerdings muss auch Oberender eingestehen, dass im „Abendrot der DDR“ die Bevölkerungsmehrheit gar nichts anderes oder etwas Eigenes gestalten wollte. Trotzdem hätten durchaus nicht alle nach „Bananen geschrien“, sondern die Bürgerbewegung besaß auch eigene, alternative und tatsächlich progressive Vorstellungen von sozialen Verfassungs- und Staatsreformen. Trotzdem hätte die Wiedervereinigung „koloniale Züge“ getragen und viele im Westen würden bis heute meinen, dass es vom Osten nichts zu lernen gab und gibt. Angesichts der Statistik von Ostdeutschen in Führungsfunktionen meint Oberender schließlich, dass die Ostdeutschen „keine ewigen Nachhilfeschüler“ seien und sie sich endlich auf ihre positive Protestgeschichte besinnen müssten. Wenn immer nur vom Westen gelernt werden soll oder muss, könne kein „natives“ Selbstbewusstsein eigener andersartiger Leistungen und in die Zukunft weisender Ideen der Revolutionszeit entstehen. So dürfe das vereinte Deutschland nicht bloß eine Ausweitung der Verhältnisse des Westens in Richtung Osten sein. Die Verdrängung des Ostens aus dem Osten sollte nicht länger hingenommen werden, das gelte auch für den „kolonialen Gestus der westdeutsch dominierten Politik und Medien“. Letztlich birgt der Osten einen Schatz an Erfahrungen, der nicht mehr von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert werden kann.
Der aus Rostock stammende Journalist Alexander Cammann, ebenso ein profunder Kenner der Friedlichen Revolution, widerspricht Oberender, indem er bemerkt, dass die Deutschen in den letzten Jahren über kaum etwas anderes so intensiv gesprochen hätten wie über die Lage im Osten, die DDR-Vergangenheit und über Ost-West-Unterschiede. Und er fragt damit polemisch, ob man all diese Debatten „nur geträumt“ hätte. Dabei gesteht er zu, dass in der Friedlichen Revolution „Freiheit und Demokratie von vielen erkämpft wurden“ und dass das „einer der wenigen großen Momente in der deutschen Geschichte“ war. Dazu würde auch die „demokratische Urerfahrung“ von freier Rede und Runden Tischen gehören. Cammann kritisiert Oberender eher unberechtigt, dass dieser nicht begreife, dass 1989/90 den meisten Ostdeutschen eine neue Verfassung egal war und sie nur noch möglichst schnell die DM wollten. Auch kann er nicht dessen Meinung teilen, dass die „Sprache des Westens“ den Osten dominieren würde. Außerdem wirft er ihm vor, er würde alle jene Ostdeutschen vernachlässigen, die sich mühsam ihren Platz in der Demokratie erkämpft hätten. Und er kritisiert Oberender, dass er seine Deutung im „aktuellen Theorie- und Kuratorenjargon“ vortrage.
Was er damit meint, bleibt im Dunkeln, eindeutig ist er jedoch in seinem Vorwurf, der ostdeutsche Theatermann würde zu leichtfertig die Kolonisierungsthese übernehmen. Gleichzeitig wirft er diesem vor, er habe sich viel zu spät für den Osten interessiert und so müsse man sein „wütendes Buch“ vor allem als eine Art „verspätete Identitätssuche“ lesen. Cammann erklärt das alles mit dem Umstand, dass ein Riss schon immer durch den Osten ging. Das ist zwar zutreffend, es gab und gibt viele solcher Risse, was das jedoch mit den Thesen Thomas Oberenders zu tun hat, erschließt sich nicht.
Zu diesen Autoren kommt Petra Köpping, die in ihrer Streitschrift in fragwürdiger Weise von einem „kollektiven Ich des Ostens“ ausgeht und berechtigterweise eine weiter bestehende Ost-West-Ungleichheit feststellt. Deshalb fordert sie eine Geschichtskommission zur „Aufarbeitung der Geschichte der Wendezeit“, „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“, eine gesamtdeutsche „Unrechtskommission“, die Verlegung von Institutionen des Bundes in den Osten und die Konzentration von Konzernzentralen dort. Einiges davon macht Sinn, anderes weniger, so wären wohl auch die Stärkung des Staates und die Erhöhung der Vermögenssteuer längst überfällig. Entscheidend ist jedoch die Formierung einer eigenständigen Ost-Elite auf der Basis des Stolzes auf die gelungene Revolution. Hier geht es um wichtige demokratische Werte des gesamten Landes, zuerst sind jedoch hier die Ostdeutschen gefragt.
Was ist zu tun?
Grundsätzlich beruht die Legitimität von Demokratie auf dem Prinzip der Gleichheit. Gradmesser sind dabei ihre Funktionalität, das heißt die Problemlösungskapazitäten demokratischer Organisationen und Institutionen und wie die Sozialstruktur einer Gesellschaft von ihnen repräsentiert wird. Außerdem müssen sich gruppenspezifische Interessen und Ideen in gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen widerspiegeln, da die Bevölkerung Unterrepräsentation schnell und sensibel wahrnimmt und gegebenenfalls als ungerecht empfindet. Ostdeutsche könnten innerhalb der deutschen Eliten Interessen und Bedürfnisse ihrer Gruppe am besten vertreten und die Gesellschaft insgesamt würde von ihren Ideen und Erfahrungen profitieren.
Heute fällt die Aufgabe des Aufbaus einer Elite im Osten Deutschlands, aber auch im gesamten Land den Kindern und Enkeln der „89er“ zu. Dazu gehören Zusammenschlüsse wie die „Dritte Generation Ost“. leider stießen diese bei ihren Versuchen, sich einen ihren Fähigkeiten angemessenen Platz zu erkämpfen - anders als die Mehrheit ihrer AltersgenossInnen aus dem Westen - lange Zeit an einen gläsernen Deckel. Dies hatte und hat damit zu tun, dass seit 1990 – wie beschrieben – Westdeutsche auf die Elitepositionen des Ostens strömten. Sie waren angesichts des Elitenvakuums mit ihren Fachkenntnissen willkommen. Dazu kam die Annahme, dass sie ja nicht in das Unterdrückungssystem der SED-Diktatur verstrickt sein konnten oder das zumindest geglaubt wurde. Das war nicht immer richtig. Gleichzeitig hatte wohl kaum jemand erwartet, dass die altbundesdeutschen Karrierenetze fast lückenlos im Osten aufgespannt wurden und bis heute stabil sind. Wohlgemerkt, es geht um die Durchlässigkeit nach ganz oben und darum, dass nicht diejenigen bevorzugt angestellt werden, die aus den gleichen oder ähnlichen westdeutschen Verhältnissen kommen.
Neben dem Aufbau ostdeutscher Eliten ist heute immens wichtig, daran zu arbeiten, dass sich fast 60 Prozent der Ostdeutschen nicht mehr als „Bürger zweiter Klasse“ behandelt fühlen. Das gilt genauso für eine nach Revolution und Vereinigung reale oder vermeintliche Abwertung der Ostdeutschen, die gegenwärtig vor allem von Rechtsradikalen instrumentalisiert wird. Nach der Rückbesinnung auf „die neue Identität aus erlebter Volksbewegung“ und der auf eine „erfolgreiche Selbstermächtigung“ ist es entscheidend, neuen Sinn zu stiften, das heißt, bei einer Neuorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Pandemie sollten die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger intensiv beteiligt werden, damit sie den Wandel aktiv mitgestalten können. Beispielgebend könnten repräsentativ zusammengesetzte Bürgerkonvents nach irischem Vorbild sein („Citizen Assemblies“).
Es kann nicht zuvorderst um eine „Ostquote“ gehen, die Bemühungen um die Bildung ostdeutscher Eliten sollten möglichst breit angelegt sein. Bei ihrer Bildung ist zu beachten, dass sich viele Ostdeutsche durch ein „unsichtbares Band“ (Mau) verbunden fühlen, dass es vor 1989/1990 nicht gab. Paradoxer Weise spielt dabei auch eine Rolle, dass die SED-Diktatur in den letzten 30 Jahren immer oder zumindest überwiegend ex negativo geschildert wurde und dies so nicht der Erinnerung vieler Ostdeutscher entsprach. Dazu kam, dass die Westdeutschen als Individuen beschrieben wurden, die Ostdeutschen dagegen eher als eine Masse. Mau stellt fest, dass Revolution und Wiedervereinigung vielgestaltige Formen sozialer Deklassierung mit sich brachten, die in der frakturierten Gesellschaft nunmehr strukturell verfestigt sind. Als Gründe nennt er: die Entwertung des Lebensmodells einfacher (früher arbeiterlicher) Schichten, die Abwesenheit regional verankerter bürgerlicher Milieus, eine wenig entwickelte zivilgesellschaftliche und demokratische Kultur sowie die Abschottung und den Weggang von Millionen Menschen. Dazu kämen statusbezogene Abwärtsbewegungen und verstopfte Mobilitätskanäle. Der Osten wurde durch Transfereliten überschichtet und die Herkunftsbezüge wurden prekär. Deshalb fehle heute der ostdeutschen Gesellschaft ein robuster sozialmoralischer und sozialstruktureller Unterbau. All diese Probleme lassen sich durch eine immer mal wieder empfohlene „innerdeutsche Gesprächstherapie“ nicht heilen. Solche „Vorschläge“ werden von Mau und Kowalczuk zurückgewiesen. Wenn der Ostler dem Westler seine Lebensgeschichte erzählt, erzählt immer das unbekannte Wesen dem dominierenden „seine Geschichte“. Letztlich ginge es nur darum, dass die Ostdeutschen so werden, wie die Westdeutschen von sich glauben zu sein. Dieses Muster habe sich manifestiert, weil der Westen an sich glaubte, während viele Ostdeutsche Unterwerfung praktizierten.
Nur wenn es gelingt, die daraus entstehende Systemskepsis mit ihrer Anfälligkeit für Populismus zu überwinden, werden wir gegen rechts- und linksradikale Demagogen erfolgreich sein und auch die kruden Verschwörungstheorien im Umfeld der Corona-Epidemie zurückweisen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ausgrenzung der restlichen Nomenklaturkader der SED – wie Wolfram meint – jetzt zu beenden wäre. Ein solches Vorgehen ist allein schon deshalb nicht sinnvoll, weil seit der Revolution 30 Jahre vergangen sind und diese Menschen überwiegend nicht mehr im Arbeitsprozess stehen. Notwendig ist eine neue ostdeutsche Elite. Mit Petra Köpping möchte man den Ostdeutschen zurufen: „Traut Euch! Übernehmt Verantwortung“. Das lässt sich leicht fordern, nur müssten die entsprechenden Strukturen vorhanden sein und Aufstiegswege geschaffen werden. Es ist weiterhin nötig, im Osten Karrierewege zu fördern, die nicht den Mustern des Westens entsprechen. Es sollten denjenigen Ostdeutschen Förderungen zuteilwerden, die den demokratischen Werten des Westens verpflichtet sind und die den festen Willen zum Aufstieg in die bundesdeutschen Elitepositionen besitzen. Es bleibt zu hoffen, dass dafür bald Möglichkeiten geschaffen werden und vielleicht gibt es auch einen „Runden Tisch“, um all das zu besprechen.
Zitierweise: Rainer Eckert, "Schwierige Gemengelage - Ostdeutsche Eliten und die Friedliche Revolution in der Diskussion", in: Deutschland Archiv, 10.12.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/344490. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Literatur:
Harald Bluhm et al., Texte zu Politik, Staat, Recht, Berlin 1990; Humboldt-Universität zu Berlin, Sektion Marxistisch-leninistische Philosophie, Forschungsprojekt: „Philosophische Fragen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus“. Zur gegenwärtigen Lage der DDR und Konsequenzen für die Gestaltung der Politik der SED, Berlin 8. Oktober 1989
Rainer Eckert, SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland. Eine Auswahlbibliographie, Halle/Saale 2019.
Wolfgang Engler, in: Ders. und Jana Hensel, Wer wir sind. Die Erfahrung ostdeutsch zu sein, Berlin 2018.
Naika Foroutan et al., Soziale Integration ohne Eliten? Ausmaß, Ursachen und Folgen personeller Unterrepräsentation ausgewählter Bevölkerungsgruppen in den bundesdeutschen Eliten, Leipzig/Görlitz/Berlin 2020.
Norbert Frei et al., Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.
Gunnar Hinck, Eliten in Ostdeutschland, Berlin 2007.
Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018,
Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019,
Oberender, Thomas, Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen, Stuttgart 2020.
Lars Vogel, (Ostdeutsche) Politische Eliten zwischen Integration und Repräsentation, in: Deutsche Gesellschaft (Hg.), Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven, Berlin 2017.
Der Text dem bpb-Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der am 1. Dezember 2021 in einer zweiten und ergänzten Auflage Interner Link: bpb-shop erschienen ist. Die Erstauflage vom 1. Juli 2021 war binnen drei Monaten vergriffen. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg" und seine Premiere, produziert 2021 von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
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