Wer beherrscht den Osten?
Ein Debattenbeitrag von Richard Schröder
Richard Schröder
/ 24 Minuten zu lesen
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Was ist mit dem Osten los? Eine Klischee-Antwort aus den Neuen Bundesländern lautet: die Ostdeutschen seien durch den Einigungsprozess gedemütigt worden, würden fremdbestimmt und die Treuhand habe eine bessere wirtschaftliche Entwicklung verhindert. Diese Kränkung schlage nun in Wut um und sorge auch für ein erhöhtes AfD-Wählerpotenzial. Doch was ist dran an solchen Kränkungsthesen? Eine Betrachtung aus dem Blickwinkel von Prof. Richard Schröder. Ein Debattenbeitrag, dem weitere Ansichten folgen werden.
Die hohen Wahlerfolge der AfD in den östlichen Bundesländern und die Gewalt und Demonstrationen im Sommer 2018 in Chemnitz haben wieder einmal die Frage aufgeworfen: was ist mit dem Osten los? Eine viel beachtete Antwort aus dem Osten lautet: die Ostdeutschen seien durch den Einigungsprozess gedemütigt worden und diese Kränkung schlage nun in Wut um.
Hier sollen zunächst drei immer wieder ins Feld geführten Belege für eine Kränkungsthese überprüft werden.
Die eine stützt sich auf Umfragen, nach denen sich Ostdeutsche zunehmend als Bürger zweiter Klasse verstehen. Die andere bezieht sich auf eine Untersuchung, die die Leipziger Universität im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) 2015/16 durchgeführt hat. Demnach sind in den östlichen Bundesländern zwei Drittel der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft von Westdeutschen besetzt. Diese westdeutsche Fremdbestimmung empöre die Ostdeutschen. Und drittens soll auf das Treuhandproblem eingegangen werden.
I
Dass viele Ostdeutsche sich als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse fühlen, stimmt. Dass viele Westdeutsche in ostdeutschen Chefsesseln sitzen, stimmt auch. Aber erklärt das tatsächlich die Wut und den Hass, der bei manchen Demonstrationen in den Neuen Bundesländern zum Ausdruck kommt?
Das Gefühl, Bürger oder Deutscher zweiter Klasse zu sein, ist nicht durch die deutsche Einigung entstanden. Die Ostdeutschen haben es in die Einigung mitgebracht. Seit meiner Kindheit wurde das Kürzel DDR aufgelöst in: „Der Dumme Rest“, als ein Bedauern, nicht auch „abgehaun“ zu sein „nach drüben“. Es hat das Selbstvertrauen vieler DDR-Bürger nicht gestärkt, wenn ihre Verwandten sie besuchen durften, sie aber ihre Westverwandten nicht, und wenn dann der West-Mercedes neben dem Ost-Trabant parkte.
Westdeutsche machten an Bulgariens Schwarzmeerküste im Neckermannhotel komfortabel Urlaub und wir ostdeutschen Camper bekamen in demselben Hotel nicht einmal eine Tasse Kaffee für unser Geld – und das im „sozialistischen Bruderland“. Und die Einheimischen fragten, wenn jemand deutsch sprach: „Deutscher oder DDR?“ Das hatte mächtigen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft, denn gemeint war: Westmark oder Ostmark? Und warum war das so? Die Besatzungsmächte sind nicht nach Verdienst verteilt worden, haben aber ganz verschiedene Lebens-Chancen gewährt.
Ostdeutsche konnten während der DDR-Zeit weit weniger Vermögen ansammeln als gleichzeitig die Westdeutschen in vergleichbarer Position. Auch in drei Generationen wird es deshalb im Westen mehr Vermögensmillionäre geben als im Osten. Aber hängt denn daran wirklich die Lebenszufriedenheit derer, die kein Millionenvermögen haben? Auch im Westen muss die Mehrheit mit der Tatsache leben, dass sie keine Millionäre sind.
Niemand zwingt Ostdeutsche, sich als Bürger zweiter Klasse zu verstehen. Aber wenn sie sich das einreden lassen, kann sie auch niemand hindern, sich so zu verstehen. Dass im Ganzen für das Wohlergehen der Ostdeutschen im Einigungsprozess nicht genug getan worden sei, diesen Schuh müssen sich Westdeutsche nicht anziehen. Allerdings gibt es in Transformationsprozessen dieses Ausmaßes immer auch Gruppen und Grüppchen, deren besonders vertrackte Situation nicht genug bedacht worden ist.
Daraus ein Charakteristikum des Einigungsprozesses zu machen ist infam. Und es ist eine unbillige Forderung, im Zuge der deutschen Einigung hätten Ostdeutsche so gestellt werden müssen, als hätten sie vierzig Jahre nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik gelebt. Bei der Rentenberechnung wird das übrigens ungefähr so praktiziert, andernfalls gäbe es im Osten, errechnet aus den tatsächlichen Beitragszahlungen, nur Hungerrenten.
II
Zwei Drittel der Spitzenpositionen in den östlichen Bundesländern sind von Westdeutschen besetzt. Das bestreite ich nicht, habe aber zwei Fragen. Empfindet das die Mehrheit der Ostdeutschen als Fremdbestimmung? Und wie ist es dazu gekommen?
Die Ablösung der Altkader
Kurt Biedenkopf, Bernhard Vogel, Erwin Sellering waren als Westdeutsche Ministerpräsidenten ostdeutscher Länder und als solche hochgeschätzt – und übrigens durch freie Wahlen in ihre Ämter gelangt. Lothar Späth ist in Jena wie ein Heiliger verehrt worden.
Das Justizwesen hatte in der DDR einen ausgesprochen schlechten Ruf. Sehr schnell aber hat sich ein neues Zutrauen zur Justiz gebildet, denn inzwischen prozessiert man im Osten genauso häufig wie im Westen. Die Richter kommen aber sehr oft aus dem Westen. Ich bezweifle, dass umgeschulte SED-Richter ebenso schnell das Zutrauen zur neuen Justiz erwirkt hätten und beziehe mich dabei auf Erfahrungen in anderen ehemals sozialistischen Ländern, in denen die rechtsstaatlichen Verhältnisse erheblich zu wünschen übrig lassen. Die Altkader waren doch in Sachen Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft zumeist blutige Laien. Der MDR veröffentlichte die Ergebnisse der Leipziger Untersuchung bereits im Frühjahr 2016 unter der Überschrift „Wer beherrscht den Osten?“, dem folgten 2017 zwei Fernsehdokumentationen, ebenfalls unter diesem Titel.
Doch das Wort „beherrschen“ wird mit Unterdrückung und Fremdbestimmung assoziiert und setzt einen gemeinsamen Willen der Herrschenden gegen die Beherrschten voraus. Davon kann nun bei jenen zwei Dritteln Westdeutscher in ostdeutschen Führungsetagen gar keine Rede sein. Einige mögen im Osten eine Karriere gemacht haben, die ihnen im Westen nicht möglich war. Die meisten machen, soweit ich das beobachten konnte, einen guten Job, engagieren sich zudem sehr oft viel stärker zivilgesellschaftlich als manche Einheimische und finden für beides auch vor Ort Anerkennung.
In Monarchien und Diktaturen ist entscheidend, wer herrscht. In einem demokratischen Rechtsstaat herrscht aber streng genommen nicht jemand, sondern etwas, nämlich Recht und Gesetz. Entscheidend ist dann, ob die Amtspersonen Recht und Gesetz anwenden. Woher sie stammen, ist dann zweitrangig. Normalerweise sollten allerdings in den Chefsesseln „Landeskinder“ angemessen vertreten sein. Aber die deutsche Vereinigung war nichts Normales. Übrigens: was würde sich denn verbessern, wenn alle ostdeutschen Chefsessel mit Ostdeutschen besetzt wären? Ist es das wärmende Gefühl, dass „wir“ dann „unter uns“ sind? Also ethnische Reinheit? Ich danke bestens. Denn mir sind keineswegs alle Ostdeutschen sympathisch. Manche sind mir nicht einmal vertrauenswürdig.
1989 hat in der DDR eine Revolution stattgefunden, und zu der gehört ein Elitenwechsel. Der begann noch 1989, als in Betrieben und Schulen die Beschäftigten neue Direktoren wählten, sozusagen spontandemokratisch, denn eine Rechtsgrundlage gab es dafür gar nicht. Allerdings blieb dieser inneröstliche Elitenwechsel unvollendet. Die Überprüfung der Richter etwa war noch nicht abgeschlossen, da kam am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit und die Neugründung der östlichen Bundesländer. Das rechte Maß beim Elitenwechsel zu finden ist eine schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite besteht die Gefahr der Seilschaften alter Kameraden, die das Neue mit dem alten Ungeist vergiften, auf der anderen Seite die Gefahr des Dilettantismus der Neuen, zwei Gefahren, die auch nach 1945 bestanden, die eine stärker im Westen, die andere stärker im Osten.
Beitritt oder „Anschluss“?
Bei der freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 standen sich zwei Konzeptionen für den Weg zur deutschen Einheit gegenüber. Der eine Weg war die Anwendung des Artikels 23 des Grundgesetzes: die DDR tritt dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei, übernimmt also prinzipiell die Ordnungen der Bundesrepublik. Dafür sprach zweierlei: der Beitritt konnte schnell vollzogen werden und bedurfte nicht der Zustimmung der Bundesrepublik. Und Eile war geboten, weil niemand wusste, wie lange sich Gorbatschow an der Macht halten wird.
Die Befürworter des Beitritts bekamen bei der freien Volkskammerwahl 68,9 Prozent der Wählerstimmen. Bündnis 90 (Neues Forum, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Demokratie jetzt), die Helden des Herbstes, plakatierte dagegen: „Artikel 23: kein Anschluss unter dieser Nummer“. Das Wort „Anschluss“ hatten die Nazis für die Einverleibung Österreichs gebraucht. Artikel 23 wurde also durch diese Wortwahl als Überwältigung, wenn nicht gar als Kolonisierung der DDR gebrandmarkt. Manche vertreten diese Deutung bis heute.
Bündnis 90 war nicht gegen die deutsche Vereinigung. Aber es wollte erst die DDR aufräumen, ihr eine neue Verfassung geben (die „Verfassung des Runden Tischs“, die dieser aber nie verabschiedet hat, weil sie am Ende seiner Tätigkeit noch nicht fertig war), dann auf Augenhöhe mit der Bundesrepublik in Verhandlungen über eine neue gemeinsame deutsche Verfassung eintreten und sich danach erst vereinigen. Ein schöner Gedanke, für den man aber sehr viel Zeit brauchte, eine stabile DDR-Regierung, die tiefgreifende Wirtschaftsreformen durchsetzen konnte, und passable Staatsfinanzen. All das war aber 1990 nicht gegeben. Die DDR war damals ein Staat in Auflösung.
Zudem brauchte dieser Plan in der Bundesrepublik Zweidrittelmehrheiten für eine neue gesamtdeutsche Verfassung und die waren keineswegs sicher. Das Grundgesetz habe sich bewährt, eine Überarbeitung genüge vollkommen, hörten wir von dort. Aber auch die Mehrheit der DDR-Bürger sah im Beitritt den besten Weg für ihr Ziel: „leben wie in der Bundesrepublik“. Bündnis 90 erlangte für seinen Plan lediglich 2,9 Prozent bei den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990. Die Helden des Herbstes gerieten bei der DDR-Bevölkerung in Ungnade, weil sie dem Wunsch nach der schnellen deutschen Einigung nicht entsprachen. Nur diejenigen oppositionellen Parteien und Gruppen, die den Beitritt befürworteten, erhielten passable Wahlergebnisse.
Im ersten gemeinsamen Deutschen Bundestag, der am 2. Dezember 1990 gewählt wurde, gab es dann auch keine Mehrheit für eine neue gemeinsame deutsche Verfassung, sondern lediglich eine Mehrheit für eine Überarbeitung des Grundgesetzes.
Ich halte es für einen Fehler, dass der erste gesamtdeutsche Bundestag der Empfehlung des Einigungsvertrags, das modifizierte Grundgesetz einer Volksabstimmung des vereinigten Deutschlands vorzulegen, nicht gefolgt ist. Das war schlechter Stil, aber ein großer Schaden ist daraus für Deutschland nicht entstanden. Wenn es in Deutschland Empörung gibt, dann doch nie gegen das Grundgesetz. Wenn die Abgeordneten aus ihren Wahlkreisen kamen, brachten sie von dort vor allem eine Forderung mit: „wann tretet ihr denn endlich bei?“
Zwei übersehene Probleme
Nur wenige hatten offenbar Verständnis für zwei, nicht für jedermann sichtbare, Probleme.
Das erste Problem war der internationale Zusammenhang. Für die Fragen, die Deutschland als Ganzes betrafen, hatten sich die vier Alliierten der Anti-Hitler-Koalition ihre Letztzuständigkeit reserviert, auch die Sowjetunion, wie sich beim Berlin-Abkommen noch einmal gezeigt hatte. Zur Vereinigung brauchten die beiden deutschen Statten die Zustimmung der vier Siegermächte.
Das zweite Problem bestand in der Frage, wie Artikel 23 des Grundgesetzes angewendet werden soll. Im ersten und bis dahin einzigen Anwendungsfall des Artikels 23, beim Beitritt des Saarlands am 1. Januar 1957, stimmten die Saarländerinnen und Saarländer dem Beitritt mehrheitlich zu und der Bundestag beschloss ohne ihre Beteiligung ein Überleitungsgesetz für das Saarland. So autoritär wollte man die deutsche Einheit nicht vollziehen. Deshalb wurde die Idee eines Einigungsvertrags geboren.
In einer gewaltigen Kraftanstrengung beider deutscher Administrationen wurde versucht, für alle Differenzen, die in 40 Jahren entgegengesetzter Entwicklung entstanden waren, ausgleichende Lösungen zu finden. Das ist nicht vollkommen, aber passabel gelungen – und sicher besser, als wenn der Bundestag allein und ohne die östliche Expertise dies alles aus - eingebildeter – Universalkompetenz durch ein Überleitungsgesetz hätte regeln wollen. Im Westen saß die Sachkompetenz, wohin nämlich die Umgestaltung gehen sollte. Aber wir im Osten hatten die Feldkompetenz. Wir kannten den Status quo, den Ausgangspunkt, besser als die Westdeutschen.
Aufbauhelfer aus dem Westen
Dass nun viele Westdeutsche als Aufbauhelfer in den Osten kamen, manche aus dem Ruhestand, war eine logische Konsequenz der ostdeutschen Option für den Beitritt und wurde damals weithin begrüßt. Ohne diese Aufbauhelfer wären die Länder und Kommunen, Verwaltung, Justiz und Polizei nicht so schnell wieder handlungsfähig geworden. Die meisten von ihnen haben nunmehr den größeren Teil ihrer Berufstätigkeit im Osten verbracht. In der Leipziger Statistik scheinen sie aber lebenslang Westdeutsche zu bleiben. Einmal Wessi immer Wessi. Dagegen haben offenbar die mehr als vier Millionen Ostdeutschen, die seit 1949 die DDR verlassen haben, ihren Status als Ostdeutsche verloren. Wenn sie in den Osten zurückkehrten, waren sie dennoch Westdeutsche. Tolle Logik.
Bei der Wirtschaft war es doch ähnlich. Die Ostdeutschen riefen nach Investoren, die Geld und Knowhow mitbrachten, beides Mangelware im Osten. Die SED-PDS wollte 1989/90 ihre Druckereien der Belegschaft übereignen. Die haben das als Danaergeschenk betrachtet und mit Streik gedroht. Sie wollte lieber einen westdeutschen Eigentümer, der die notwendigen neuen Druckmaschinen anschafft und ihnen dauerhaft Druckaufträge verschafft. Sie verstanden von Wirtschaft mehr als die damalige SED-PDS-Führung.
Bis heute erregen sich Beschäftigte in den östlichen Bundesländern nicht darüber, dass sie in einem Unternehmen von Siemens, VW oder Bombardier arbeiten. Sie erregen sich, wenn Arbeitsplätze abgebaut werden sollen, und beweisen damit, dass sie nicht ideologisch verblendet sind, aber ihre Interessen kennen. In Tschechien ist man stolz auf den Erfolg von Škoda und fühlt sich nicht fremdbestimmt dadurch, dass Škoda zum VW-Konzern gehört, denn das gehört zum Geheimnis des Erfolgs, neben den tschechischen Fachleuten vor Ort.
Wann entstand „das Volk der Ostdeutschen“?
Die Fangfrage: „Wer beherrscht den Osten?“ setzt voraus, dass es da zwei Völker gibt, von denen eines das andere beherrscht. Meine zugegeben steile Gegenthese lautet: das Volk der Ostdeutschen ist erst nach der deutschen Vereinigung entstanden. Zuvor haben sich nämlich Ostdeutsche als Deutsche im geteilten Deutschland verstanden. Diese Haltung hielt am deutsch-deutschen Zusammengehören fest und war deshalb durchaus aufsässig oder gar subversiv. Man war nun einmal DDR-Bürger, aber nicht aus Überzeugung und ohne die Mauer zu feiern.
Die anderen Ostdeutschen verstanden sich im Sinne der SED als sozialistische Internationalisten und teilten die zu Honeckers Zeiten erfundene Theorie von den zwei Nationen auf deutschem (!) Boden, einer kapitalistischen und einer sozialistischen, die sich wie Feuer und Wasser (sprich ewig geteilt) gegenüber stehen, eine These, die mit Logik und Semantik auf dem Kriegsfuß stand. Je mehr die SED in Misskredit geriet, umso stärker wurde in der DDR das Bewusstsein des deutsch-deutschen Zusammengehörens.
Unter Honecker war der Text der DDR-Hymne unterdrückt worden. Noch vor dem Mauerfall zitierte man auf der Leipziger Montagsdemonstration aus dem verlorenen Text der Nationalhymne: „Deutschland einig Vaterland.“ Das war nicht Nationalismus, sondern ein Hilferuf. Man kann wohl sagen: erfreulich naiv affirmativ in der Deutschlandfrage, aber oft auch unbedarft naiv in der geforderten Abgrenzung gegen Rechtsextremismus und Nationalismus. Daran war zu großen Teilen die SED schuld. Denn ihre Faschismustheorie besagte: die „Faschisten“ (das Wort „Nationalsozialismus“ vermied man wegen des zweiten Wortteils) haben den Kommunismus bekämpft (der Antisemitismus der Nazis wurde zweitrangig), aber die Sowjetunion hat sie besiegt. In der DDR wurde durch die Enteignung der Kapitalisten die sozialökonomische Grundlage des Faschismus endgültig vernichtet. Wir stehen auf der Seite der Sieger der Geschichte und die Nazis sind im Westen. Nazis sind demnach immer die anderen.
Trotzdem entstand in der DDR eine rechtsextreme Skinhead-Szene. Die Stasi ging schließlich geballt gegen sie vor mit Gefängnisstrafen. Aber 1990 kamen sie aufgrund der allgemeinen Amnestie frei und fühlten sich nun als Helden. Die Folge ist ein im Osten verbreitetes mangelndes Gespür für notwendige Grenzziehungen zu Rechtsextremismus, Nationalismus und Rassismus. Auch die Führung rechter Parteien kam aus dem Westen
Die rechtsextremen Parteien DVU und NPD waren im Westen entstanden und von Westdeutschen geführt, haben aber im Osten überproportionale Wahlerfolge erzielt. Die AfD ist, nach ihrem Programm geurteilt, keine rechtsextreme Partei, aber wieder gilt: das Führungspersonal sind weitgehend Westdeutsche, aber die größeren Wahlerfolge erzielen sie im Osten. Was ist mit dem Westen los, dass er hier immer das Führungspersonal liefert?
In der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit dem Auschwitz-Prozess sehr viel gründlicher und auch als deutsche Selbstkritik geführt worden. Manche haben aber aus dem Dilemma der deutschen Schuld einen allzu bequemen Ausstieg gewählt: Ich fühle mich gar nicht als Deutscher, ich bin Europäer – oder auch schlicht: Mensch. Sie haben den Verfassungspatriotismus zur höheren Art von Patriotismus erklärt (gegen die Intention Dolf Sternbergers, der dies Wort geprägt hat) und die Bundesrepublik zum postnationalen Staat, der den Nationalstaaten eine Menschheitsepoche voraus sei (gegen die Intention des Wortschöpfers Karl Dietrich Bracher). Sie haben damit aus der Not eine Tugend gemacht und, wie es scheint, nicht bemerkt, dass sie damit schon wieder einen deutschen Sonderweg beschreiten, zu dem unsere Nachbarn sagen: typisch deutsch: immer ganz was Besonderes sein wollen.
Während ostdeutsche Demonstrantinnen und Demonstranten im Verlauf der Friedlichen Revolution mitunter skandierten: „Deutschland einig Vaterland“, fand in Frankfurt/Main am 12. Mai 1990 eine Demonstration der radikalen Linken mit 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt unter der Losung „Nie wieder Deutschland! Gegen die Annexion der DDR! Gegen den deutschen Nationalismus!“. In der ersten Reihe waren damals mit Claudia Roth, Jutta Ditfurth und Angelika Beer auch prominente Grüne zu sehen. Auf solche Haltungen bezieht sich der kürzeste Einigungswitz aus der damaligen Zeit: Der Ostdeutsche ruft begeistert: „Wir sind ein Volk“ und der Westdeutsche antwortet mürrisch: „Wir auch“. Die westdeutschen Grünen scheiterten am 2. Dezember 1990 bei den Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag mit 3,8 Prozent der Zweitstimmen an der Fünf-Prozent-Klausel. Nur Bündnis90/Grüne aus den Neuen Deutschen Ländern errangen acht Sitze im Parlament.
Nach 1990 bin ich öfters zu Veranstaltungen eingeladen worden, deren Thema lautete: „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“. Vorausgesetzt war, dass jeder die Fortsetzung kennt: „so bin ich um den Schlaf gebracht“. Das ist von Heinrich Heine, so viel erinnerte ich mich noch, aber was bringt ihn um den Schlaf? Da musste ich nachschlagen. Und was fand ich da? Nicht die Klage um ein ur-böses Mysterium Germaniae, sondern: „Nach Deutschland lechtst‘ ich nicht so sehr, wenn nicht die Mutter dorten wär. Das Vaterland wird nie verderben, jedoch die alte Frau könnt sterben.“
Bekanntlich ist Europa in der Migrationsfrage gespalten und Deutschland auch. Die Skepsis gegenüber Zuwanderung ist in den östlichen Nachbarländern sogar stärker als in Ostdeutschland. Das hängt auch damit zusammen, dass in den ost- und mittelosteuropäischen Ländern die Befreiung von der sowjetischen Vorherrschaft als Befreiung zur eigenen Nationalität, in den baltischen Ländern sogar als Befreiung von der Gefahr der Vernichtung der eigenen Nationalität durch Russifizierung verstanden wird.
„Was ist mit den Sachsen los?“
Aber Pegida in Dresden und im August 2018 Chemnitz – was ist mit den Sachsen los? Ich hatte einen Westverwandten, der in der Ostberliner Ständigen Vertretung der Bundesrepublik beschäftigt war. Der hat mir im letzten Jahr der DDR erzählt, Vertreter des Rates des Bezirkes Dresden hätten angeregt, einen Transponder (Verstärker) in Löbau zu errichten, damit auch in Dresden und östlich davon Westfernsehen empfangen werden kann. Denn sie hätten festgestellt, dass dort, wo kein Westfernsehen empfangen werden kann, die Anzahl der Ausreiseanträge besonders hoch sei. Allerdings habe die DDR dafür nicht die notwenigen Devisen, das müsste die Bundespost finanzieren. Daran ist die überraschende Idee gescheitert.
Aber die Beobachtung war richtig. In der DDR nannten wir die Gegenden ohne Westfernsehen „das Tal der Ahnungslosen“, nämlich von Dresden bis zur Neiße und rings um Greifswald. Wer via Fernsehen am Leben in der Bundesrepublik teilnahm, hat auch etwas von dem westdeutschen Aufbruch seit 1968 mitbekommen und über die politischen Magazine auch etwas von den Schattenseiten der westdeutschen Wirklichkeit.
Obwohl man über den Deutschlandfunk ebenso hätte informiert werden können, bildete sich doch in den Gegenden ohne Westfernsehen ein superidealisiertes Bild von der Bundesrepublik. Das konnte man auch bei Helmut Kohls Besuch von Dresden am 19. Dezember 89 beobachten. Da gab es ein Plakat mit dem Text: „Helmut, nimm uns an der Hand, führ uns in das Wirtschaftswunderland“. Derartig infantile Plakate hat es weder in Ost-Berlin noch bei den Leipziger Montagsdemonstrationen gegeben. Die Folge maßloser Erwartungen musste die maßlose Enttäuschung sein, wie sie heute manche Migrantinnen und Migranten aus Afrika erfahren, wenn sie sich nicht, wie von Schleppern versprochen, im geschenkten Haus, sondern im Flüchtlingsheim wiederfinden.
Man muss sich vor monokausalen Erklärungen hüten. Auch Görlitz lag im Tal der Ahnungslosen, aber Pegida hat dort keine Erfolge, wohl aber die AfD. In Leipzig gab es analog eine Bewegung Legida, sie ist aber längst verstummt. Nur in Dresden hat Pegida bis heute kontinuierlich ihre Montagsdemonstrationen abgehalten und immer mehr Demonstrierende als Gegendemonstrierende auf die Straße gebracht. Woran liegt das? Leipzig war durch die Messe einmal jährlich weltoffen und täglich via Westfernsehen Zaungast des Westens. Dresden dagegen pflegte den Nimbus der Residenz, die Kunst und Kultur mehr pflegte als Weltoffenheit und Politik.
Stimmungsmache, die Stigmas schafft
Was aber in Chemnitz passiert ist, das könnte sich in vielen deutschen Städten wiederholen: Nach einem Tötungsdelikt Ende August 2018 in Chemnitz an einem Deutsch-Kubaner fiel der Verdacht auf Migranten, inzwischen wird der Fall vor Gericht verhandelt. Damals riefen rechtsextreme Hooligans, die sich „Kaotic Chemnitz“ nennen, 150 bis 200 sehr gut vernetzte Mitglieder haben, vom Verfassungsschutz beobachtet werden und beim einheimische Fußballverein Stadionverbot haben, via Facebook zu einer Demonstration auf, ebenso die AfD. Beide Demonstrationen an jenem 1. September 2018 vermischten sich. Mit Gegendemonstranten kam es zu Rempeleien und offenbar auch zwischen Einheimischen und vermeintlichen Ausländern. Ein im Fernsehen ausgestrahltes Video zeigte Szenen einer schnell in Medien so bezeichneten „Hetzjagd“ und am Abend gab es einen gezielten Angriff mit Steinen von etwa zehn Personen auf ein jüdisches Restaurant. Rechtsextreme Hooligans und Gewalttäter sind ein großes Problem! Die überwiegende Mehrheit der Chemnitzer dagegen ist kein Problem. In vielen Medien stellte sich das aber anders dar: alles typisch ostdeutsch.
Auch in Kandel gab es im Dezember 2017 ein Todesopfer. Ein Flüchtling hatte eine 15-jährige erstochen, seine zeitweilige Freundin. Auch ein Jahr danach fanden dort noch konfrontative Demonstrationen statt, zu denen Auswärtige anreisten. Die mediale Erregung aber war bei Kandel weit niedriger als bei Chemnitz. Kandel liegt in der Pfalz und nicht in Sachsen. Es gibt im Westen, also im Mehrheitsdeutschland, durchaus die Tendenz, den Osten zu seinem Nachteil und zur eigenen Entlastung zu exotisieren und zu stigmatisieren.
Der diesbezüglich krasseste Fall war der tragische Tod eines 6-jährigen Kindes im Sebnitzer Stadtbad im Juni 1997, der drei Jahre später, im November 2000, plötzlich durch Medien als kollektiv verheimlichter öffentlicher Mord gedeutet wurde. Doch am Ende der Ermittlungen stellte sich keine Gewalttat, sondern Herzversagen als Todesursache heraus.
III
Die gegenwärtigen Diskussionen um die sogenannte Nachwendezeit leiden an einer enormen Verkürzung der Erinnerung. Für die damaligen Massenentlassungen wird weithin pauschal die Treuhandanstalt verantwortlich gemacht ohne Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie die DDR-Wirtschaft in die Marktwirtschaft überführen sollte. Auch der Vergleich mit anderen ehemals sozialistischen Ländern unterbleibt.
Das Treuhand-Dilemma
Im Folgenden sollen die extrem ungünstigen Rahmenbedingungen beschrieben werden, unter denen die Treuhand ihre Arbeit in Angriff nehmen musste. Um meine Einschätzung vorwegzunehmen: hätte die Treuhand keine einzige Fehlentscheidung getroffen, hätte der Ausstieg aus der Zentralen Planwirtschaft dennoch zu Massenentlassungen und Betriebsschließungen führen müssen – wie übrigens in allen anderen ehemals sozialistischen Ländern, wenn auch zeitlich gestreckt, denn sie haben keine plötzliche Grenzöffnung erlebt.
Die Arbeit der Treuhand soll hier nicht beurteilt werden. Dafür sollten wir die ersten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse abwarten, die nach der vorfristigen Öffnung der Treuhandakten in etwa ein bis zwei Jahren zu erwarten sind.
Aber einige umlaufende Vorurteile zur Treuhand seien hier aufgezählt: Die Treuhand habe der Marktbereinigung gedient und lästige Ostkonkurrenz aus dem Wege geräumt. Westdeutsche Unternehmen hätten Ostbetriebe gekauft, um sie dann platt zu machen. Die Maschinen, die vollen Auftragsbücher und die Patente hätten sie mit nach Westen genommen. Durch die Treuhand sei es zu einem Vermögenstransfer von Ost nach West gekommen, durch den die Zahl der westdeutschen Millionäre damals deutlich angestiegen sei. Wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche um denselben Betrieb beworben haben, sei dem Ostdeutschen ein für ihn unerschwinglich hoher Preis genannt worden, danach sei der Betrieb weitaus billiger dem Westdeutschen überlassen worden, oft heißt es: für 1 DM. Die DDR-Wirtschaft war in Ost und West gut integriert. Jeder hatte einen Arbeitsplatz und Ostwaren waren begehrt. So hätte es bleiben können, wenn die Treuhand nicht verderblich eingegriffen hätte.
Nichts davon ist aus meiner Sicht korrekt belegt und bewiesen. Das sind Gerüchte – von kriminellen Machenschaften abgesehen. Die Wirtschaft der DDR hat bis zur Maueröffnung, wie unter einer Käseglocke von den Weltmarktbedingungen abgeschirmt, einigermaßen funktioniert, nämlich bei geschlossenen Grenzen, restriktiv reguliertem Export und Import, einer reinen Binnenwährung, die nicht gehandelt werden durfte und alternativlosen Handelsbeziehungen innerhalb des sozialistischen Lagers (RGW) über „Verrechnungseinheiten“ (Transferrubel) und, davon strikt unterschieden, mit dem „nichtsozialistischen Währungsgebiet“ (NSW) in Devisen.
Trotzdem war die DDR-Wirtschaft weder stabil noch gesund. Nach Auffassung des obersten Planungs-Chefs Gerhard Schürer (SED) bestand ein enormer Reformbedarf. Investitionen seien zugunsten des Konsums Jahrzehnte lang unterblieben, neu entwickelte Produkte konnten nicht in die Produktion eingeführt werden, die Hälfte der Anlagen sei verschlissen usw. Sein Reformprogramm sah eine erhebliche Reduktion überflüssiger Arbeitsplätze vor, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen - also Arbeitslosigkeit auch ohne deutsche Einheit. Ohne zusätzliche Westkredite drohe der Staatsbankrott und eine Reduktion des Lebensstandards um 30 Prozent, was die DDR unregierbar machen werde (sog. Schürer-Gutachten vom 30. Oktober 1989).
Viele stellen sich heute die DDR-Unternehmen vor wie Westunternehmen, bloß mit Ostgeld, die ihren Gewinn an den Staat abführten. In Wahrheit bekamen die Betriebe von der Planungsbehörde das Material, Löhne und Preise sowie die Produktpalette vorgeschrieben und hatten „den Plan“ zu erfüllen. Sie waren in den Staatshaushalt integriert und hatten gar keine eigene Zuständigkeit für Kalkulation und Bilanz. Schon diese Umwandlung der Betriebe in eigenverantwortlich agierende Einheiten war eine Mammutaufgabe.
Mit der ungeplanten und unvorbereiteten Öffnung der Mauer war eine zeitlich gestreckte Reform der DDR und ihrer Wirtschaft unmöglich geworden. Da niemand Zollkontrollen an der innerdeutschen Grenze einführen wollte, konnten, anders als etwa in Polen oder der CSFR, die einheimischen Waren nicht auf Zeit durch Zölle vor den attraktiveren Westwaren geschützt werden. Die Ostmark wurde nun plötzlich gehandelt, worauf ihr Kurs zunehmend verfiel (bis zu 1:20).
Dem ostdeutschen Wunsch nach einer schnellen Währungsunion zum Kurs 1:1 ist die Bundesregierung trotz erheblicher ökonomischer Bedenken gefolgt (allerdings 1:2/1:1, im Resultat 1:1,7), um den ungebremsten Migrationsstrom von Ost nach West zu reduzieren. Tatsächlich ging er nach Ankündigung der Währungsunion um 85 Prozent zurück.
Die Währungsunion hat die Krise der DDR-Wirtschaft nicht verursacht, sondern nur ausgelöst, indem sie ihre Schwäche unter Weltmarktbedingungen schlagartig offengelegt hat. Aber mit der Währungsunion wurde auch die erste Tatsache auf dem Weg zur deutschen Einheit geschaffen – und damit dieser Weg nach menschlichem Ermessen unumkehrbar gemacht, was zumal dem ostdeutschen Wählerwillen entsprach und sie, obwohl ökonomisch hochproblematisch, politisch rechtfertigen konnte.
Die meisten Ostdeutschen wollen bis heute nicht wahrhaben, dass ihr sehnlicher Wunsch: die D-Mark sofort und 1:1, unvermeidlich viele Arbeitsplätze kosten musste. Deshalb ist es allgemein üblich geworden, die oben aufgezählten Sachverhalte, Probleme und Aporien zu verschweigen und zu vergessen und alle mit der Einigung verbundenen Übel und Schmerzen der Treuhand zuzuschreiben, die mit den oben genannten Sachverhalten überhaupt nichts zu tun hatte. Sie waren ihr vorgegeben.
West-Waren contra Ost-Waren
Durch die Währungsunion kam es zu einem immensen Einbruch der Nachfrage nach Ostprodukten, oder: die ostdeutsche Wirtschaft verlor massenhaft Kunden. Und ein Unternehmen ohne Kunden muss schließen. Wie kam es dazu?
(a) In Ostdeutschland entstand eine übermächtige Nachfrage nach Westwaren, weil sie teils vielversprechender, von besserer Qualität und nun zudem billiger waren (von den subventionierten „Waren des täglichen Bedarfs“ abgesehen), oder weil sie im Osten bis dahin überhaupt nicht zu haben (z.B. PCs) – oder auch nur schöner verpackt waren (Lebensmittel). Aber Ost-Waren produzieren und West-Waren konsumieren, das konnte auf Dauer nicht funktionieren. Der Aufbau Ost wurde zum Konjunkturprogramm für den Westen. Dadurch stieg tatsächlich die Zahl der westlichen Millionäre, nicht aber durch Machenschaften der Treuhand, wie manche behaupten.
(b) Der Export in den Westen brach unweigerlich zusammen, als Lohn und Material in DM bezahlt werden mussten, weil dadurch die Westpreise nicht mehr durch den Verrechnungskurs 1:4,5 unterboten werden konnten.
(c) Und die sozialistischen Länder (RGW) beschlossen am 9./10. Januar 1990, ab 1991 den Handel innerhalb des RGW vom „Transferrubel“ auf Devisen umzustellen. Für die RGW-Länder gerieten daraufhin DDR-Produkte in Konkurrenz zu südostasiatischen Waren – und zogen den Kürzeren. Ein Handelsabkommen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion von 1991 über 21 Milliarden DM, das Lieferungen der DDR fortsetzen sollte und für ostdeutsche Betriebe ein kleines Konjunkturprogramm gewesen wäre, wurde zur Makulatur, als die Sowjetunion zerfiel und Russland zahlungsunfähig wurde.
Hinter der Treuhand als Prügelknabe verschwindet zum einen die Verantwortung der SED für ihre desaströse Wirtschaftspolitik. Obwohl wir als DDR-Bürger täglich die Leistungsschwäche unserer Wirtschaft vor Augen hatten und verspottet haben, scheint nunmehr die Treuhand eine blühende DDR-Wirtschaft ruiniert zu haben. Schlimmer noch: was die SED zu verantworten hatte, wird nun auf dem Umweg über die Treuhand der Bundesregierung und schließlich „dem Westen“ in die Schuhe geschoben.
Manche lasten gar ostdeutsche Ausländerfeindlichkeit mit küchenpsychologischen Argumentationen der Treuhand und damit der Bundesregierung an. Dies ist geeignet, das Klima zwischen Ost und West zu vergiften. Dass dies bis jetzt nicht geschehen ist, liegt wohl daran, dass auch im Westen sehr viele aufgrund eines antikapitalistischen Affekts bereit sind, der Treuhand das Schlimmste zuzutrauen.
Die Wiederkehr der SED-Perspektive?
Es ist eine fatale Ironie der Geschichte, dass für den Teil Deutschlands, der vierzig Jahre unter den ungünstigeren Bedingungen gelebt hat, auch noch der Einigungsprozess mit erheblichen biographischen Belastungen verbunden war, wie sie gleichzeitig Westdeutschen erspart blieben. Hier ist aber eine Unterscheidung nötig, die verwischt zu werden droht. Aufgrund der wirtschaftlichen Transformation sind viele völlig unverschuldet arbeitslos geworden. Von denen haben sich viele die Freude an der gewonnen Freiheit nicht nehmen lassen und eine neue Beschäftigung gesucht und gefunden.
Dagegen war es ganz in Ordnung, dass viele Träger der SED-Herrschaft ihre privilegierte Stellung verloren, weil sie entweder nicht gewählt wurden oder die Eignung für ihren Posten unter den Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft nicht vorweisen konnten. Von denen haben zwar sehr viele in der Wirtschaft mehr als ihr Auskommen gefunden, sie betrachten aber oft den widerfahrenen Positionsverlust als Unrecht, das ihnen „der Klassenfeind“ zugefügt habe. Im Herbst 1989 hat aber in der DDR eine Revolution stattgefunden, zu der immer auch Entmachtungen und Elitenwechsel gehören. Ohne diese Revolution wäre es weder zur Maueröffnung noch zur deutschen Vereinigung gekommen.
Gegenwärtig droht die Gefahr, dass die Ost-Ost-Gegensätze der Revolution vergessen und ersetzt werden durch einen Ost-West-Gegensatz der angeblichen Kolonisation und Unterdrückung, der generalisierend die Ostdeutschen zu Opfern der Bundesrepublik oder doch ihrer Regierung stilisiert. Man kann darin einen späten Sieg der SED-Perspektive sehen. Das müssen wir uns nicht bieten lassen.
Obwohl die Wirtschaft der DDR spätestens seit der Währungsunion aus den Fugen geriet, ist dank der Abfindungen bei Betriebsschließungen, der westdeutschen Sozialstandards, des Fortbestands der DDR-Sparguthaben und der Übernahme der Staatsschulden der DDR in den Erblastentilgungsfonds der Lebensstandard im Osten nicht gesunken, sondern gestiegen. Er ist bis heute der höchste in allen ehemals sozialistischen Ländern, in denen übrigens die Staatsschulden zumeist durch Inflation geschrumpft wurden. Das hatte den Verlust der Sparguthaben und mindestens vorübergehend extreme Altersarmut und Hungerlöhne im öffentlichen Dienst zur Folge. Den Ostdeutschen ist dagegen durch die Vereinigung viel Hartes und Unerfreuliches erspart geblieben. Dankbarkeit sollte man nie einfordern. Aber Undankbarkeit ist schäbig und verletzt.
„Wutig ist eine Minderheit. Aber viele sind erregt“
Die Bundesdeutschen haben seinerzeit die Demokratie unter den Bedingungen des „Wirtschaftswunders“ schätzen gelernt. Die Ostdeutschen sprechen sich mehrheitlich für Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie aus, obwohl sie sie unter Bedingungen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs kennengelernt haben. So gesehen sind die gegenüber dem Westen niedrigeren Zustimmungswerte eher erfreulich als enttäuschend. Alle Ostdeutschen, auch die, die glücklich sind über das Ende der DDR, haben dennoch auch einen Einigungsschock erlebt.
„So habe ich mir die deutsche Einheit nicht vorgestellt“ war Anfang der 90er Jahre ein geflügeltes Wort. Das Ersehnte sah in der Realität anders aus als ersehnt. Die Fusion von Berlin und Brandenburg ist seinerzeit an den Brandenburgern gescheitert. Häufiges Brandenburger Argument: bloß nicht noch eine Vereinigung!
Im Osten ist die Angst vor einem weiteren Verlust des Gewohnten weit verbreitet. Nur insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen den Einigungserfahrungen von 1990 an und der im Osten häufigen Angst vor Überfremdung.
„Woher kommt die Wut der Ostdeutschen?“ Von der Wut der Ostdeutschen kann gar nicht die Rede sein. Wutig ist eine Minderheit. Aber viele sind erregt und die AfD versteht es, diese Erregung zu nutzen.
Die AfD ist kein ausschließlich ostdeutsches Problem, zumal die Führungsriege weitgehend aus Westdeutschland stammt. Die unstrittig höheren ostdeutschen Wahlerfolge der AfD beruhen aus meiner Sicht darauf, dass die AfD die einzige Partei war, die Bedenken gegen die anfangs unbegrenzte Massenimmigration mit ihrem Höhepunkt 2015 propagierte. Zwar ist einerseits Angst vor Überfremdung dort am stärksten, wo Erfahrungen mit der Einwanderin und dem Einwanderer nebenan fehlen. Doch Ostdeutsche sagen auch oft: Parallelgesellschaften, wie wir sie in manchen westdeutschen Stadteilen und Berlin kennengelernt haben, wollen wir bei uns nicht haben, auch wenn es statistisch dafür überhaupt keine Anhaltspunkte gibt.
Sie befürchten, fremd im eigenen Lande zu werden. Zur Antwort bekommen sie aber nicht beruhigende Argumente und Maßnahmen, die diese Gefahr bannen, sondern oft den Vorwurf, sie seien Rassisten oder gar Nazis. Diese Polarisierung hat bei vielen im Osten das Vertrauen in Politik und Medien nachhaltig beschädigt.
Meine Quintessenz
Jede erfolgreiche Therapie setzt eine zutreffende Diagnose voraus. Die Diagnose: viele Ostdeutsche wählen die AfD und zeigen wenig Berührungsängste zu Pegida und Rechtsextremen, weil sie im Einigungsprozess durch westliche Dominanz gedemütigt worden sind, halte ich für falsch.
Ich möchte aber nicht ausschließen, dass viele Ostdeutsche sich das bei gehörigem medialem Trommelfeuer einreden lassen. Jeder ist heute gern Opfer, weil das Ansprüche begründet. In Wahrheit trauen nach einer Umfrage nur drei Prozent der Befragten der AfD zu, die anstehenden Probleme lösen zu können. Gewählt wird sie aber von bis zu 27 Prozent (so bei der Bundestagswahl in Sachsen), ausschließlich also aus Protest. Protest wogegen?
Vorreiter von AfD und Pegida: NPD-Aufzug in Rostock 2006 mit vereinnahmter Parole aus der Friedlichen Revolution.
AfD-Wähler erklären mehrheitlich, dass sie mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden sind. Sie beklagen sich nicht über den Einigungsprozess und auch nicht über die Treuhand. Das liegt doch sehr weit zurück für sie. Aber sie möchten gegen die Migrationspolitik der etablierten Parteien protestieren - aus Überzeugung oder aus diffusen, ihnen eingeredeten Ängsten.
Solange sie die Migrationspolitik der Regierung nicht überzeugt, wird die AfD weiter zulegen. Aber wer eine Partei nur aus Protest wählt, ohne ihr zuzutrauen, dass sie vernünftig regieren kann, nimmt seine Verantwortung als Wähler und Wählerin nicht ernst. Diese Verantwortungslosigkeit von Wählern und Wählerinnen wird allerdings befördert, wenn die etablierten Parteien keine Alternativen in der Migrationspolitik anbieten, sondern den Eindruck vermitteln, dass außer der AfD in der Migrationsfrage alle, Regierungsparteien wie Opposition, bloß beschwichtigen und in der Bevölkerung Ängste nicht ernst nehmen - die leider leicht mobilisierbar und instrumentalisierbar sind.
Jahrgang 1943, Theologe, Philosoph, Publizist und langjähriger Professor an der Evangelischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Im April 1990 wurde er Fraktionsvorsitzender der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der am 18. März 1990 frei gewählten Volkskammer der DDR, später SPD-Bundestagabgeordneter und von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung. In der bpb erschien von ihm 2014 der Band „Irrtümer der Deutschen Einheit“ (Schriftenreihe 1451).