Mein Name ist Christian Bäucker. Ich bin Regisseur des Films HEIMATKUNDE. 1981, im Alter von einem Jahr, kam ich in eine DDR Kinderkrippe. Ein paar Jahre später, im Kindergarten, war es mein großer Wunsch, Kampfflugzeugpilot zu werden. Das ausgegebene Spielzeug und die Abbildungen wagemutiger NVA-Soldaten hatten sich fest in mir verfangen. Ich war auf einem guten Weg, das allgemeine Erziehungsziel einer gebildeten, internationalistischen und patriotisch-sozialistischen Persönlichkeit zu erreichen. Auch wenn ich die BRD nicht kannte, war sie für mich doch Feindesland und all der Hunger und die Kriege auf der Welt hatten ihre Ursache im Kapitalismus. Die USA steuerte das Weltgeschehen und alles, was der Ostblock tat, war lediglich eine Abwehrreaktion auf diese dunkle Übermacht.
Die Normalität des Lügens Über den Dokumentarfilm "Heimatkunde"
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In seinem Dokumentarfilm "Heimatkunde" kehrt Regisseur Christian Bäucker in das Schulgebäude seiner Kindheit in Bärenklau bei Guben zurück. Fast 25 Jahre lang stand es leer. In Interviews vor Ort mit Akteuren und Betroffenen ergründet er die selbst erlebte Manipulation kindlicher Psyche und was es bedeutete zu einer "sozialistischen Persönlichkeit" erzogen zu werden. Er macht nachvollziehbar, auf welchen Grundlagen Diktatur in der DDR gedeihen konnte und ergründet, warum es auch heute noch so schwer fällt, sich eigenem Versagen in der Vergangenheit zu stellen. Mit Folgen im Osten Deutschlands bis heute.
Heimatkunde
Grundschulheft Christian Bäuckers. Die Nationale Volksarmee als Schönschreibübung. (© C.Bäucker)
In der ersten Klasse wurde ich Teil des Kaders der Pionierorganisation. Ich war stolz, Teil einer weltumspannenden Bewegung zu sein. In jedem sozialistischen Land gab es eine vergleichbare Jugendorganisation und das Ziel des Aufbaus einer sozialistischen Weltordnung unter der Führung der Sowjetunion einte uns. Freudig sangen wir: „Soldaten sind vorbeimarschiert im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit.“ Noch heute erklingt die Melodie in meinem Kopf, wenn ich an Schule denke.
Die Zeit nach dem Ende der DDR erlebte ich in Dresden. Wir wohnten in einem der schnell hochgezogenen Plattenbaugebiete der 70er Jahre. Die hellhörigen Bauten umschlossen die Spielplätze und nirgends schienen wir Kinder sicher vor den argwöhnischen Blicken der oft arbeitslosen Erwachsenen. Sie ermahnten uns ruhig zu sein. Und manchmal konnten wir sie belauschen, während sie sich zuraunten: „Genau wie wir es im Staatsbürgerkunde-Unterricht gelernt haben: Kapitalismus ist Krise, wer hätte das gedacht.“ Wie alle ging ich aufs Gymnasium, um zwei Jahre weniger arbeitslos zu sein. Und ja: Gymnasium, das war so eine importierte Idee aus dem Westen, die, wie so vieles andere auch, ungefragt stattfand. Die Kämpfe der vielen Arbeitslosen wurden verloren. Und Solidarität mit den Kalikumpeln: Wozu? Gläserner Starrsinn schielte aus den Augen der Dresdner und Dresdnerinnen. Selbst wenn sie nun in den so sehr ersehnten Westautos saßen.
In der Schule bekamen wir den Druck des Umbruchs zu spüren: Plötzlich mussten wir wieder zu Appellen antreten, bei denen in strengem Ton auf uns eingeredet wurde, dass wir uns anstrengen müssen, um nach dem Abi vielleicht die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu bekommen. All das wirkte einerseits bedrohlich, andererseits aber auch sehr weit weg.
Die Realität spielte sich für mich ohnehin woanders ab, draußen in der „echten Welt“, an einem der unzähligen spannenden Orte, die Dresden damals noch zu bieten hatte. Zu meinem Glück kamen auch immer mehr Menschen aus Westdeutschland in die Stadt, die, anders als ihre wirtschaftlich getriebenen Landsleute, nicht in edlen Hotels wohnten, sondern in kleinen WGs und besetzten Häusern unterkamen. Sie brachten neue Ideen mit und zeigten mir, dass man sich auch ausprobieren kann, ohne gleich an Arbeit oder Zukunft zu denken. Oh, das war spannend, die erste Radiosendung zu moderieren, die erste eigene Ausstellung! In den späten 90ern war Dresden voller Möglichkeiten – und gleichzeitig voller Ablehnung denen gegenüber, die anders waren oder die aus dem Rahmen zu fallen schienen. Zunehmend wurde ich wegen meines Andersseins angefeindet. Erst Jahre später fiel mir auf, dass nicht der „böse Westen“ dahintersteckte, sondern dass sich in den Anfeindungen ein „gewisses Überbleibsel“ der DDR verbarg, das Jahre später sehr wichtig für mich und mein filmisches Schaffen werden sollte.
Verharren in Freudlosigkeit
2014 recherchierte ich bei Pegida-Demonstrationen. „Nun endlich habt ihr es geschafft“, dachte ich. Die Dresdnerinnen und Dresdner formulierten ihren argwöhnischen Blick auf alles andere.
Der Tenor, der von diesen Demos ausging – Ausländerhass, Verschwörungstheorien und die Lust, ordentlich und richtig geführt zu werden – waren für mich alles andere als neu. Nur jetzt wurde dies für alle sichtbar. Die nationalistische Prägung, die die DDR hinterließ, war in vielen Ostdeutschen als Essenz geblieben, genauso wie die Freudlosigkeit, aus der sie sich nicht befreien konnten. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Eine Frau hielt jenes bekannte Heine-Zitat auf einem Plakat in die Höhe – und ich dachte innerlich kopfschüttelnd: „So was Verqueres, so ein Verkennen von Progressivität, so eine Fehldeutung von diesem angenehmen Dichter.“
Ich entschloss mich dazu, nach den Wurzeln zu suchen, die dieses „gewisse Überbleibsel“ der DDR-Diktatur hinterlassen hatte. Ich suchte nach einem Weg, es sichtbar zu machen, bildlich, konkret. Auf einer meiner Recherchereisen sprach mich die ehemalige Sekretärin meiner ersten Dorfschule in Bärenklau im Raum Guben an, ob ich nicht einen Film über das nun leerstehende Schulgebäude machen wolle. Und über das, was dort einmal der Inhalt war und gelehrt wurde. Kurze Zeit später fand ich mich in ersten Interviewsituationen wieder und sammelte eine Vielzahl an persönlichen Erfahrungen, vor allem hinsichtlich der von der SED dirigierten Bildungspropaganda und der ganz speziellen Erziehung an DDR-Schulen.
Bildeinstellung aus dem Film Heimatkunde. Alte Schulbücher in einem verwaisten Klassenschrank. (© C.Bäucker)
Schicht für Schicht entblätterte sich vor mir ein System, in dem Kinder - die viel zu jung waren, um die Prozesse geistig zu durchdringen – systematisch Inhalte und Antworten erlernten, die ihr Weltbild prägen sollten. Militärisch angehauchte Disziplin, ein reibungsloser, ruhiger Schulablauf, Erziehung mit nur einem Standpunkt, ohne die Gegenseite zu kennen, eine Ideologie, die ihre gesamte Erzählung mit einem Gut-Böse-Schema überzog. All das wirkte nun unangenehm klinisch und brutal auf mich. In mir erwachten die selbstbewahrheitenden Muster der damaligen Propagandamedien wieder, die heldenhaften, bunten Bilder aus der ABC Kinderzeitung. Auch das Pionier-Lied erklang in meinem Kopf - und es tat gut, zu hören, dass es Karin, einer ehemaligen Lehrerin von mir, genauso erging. Gemeinsam stellten wir fest, dass wir die DDR immer insgeheim verteidigten, wenn jemand schlecht über sie redete. Irgendetwas hatte uns den Drang injiziert, sie argumentativ zu vertreten.
Das "ewig Richtige" im Kopf
Beim Blick in alte Schulbücher und meine alten Arbeitshefte verstand ich: Ich hatte die ideologisch durchsetzten Vorgaben komplett verdrängt, die alltägliche Wiederholung des „ewig Richtigen“ war ins Unterbewusste gewandert, so dass oberflächlich nur die schönen Schulzeit-Erinnerungen blieben. Den Lehrerinnen und Lehrern ging es nicht anders. Auch sie merkten oft erst in den Gesprächen mit mir, wie sehr sie sich damals den Gegebenheiten und Vorgaben unterworfen hatten. Gabi, ebenfalls eine ehemalige Lehrerin von mir, meinte, dass es zu DDR-Zeiten völlig normal gewesen sei, zu lügen. Wie sonst hätte sie den ideologischen Rahmen und die Wirklichkeit in Einklang bringen können? Ich begriff: Den Schulkindern wurde aktiv vorgelebt, dass es in Ordnung war, nicht die Wahrheit zu sagen, nicht deckungsgleich zu sein. Es gehörte schlicht dazu, jedwede Widersprüche einfach glattzubügeln.
Um die darunter liegende Theorie des Erziehungssystems besser durchdringen zu können, verbrachte ich viel Zeit in Archiven, las Schulbücher aus allen Dekaden der DDR. Ich suchte nach Mustern der Erziehung und Mustern, die ideologisches Beiwerk waren. Ich sprach und konfrontierte das ehemalige Lehrpersonal regelmäßig mit meinen Funden. Teilweise wiederholten wir vorgegebene Schulstunden nach Lehrplan. Für die Beteiligten war das ein komplexer, psychologischer Prozess: Nahezu alle von ihnen hatten 1990 die DDR-Schulbücher zugeklappt, Westlehrbücher aufgeklappt und waren dann mit der Aufgabe konfrontiert, nur einfach weiter zu unterrichten.
Der lautlose Übergang vom einen zum anderen trug maßgeblich dazu bei, dass ein Großteil meiner Protagonistinnen und Protagonisten die eigene Laufbahn nie kritisch hinterfragte. Bis ich ins Spiel kam, seltsame Fragen stellte - und sie zurück in die propagierte heile DDR-Welt katapultierte. Gemeinsam tauchten wir immer tiefer in die Schulrealität von damals ein. In jeder nachgestellten Schulstunde wurde ein Lehrziel und auch ein Erziehungsziel hin zur allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit formuliert. Die gesamte DDR-Ideologie lebte nun großflächig in uns auf.
Ob sie glaubten, politischen Unterricht gemacht zu haben, war eine meiner zentralen Anschlussfragen. Aus dem Bauch heraus wurde sie jedes Mal verneint. Schließlich gab es zu DDR-Zeiten ein klar geordnetes Weltbild, das aufgrund seiner Omnipräsenz überhaupt nicht mehr politisch erschien. Aufrüstung etwa bedeutete Friedenssicherung. Und in diesem Sinne war es wichtig und gut, die Kinder über Militärtechnik zu informieren, oder sie mathematische Aufgabenstellungen über die Wirksamkeit von Geschossen durchexerzieren zu lassen. Auch das Weglassen der Judenverfolgung und -vernichtung zugunsten einer übergroßen Erzählung des kommunistischen Widerstands zu Nazizeiten hinterließ offensichtlich keine Widersprüche beim Lehrpersonal.
Der Lehrplan, die darauf abzielenden Lehrbücher und Anleitungen, genannt Unterrichtshilfen - alles passte perfekt zusammen und war darauf angelegt, keine Widerrede zuzulassen. Es gab keine offenen Diskussionen, kein Abwägen, lediglich eine mehr oder weniger vorhandene Bereitschaft der Schülerschaft im Unterricht mitzumachen. Das war Lehralltag in der DDR.
Die schweigsame Leerstelle in alldem wurde Leitmotiv meines filmischen Prozesses. Ich wollte einen Raum der Reflexion erschaffen, ein aktives Erinnern, ein Aufbrechen von unbewusst weiterwirkenden, totalitären Denkmustern. Nach drei kräftezehrenden Jahren, mit vielen strittigen, intensiven und emotionalen Situationen, von der jede einzelne auch zum Abbruch der Dreharbeiten hätte führen können, war mein Film schließlich fertig.
Schulheft aus dem Heimatkundeunterricht von Christian Bäuckers Grundschule in Bärenklau. (© C.Bäucker)
Zuschauen im Verteidigungsmodus
Die Premiere von HEIMATKUNDE in München fand wegen der Corona-Pandemie leider nur online statt. Das erste Screening mit Publikum in Leipzig war dann umso bewegender. Die Kraft des Films entstand genau hier, im Publikum. So, wie die Protagonistinnen und Protagonisten um jedes Wort rangen, um sich der Wirklichkeit zu nähern, so rang nun das Publikum nach den richtigen Worten, nach einer richtigen Deutung ihrer wiedererwachten Erinnerungen. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer gingen erwartungsgemäß in eine Art Verteidigungsmodus, um der DDR beizustehen. Genau wie ich, einige Zeit zuvor, fühlten sie sich animiert, die positiven Seiten ihrer Schulzeit zu betonen. Dieser Reibungspunkt führte zu einer Vielzahl an interessanten, für viele überaus bereichernden Diskussionen.
Emotional wurde es bei der Frage der Schuld. Und die ist nicht einfach zu beantworten: Sehr junge Eltern gaben ihre viel zu jungen Kinder in öffentliche Einrichtungen, zu denen sie keinen Zugang hatten. Das Erziehungspersonal strahlte aus, Kenntnis und Hoheit darüber zu haben, wie man mit den Kindern umzugehen hat. Die Frage der elterlichen Erziehungsverantwortung wurde deshalb nie gestellt – Krippe, Kindergarten und Schule übernahmen alles. Dank des Films und der anschließenden Diskussionen hinterfragten einige Eltern ihre passive Rolle in der damaligen Kindererziehung.
Eine Mutter schrieb mir, wie sie der Film dazu animierte, sich nach Jahrzehnten des Schweigens bei ihrer Tochter zu entschuldigen. Sie schrieb davon, dass es damals nur richtig oder falsch gab, und man sich immer ganz klar nach dem vermeintlich ewig Richtigen verhielt. Heute wisse sie, wie sehr sie mit dem Festhalten am damals Richtigen ihrer Tochter geschadet habe, und wie wenig sie es vermochte, daraus auszubrechen.
Heimatkunde
Als Regisseur des Films bin ich immer wieder von neuem beeindruckt wenn Zuschauerinnen und Zuschauer die Erzählung kreativ auf ihre Lebensrealität übertragen und, wie in diesem Fall, dazu ermutigt werden, aufeinander zuzugehen. Gleichzeitig ist mir bewusst, wie schwer und schmerzhaft es sein kann, sich selbst als propagandistisch beeinflusst wahrzunehmen. Meine Anerkennung gilt den Menschen, die sich diesem Prozess stellen. Ihnen ist mein Film in erster Linie gewidmet.
Zitierweise: Christian Bäucker, "Heimatkunde", in: Deutschland Archiv, 12.12.2023. Link: www.bpb.de/543510. Alle Beiträge im DA sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
Ergänzend:
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Christian Bäucker wurde 1980 in Eisenhüttenstadt geboren. In Dresden schaffte er als ein Kind der Umbruchzeit sein Abitur gerade so nicht. 2001 begann er an der Universität der Künste (UDK) in Berlin sein Studium der Visuellen Kommunikation, wo er Experimentelle Mediengestaltung mit dem Schwerpunkt Experimenteller und Narrativer Film studierte. 2018 gründete er die "5R Filmproduktion GmbH". Sein Dokumentarfilm „Heimatkunde“ entstand 2021/22 in Bärenklau bei Guben.