Der Mitbegründer der Initiative für Frieden und Menschenrechte in der DDR, Wolfgang Templin, beschreibt, wie sich Belarus im Lauf der Jahrhunderte zu einer eigenständigen Nation entwickelt hat, die nun auf den Spuren der Friedlichen Revolution in der DDR versucht, Demokratie zu verwirklichen. Aber das Machtbeharren des Diktators Lukaschenka in Minsk ist ungleich ausgeprägter, als das der SED 1989/90.
Die Republik Belarus mit ihrer Hauptstadt Minsk ist wieder in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Lange Zeit gab es diese Aufmerksamkeit für Belarus und die politischen Zustände dort nicht.
Die gegenwärtigen Massenproteste in Minsk und anderen Städten des Landes lassen bei den Beteiligten an der Friedlichen Herbstrevolution vor 31 Jahren in der DDR Erinnerungen wach werden. Damals gelang es das Unrechtssystem der SED zu überwinden, die DDR-Geheimpolizei „Staatssicherheit“ zu entmachten und die Mauer zum Einsturz zu bringen.
Ein Katalysator der Friedlichen Revolution in der DDR war im Mai 1989 die Aufdeckung massiver Interner Link: Fälschungen der Kommunalwahlergebnisse, was der Opposition weiteren Auftrieb verlieh. "Die Schmerzgrenze war für uns erreicht", schrieben Anfang September 2020 einstige Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler aus der DDR in einem offenen Brief an die Demonstrierenden in Minsk. Sie erinnern in ihrer "öffentlichen Grußadresse" daran, dass auch ihnen 1989 "Ohnmachtserfahrungen nicht fremd" gewesen seien.
Wahlfälschungen zugunsten des Diktators Aljaksandr Lukaschenka wurden am 9. August 2020 auch in Belarus zum Anlass immer stärkerer friedlicher Massenproteste. An deren Spitze stehen vor allem selbstbewusste Frauen, denen Lukaschenka im Wahlkampf pauschal die Fähigkeit zur Politik abgesprochen hatte.
Der jetzt 66-Jährige regiert Belarus seit 1994 und wird oft in Medien als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet, der nicht bereit ist, sein Amt aufzugeben. Der Vorwurf, durch manipulierte Wahlen an der Macht geblieben zu sein, begleitet ihn schon länger.
Ein Blick in die fernere und nähere Vergangenheit des Landes kann helfen, den Hintergrund der Proteste, den Charakter des belarusischen Machtapparates und die Ziele der Protestierenden besser zu verstehen.
Zur Geschichte von Belarus
Die Territorien der heutigen Republik Belarus sind Teil eines geographischen und historischen Raumes zwischen der Nordgrenze des Schwarzen Meeres, dem Oberlauf der Wolga, den Karpaten im Westen und den östlichen Steppengebieten. Ein Raum, der im frühen Mittelalter von einer Reihe ostslawischer Stämme besiedelt wurde, zwischen denen es enge ethnische, sprachliche und kulturelle Verbindungen gab. Verbunden mit dem Einfluss baltischer und gotisch-skandinavischer Stämme und Kulturen, bildeten sich im Zuge der um die erste Jahrtausendwende von Byzanz ausgehenden Christianisierung Herrschaftsgebiete von Stammesführern, die sich zu Fürsten und Großfürsten erklärten. Sie gaben sich den Sammelnamen Rus und hatten ihr bedeutendstes Zentrum im Großfürstentum der Kiewer Rus. Aus der Bevölkerung dieser Herrschaftsgebiete gingen die späteren Russen, Ukrainer und Belarusen hervor.
Rund ein Dutzend Fürsten rang um die Vorherrschaft in den verschiedenen Territorien. Sie sahen sich im Nordwesten mit den damals noch heidnischen Litauern und im Westen mit dem römisch-katholischen Königreich Polen konfrontiert. Die Litauer gingen aus einer Verschmelzung verschiedener baltischer Stämme hervor, in Polen bildete sich die stärkste westslawische Volksgruppe heraus.
Zugleich waren die Territorien der Rus eine Drehscheibe europäischer Wanderungsbewegungen und Handelsbeziehungen. Das Netz von Flüssen, welche sie durchzog, verband die Ostsee mit dem Schwarzen Meer. Die größte Gefahr für die Fürstentümer der Rus kam aus dem Osten. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde der größte Teil von ihnen von gewaltigen Invasionen mongolischer Reiterheere überrannt. Nicht die dauerhafte Besetzung der eroberten Territorien war das Ziel der Mongolen, sondern ein Unterordnungs- und Tributsystem, das die Kooperation einheimischer Eliten einschloss. Rund zwei Jahrhunderte vergingen, bis es gelang, die mongolische Herrschaft abzuschütteln und deren Heere an den Süd- und Ostrand der Rus zurückzudrängen.
Hier lag der tiefste Grund für die dauerhafte Verbindung der westlichen und mittleren Teile der Rus-Territorien mit ihren westlichen und nordwestlichen Nachbarn. Das Polnische Königreich und das Großfürstentum Litauen boten sich ihren zutiefst geschwächten östlichen Nachbarn als Schutzmächte an. Zahlreiche Verträge und eine dynastische Verbindung bereiteten den endgültigen Zusammenschluss beider Reiche vor, der in der Union von Lublin förmlich vollzogen wurde. In der gemeinsamen Adelsrepublik, zu deren litauischem Teil die ostslawischen Rus-Territorien zählten, gab es föderalistische und parlamentarische Momente und Ansätze zu einer Gewaltenteilung, die den östlichen, der byzantinisch-orthodoxen Tradition folgenden Gebieten völlig unbekannt blieb. Die prägende politische Schicht in beiden Teilen der Adelsrepublik war der niedere Adel, der bis zu zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte und über seine Rechte und Freiheiten wachte. Für die gesamte Union galt eine Toleranz, welche religiöse, sprachliche und kulturelle Vielfalt einschloss.
Im Zarenreich
Zur gleichen Zeit entwickelte sich im äußersten Norden der Rus das Großfürstentum Moskau unter Ausschaltung und Inbesitznahme konkurrierender Fürstentümer. Mit Iwan dem Großen bestieg in Moskau ein Herrscher den Thron, der sich in byzantinischer Tradition zum wahren Hüter des Christentums, zum Gottkaiser, zum allmächtigen Zar, zur Verkörperung weltlicher und geistiger Macht in einer Person erklärte. Die Insignien der byzantinischen Macht wie der doppelköpfige Adler bildeten hier nur die äußere Kulisse. Entscheidend war der imperiale Anspruch auf Sammlung der heiligen russischen Erde, ein Machtanspruch, der sich auf alle näheren und ferneren Nachbarn erstreckte.
Unter der Zarin Katharina II. stieg Russland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer der entscheidenden europäischen Großmächte auf. Katharina, die aus einem deutschen Fürstengeschlecht stammte, war mit den Gedanken der Aufklärung vertraut, verwarf sie jedoch für Russland. Dieses Land bedurfte für sie der Orthodoxie und musste mit eiserner Hand regiert werden. Vor allem galt es die Sammlung der russischen Erde voranzutreiben. Dem Expansionsdrang Russlands standen im 17. und 18. Jahrhundert Schweden, das Osmanische Reich und die polnisch-litauische Adelsrepublik entgegen. Schweden schied im frühen 18. Jahrhundert aus dem Konzert der europäischen Großmächte aus. Dem osmanischen Reich bereitete Russland eine Niederlage nach der anderen und drang an seiner südlichen Flanke bis an das Nordufer des Schwarzen Meeres vor. Jetzt standen die Teilungen Polens an.
Russland gelang es im Bündnis mit Preußen und Österreich, Polen für fast anderthalb Jahrhunderte von der Landkarte Europas zu tilgen. In Polen standen Reformkräfte des Adels prorussischen Gegenkräften gegenüber, die den inneren Zerfall beschleunigten, Spannungen schürten und die drei Großmächte um Schutz anriefen.
Russland sicherte sich den größten Teil der territorialen Beute, und ließ den zentralpolnischen Gebieten zunächst eine Scheinautonomie. Die östlichen, litauischen Teile der Adelsrepublik wurden als widerrechtlich geraubte Gebiete angesehen und als heilige russische Erde zu nordwestlichen Gouvernements des Imperiums.
Über das gesamte 19. Jahrhundert teilten Pol*innen, Ukrainer*innen, Litauer*innen, Balt*innen, Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime sowie die belarusische Bevölkerung das Schicksal der Unterdrückung. Aus allen Angehörigen der dort lebenden Bevölkerung sollten russische Untertanen des Zaren werden. Die katholische Kirche, andere Konfessionen und Religionen hatten als Hort des Widerstandes und einer anderen kulturellen Identität in der Orthodoxie aufzugehen.
Wiederholte Aufstände, zum Teil unter Führung polnischer Adliger, in denen Angehörige aller unterdrückten Volksgruppen zusammen kämpften, wurden blutig niedergeschlagen. Dies verschärfte den Druck zur Russifizierung und Unterordnung. Die Anführer der Aufstände landeten am Galgen, zehntausende von Beteiligten mit ihren Familien in Sibirien oder der Emigration. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auch die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung stärker. Ebenso erlebten die litauische Sprache und Kultur, sowie die Rückbesinnung auf eigene historische Traditionen eine Renaissance.
Dazu kam, zunächst von wenigen Intellektuellen getragen, die Suche nach einer eigenen, mit der ostslawischen Völkergruppe verbundenen belarusischen Geschichte, Kultur, und Sprache. Die ersten Ansätze der späteren belarusischen Unabhängigkeitsbewegung waren gegeben. Die baltischen Nationen waren sich ihrer Andersartigkeit und Eigenart ohnehin immer bewusst und rangen um staatliche Eigenständigkeit.
Nach dem Ersten Weltkrieg
Solange die mit dem Wiener Kongress zementierte Ordnung der europäischen Großmächte über Konkurrenzen und Konflikte hinweg stabil hielt, gab es für das Bemühen aller osteuropäischen Unabhängigkeits- und Nationalbewegungen keine wirkliche Chance.
Mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges und dem Untergang aller drei Teilungsimperien (Deutsches Kaiserreich, Russland, Österreich-Ungarn) entstand eine neue Situation. Das im November 1918 wiederentstandene Polen kämpfte an den Verhandlungstischen von Versailles um seine Position als souveräner europäischer Großstaat und neue Grenzen. Dabei sah es sich sehr schnell im Konflikt mit allen seinen territorialen Nachbarn. Die alten zivilen und militärischen Eliten des deutschen wilhelminischen Kaiserreiches, die zu den neuen der Weimarer Republik zählten, waren nicht bereit, ein starkes souveränes Polen als Nachbar zu akzeptieren, das Anspruch auf Territorien erhob, die Preußen im Zuge der polnischen Teilungen zugefallen waren. Militärische Präsenz im Baltikum und auf ukrainischen Territorien bot die Chance, dort nach der Kriegsniederlage im Spiel zu bleiben. Dazu gehörte auch ein offenes und verdecktes Paktieren mit den russischen Bolschewiki, welche das Machtvakuum nach dem Sturz des Zaren nutzten. Beide Seiten waren nie bereit, ein souveränes Polen, die Unabhängigkeit der baltischen Staaten, eine eigenständige Ukraine und ein sich gerade erst formierendes unabhängiges Belarus zu akzeptieren.
Am Rand der Niederlage im Bürgerkrieg stehend, schafften es die Bolschewiki die Oberhand zu behalten und setzten die russisch-imperiale Tradition unter rotem Vorzeichen fort. Sie mussten die Unabhängigkeit Finnlands akzeptieren, ebenso die Eigenständigkeit Lettland, Estlands und Litauens und scheiterten in ihrer Strategie mit Hilfe der polnischen Kommunisten einen Vasallenstaat Sowjetpolen zu schaffen. Für einen anderen Teil der alten Rus-Territorien ging ihr Konzept jedoch auf. Ein Großteil von Ukrainern bewohnter Territorien kam unter ihre Obhut und wurde zur Sowjetukraine. Das Gleiche galt für den östlichen Teil der Territorien von Belarus. Alles, was Lenin zur Unabhängigkeit der Nationen verkündete, war taktischen Rücksichten geschuldet, die später unter Stalin keine Rolle mehr spielten. Folklore, Kultur und die Förderung nationaler Sprachen wurde phasenweise geduldet, solange die Bevölkerung der verschiedenen Nationen die kommunistischen Herrschaftsverhältnisse akzeptierte und verinnerlichte.
Die Hoffnung polnischer sozialistischer und demokratischer Unabhängigkeitskräfte und des polnischen Staatsgründers Józef Piłsudski war auf eine Föderation mit unabhängigen östlichen Nachbarn gerichtet. Ein Bündnis, welches den russisch-imperialen Anspruch im östlichen Teil des Kontinents zurückdrängen konnte.
Für Polen hätte das territoriale Konzessionen gegenüber der Ukraine, Litauen und Belarus bedeutet. Ein Kompromiss, zu dem sich nur eine Minderheit der polnischen Linken bereitfand. Polnische Nationalisten sahen Ukrainer*innen und Belarus*innen als unfähig zur Staatsgründung an. Sie wollten Litauen nur als Zwergstaat akzeptieren und versuchten alle Minderheiten auf dem eigenen Staatsgebiet zu assimilieren. Damit setzten sie sich durch und durchkreuzten alle Föderationspläne. Das unabhängige Polen der Zweiten Polnischen Republik konnte sich knapp zwei Jahrzehnte lang des sowjetischen Drucks erwehren. Aber ab der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war Polen mit dem totalitären Vereinnahmungs- und Auslöschungswillen Hitlers konfrontiert.
Der Hitler-Stalin-Pakt
Der Hitler-Stalin Pakt im August 1939 war mehr als ein taktisches Bündnis zweier ideologischer Todfeinde. Er sollte Hitler helfen, seine Welteroberungspläne durchzusetzen und Stalin bei der Durchsetzung sowjetisch-kommunistischer Hegemonial-Ansprüche in Europa und weltweit unterstützen. Hitlers Rechnung ging nicht auf, Stalins Strategie ließ die von Hitler überfallene Sowjetunion, zum wichtigsten Verbündeten der westlichen Alliierten werden.
Stalin erklärte den von der Sowjetunion besetzten östlichen Teil der Zweiten Polnischen Republik zu wiedergewonnenen ukrainischen und belarusischen Gebieten. Zwischen 1939 sowjetisierte er diese Gebiete mit Terror und Deportationen, schaffte es die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens aufzuheben und sie mit den gleichen brutalen Mitteln zu sowjetisieren.
Als Hitler 1941 seinen Verbündeten und Todfeind überfiel, wurden die Territorien der Ukraine und Belarus zum Zentrum unvorstellbaren Terrors der Wehrmacht und Sondereinheiten. Sie betrieben den totalen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung und ermordeten Abertausende Jüdinnen und Juden, allein 75.000 von ihnen deportierten die deutschen Besatzer ins Minsker Ghetto und ermordeten fast alle. Autor*innen wie Anne Applebaum und Timothy Snyder haben sehr lehrreiche Bücher über die damit verbundenen unermesslichen Tragödien verfasst.
In der Wald- und Sumpflandschaft großer Teile von Belarus, bildeten sich, losgelöst von der regulären Roten Armee, gut organisierte Partisaneneinheiten. Sie konnten der Wehrmacht und den deutschen militärischen Sondereinheiten große Verluste zufügen. Der Partisanenmythos sollte zu einem Identitätsschwerpunkt der neueren belarusischen Geschichte werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Verbündeten, bei der die Rote Armee eine entscheidende und opferreiche Rolle spielte, fiel der Sowjetunion der östliche halbe Teil Europas zu. Auf allen großen Konferenzen der Alliierten, bei denen die Nachkriegsordnung Europas verhandelten wurde – von Teheran bis Potsdam – spielte die polnische Frage, spielte das Schicksal Ostmitteleuropas eine entscheidende Rolle. Die Vertreter der polnischen Exilregierung in London, die auf diesen Konferenzen auftraten, wurden als unliebsame Querulanten behandelt. Wenn „Uncle Joe“, wie man Josef Stalin scherzhaft nannte, ein unabhängiges Polen und freie Wahlen versprach, wollte man ihm fatalerweise glauben.
Die Strategie der kommunistischen Machtübernahme in einem möglichst großen Teil Europas stand fest. Die genauen Schritte und Zeitabfolgen wurden von vielen Faktoren diktiert. Da sich die Sowjetunion völkerrechtlich als Föderation deklarierte, beanspruchte Stalin mit den formal eigenständigen Föderationssubjekten Ukraine und Belarus drei Plätze in der 1946 begründeten UNO. Als die Sowjetunion nach 1989 zerfiel, erleichterte dieser Status der Ukraine und Belarus den Start in die Unabhängigkeit.
In keinem der durch die Militärpräsenz der Roten Armee zusammengezwungenen Länder des Ostblocks hatten die nationalen Kommunisten je die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite. In Polen und den baltischen Staaten (die der Sowjetunion einverleibt wurden) gab es bis in die fünfziger Jahre hinein bewaffneten Widerstand. Sozialdemokratische, liberale und konservative Parteien wurden aufgelöst oder gleichgeschaltet. Ihre Anhänger*innen wurden verfolgt und sahen sich massiven Repressionen ausgesetzt. Das gleiche galt für Kommunist*innen, die nicht bereit waren, sich dem Moskauer Diktat zu beugen.
Die Botschaft der "Kultura"
Eine kleine Gruppe von polnischen und ukrainischen Emigrant*innen, zu denen später auch russische, litauische und belarusische Unterstützer*innen kamen, nahm sich der Frage nach der Zukunft Mittelosteuropas und Osteuropas auf besondere Weise an. Sie sammelten sich in Paris um die Exilzeitschrift Kultura. Weit mehr als eine Zeitschrift, wurde die Kultura über die Jahre ihrer Existenz von 1947 bis 2000 zu einer der wichtigsten Stimmen demokratischen und oppositionellen Denkens. Jerzy Giedroyc, der Begründer und Herausgeber der Zeitschrift, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 leitete, stammte aus einem alten litauischen Adelsgeschlecht und bekannte sich mit Stolz als Mensch des Ostens.
Die Herausgeber und internationalen Mitarbeiter*innen der Kultura waren Realisten. Europäische Teilung und der Eiserne Vorhang, der den Machtbereich der Sowjetunion abschirmte, durften weder einfach akzeptiert, noch konnten sie kurzfristig aufgehoben werden. Es ging um eine langfristige Strategie evolutionärer und revolutionärer Veränderungen.
Der Ausgleich und die Versöhnung mit und unter allen osteuropäischen Nachbarn, auch mit Russland, gehörten dazu. Giedroyc und seine Verbündeten traten für eine unabhängige Ukraine, ein freies Belarus und ein freies Litauen ein. Dabei ging es um mehr als das Föderationskonzept des polnischen Staatsgründers Józef Piłsudskis. Freiheit und Souveränität der Nachbarn wurde als gleichberechtigte Partnerschaft verstanden, die auch Kompromisse abverlangte. Die Forderung, den polnischen Anspruch auf das litauische Vilnius, das ukrainische Lemberg und das belarusische Grodno aufzugeben, grenzte für nationalistische Polen an Landesverrat. Die Positionen der Pariser Kultura wurden von polnischen, ukrainischen und russischen Nationalisten gleichermaßen abgelehnt. Ihre Vertreter wurden als eine Bande jüdisch-trotzkistischer Homosexueller angefeindet, die von Washington ausgehalten würden.
Wer davon sprach, dass der Weg zu einer wirklich souveränen ukrainischen Nation, eines souveränen Belarus, einer späteren besseren Nachbarschaft über die Realitäten der Sowjetukraine und Sowjetbelarus führen müsse, sprach Ungeheuerliches aus.
Die Kultura begleitete den 17. Juni 1953 in der DDR, den Ungarnaufstand von 1956, die polnische Tauwetterperiode, die Prager Reformkommunisten und den letztendlichen Sieg der Solidarność in Polen. Sie sorgte in diesen Dekaden mit dafür, dass die Frage nach dem Weg zu einer freien, souveränen und demokratischen Ukraine, einem souveränen Litauen und einem freien Belarus in den Debatten und Aktionen der osteuropäischen Dissident*innen lebendig blieb, die Bühne der Öffentlichkeit und der Politik nicht völlig verließ.
Eine große Vision
Die friedlichen Befreiungsrevolutionen des Jahres 1989 erfüllten mehr als einen Traum. Sie bedeuteten einen Epochenumbruch in der Geschichte Europas. Nahezu alle offiziellen Akteure wurden von der Wucht der Ereignisse, den Massendemonstrationen und Protesten in zahlreichen Ländern, den Fähigkeiten zur Selbstorganisation der Beteiligten, überrascht und überrannt.
Bronisław Komorowski, der selbst aus der Oppositionsbewegung kam, sprach als erster polnischer Staatspräsident im September 2014 vor dem Deutschen Bundestag. Bezogen auf das Jahr 1989 hielt er fest: „Dies war nicht nur ein Sieg der Diplomatie oder der politischen Bündnisse. In Wirklichkeit veränderte sich Europa durch den Willen der Völker – den Willen der nach Freiheit dürstenden Menschen“.
Dieser Kraft konnte sich in jenem Moment auch der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow nicht entziehen. Er hatte versucht mit Glasnost und Perestroika ein Zwangssystem zu reformieren, das nicht zu reformieren war. Ungewollt hatte er damit den endgültigen Zerfall der Sowjetunion befördert. Einer Sowjetunion, die er um jeden Preis erhalten wollte. Sein Realismus riet ihm, die Auflösung des Ostblocks zu akzeptieren und dort auf den Einsatz militärischer Mittel zu verzichten. Massakern seiner Hardliner im Innern der Sowjetunion, in Georgien und Litauen, widersetzte er sich jedoch nicht.
Befreiungsbewegungen unterdrückter Nationen und Nationalitäten im Völkergefängnis der Sowjetunion gab es selbst in den schlimmsten Zeiten stalinistischen Terrors. Sie lebten in unterschiedlichen Formen und Stärken fort und wurden im letzten Jahrzehnt der Sowjetunion immer stärker. Sie bestimmten auch eine zentrale Auseinandersetzung unter den sowjetrussischen Dissident*innen.
Der Atomphysiker und spätere Oppositionelle Andrej Sacharow war in der Frage der nationalen Souveränität konsequent. Er sah die lang vererbte imperiale sowjetische Zwangsjacke als anachronistisch an. Er setzte konsequent auf Föderationskonzepte mit dem Recht auf Zugehörigkeit oder Austritt. Damit stand er jedoch selbst bei kritischen russischen Intellektuellen und Dissident*innen eher isoliert da. Diese wollten die Sprengkraft der nationalen Fragen entweder nicht erkennen oder hielten sich an den Antipoden Sacharows, den Schriftsteller und Dissidenten Alexander Solschenizyn. Der sah die ostslawischen Stämme der ehemaligen Rus in einer historischen und kulturellen untrennbaren Einheit verbunden, Teil einer ewigen großrussischen Familie. Sowjetnostalgiker und russische Nationalisten sollten sich später immer wieder auf Solschenizyn berufen, wenn es darum ging die Werte und die Kraft eines heiligen Russlands gegen den Einfluss eines aus ihrer Sicht verfaulenden, dekadenten Westens zu verteidigen.
7. Dezember 1991 – Russische Föderation, Belarus und Ukraine gewinnen ihre Unabhängigkeit zurück
Mit Boris Jelzin erwuchs Michail Gorbatschow, der die imperiale Einheit der Sowjetunion mit allen Mitteln erhalten wollte, ein mächtiger Rivale. Im Ringen um die Macht zog Jelzin die nationale Karte. Im Jahre 1991 erreichte der Machtkampf zwischen Gorbatschow und Jelzin seinen Höhepunkt. Mit einem Überraschungscoup beförderte Letzterer den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ins Abseits. Auf einer Regierungsdatsche in einem Naturschutzgebiet 300 Kilometer westlich von Minsk trafen sich am 7. Dezember 1991 Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkjewitsch, die ranghöchsten Repräsentanten der Russischen Föderation, der Ukraine und Belarus. Hinter dem Rücken von Gorbatschow trugen sie mit der Gründung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), die Sowjetunion zu Grabe.
Der belarusische Parlamentspräsident war sich als amtierendes Staatsoberhaupt, der Tragweite und der Risiken dieses Schrittes bewusst. Schuschkjewitsch wusste um die Schwäche der belarusischen Unabhängigkeitskräfte, die Mentalität der belarusischen Bevölkerung, die anders als die Menschen in der Ukraine, mehrheitlich für den Verbleib in der Sowjetunion votierten. Die Bindungen zum großen russischen Nachbarn positiv zu gestalten, die Lage und das eigene Potential von Belarus, auf einem langen Weg in die Eigenständigkeit zu nutzen, schien am Beginn der Ära Jelzin ein realistisches Vorhaben. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gingen die baltischen Staaten ihren Reformweg in Richtung europäischer Union. In Polen zerstritten sich die siegreichen Solidarność-Kräfte und machten einer postkommunistischen Regierung Platz, die aber klugerweise am prowestlichen Reformkurs des Landes festhielt. Die Ukraine bewegte sich auf einem Schlingerkurs vorwärts. Dieser war von einem politischen Kompromiss des Reformkommunisten Krawtschuk mit ukrainischen oppositionellen Unabhängigkeitskräften bestimmt.
In dieser Zeit schien die Vision einer wirklichen Friedensordnung für den gesamten europäischen Kontinent in greifbare Nähe zu rücken, die Lehren aus dem Jahrhundert der Weltkriege und Totalitarismen schienen gezogen. Es war die Vision einer Ordnung, in der freundschaftlich miteinander verbundene souveräne Staaten, gemeinsame Grundwerte und Normen des Umgangs miteinander akzeptieren, in der nicht das Recht des Stärkeren galt. Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand sollten sich wechselseitig bedingen. Die wahren Hürden und Rückschläge sollten jedoch folgen.
Der Weg Lukaschenkas
In Belarus machte der junge Parlamentsabgeordnete Aljaksandr Lukaschenka dem Parlamentspräsidenten Schuschkjewitsch und seinen Anhängern das Leben schwer. Der aus der mittleren Parteinomenklatura stammende Lukaschenka besaß Erfahrungen als Politinstrukteur bei einer Panzerkompanie und als Direktor eines landwirtschaftlichen Großbetriebs, einer Sowchose. Er hing einer engen politischen Bindung an Russland an, unterstützte 1991 den Augustputsch gegen Michail Gorbatschow, lehnte die reformatorischen Vorstöße von Boris Jelzin ab und inszenierte sich zunächst als parlamentarischer Korruptionsbekämpfer. Fälle tatsächlicher Korruption unter Regierungsmitgliedern, die unter seiner Führung aufgedeckt wurden, gingen mit behaupteten Fällen einher, die sich später als haltlos erwiesen. Einer davon betraf Stanislau Schuschkijewitsch, der sich daraufhin von seinen Ämtern verabschiedete und in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einer Oppositionspartei anschloss.
Lukaschenka nutze seine Popularität und öffentliche Präsenz, die ihm bei der Präsidentschaftswahl von 1994 zum Sieg verhalfen. Bereits diese Wahlen stufte die Wahlbeobachtung der OSZE als unfair ein. Lukaschenka ging auf Distanz zum Westen und schlug einen Kurs zurück zur Sowjetzeit ein. Der ersten Wahlperiode sollten vier weitere folgen, die Lukaschenka immer stärker zum autokratischen und diktatorischen Alleinherrscher machen konnten. Alle diese Wahlkämpfe und Wahlvorgänge ließen Zweifel an einem fairen und rechtmäßigen Verlauf zu.
Bereits die erste Amtszeit konfrontierte ihn mit einer zunehmend veränderten Situation in Russland. Die inkonsequenten Reform- und Föderationsansätze des frühen Boris Jelzin endeten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mit einer Niederlage der russischen Reformkräfte. Ihre Vertreter mussten der wachsenden Stärke von Oligarchen und mafiösen KGB-Strukturen weichen. An deren Spitze setzte sich der ‚lupenreine Demokrat‘ Wladimir Putin. Er nahm dem vom eigenen Familienclan umzingelten, immer zielloseren Boris Jelzin, die Zügel der Macht aus der Hand. Von jetzt an waren die Weichen auf eine konsequent aggressive neoimperiale Politik der wiedererstarkenden Russischen Föderation gestellt. Putin erklärte den Zerfall der Sowjetunion zur größten Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts und tat alles in seiner Macht stehende, um seine nächsten Nachbarn, die Ukraine und Belarus wieder an sich zu ketten.
Polen und die baltischen Staaten hatten sich unter den Schutzschirm der NATO begeben und wurden in den Folgejahren zu Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die Magnetwirkung ihres Weges auf die Ukraine, auf Belarus und Russland selbst verfolgte Putin wie ein wiederkehrender Albtraum.
Das Modell Putin
Lukaschenka war der Mentalität und dem Ordnungsregime, welches Putin und seine Silowiki Russland aufzwangen, zutiefst verbunden. Die Methoden, mit welchen Putin die eigene Opposition, kritische Journalist*innen und Kräfte der Zivilgesellschaft bekämpfte und niederzuhalten versuchte, ahmte er nach.
Zugleich wollte er Herr im eigenen, kleinen Imperium bleiben und akzeptierte es, als letzter Diktator Europas gesehen zu werden. Dem Vorschlag Putins, Belarus erneut zu einem westrussischen Gouvernement zu machen, zu einem der Statthalter des russischen Diktators zu werden, mochte er nicht folgen. Eine weitgehende wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wollte er jedoch akzeptieren. Nur dadurch brachte er das Kunststück zuwege, staatswirtschaftliche Strukturen zu erhalten und dennoch der Bevölkerung einen erträglichen und vergleichsweise stabilen Lebensstandard zu sichern.
So versuchte er Belarus als postsowjetische Wärmestube zu erhalten, in der sich die Nostalgie nach sowjetischen Zeiten festsetzte, die Unterstützung für den ewigen Wohltäter ‚Väterchen Lukaschenka‘ anhielt, Sowjetsymbole und Partisanenmythos, die Erinnerung an verschwundene und ermordete Oppositionelle, an politische Häftlinge in den Gefängnissen und die Allpräsenz des belarusischen KGB überdeckten.
Und jetzt?
Lange Zeit schien diese Rechnung aufzugehen. Die meist zerstrittene belarusische Opposition blieb marginal. Lukaschenka konnte eine Krise nach der anderen aussitzen und Konkurrenten aus dem Verkehr ziehen. Sowie sich einende Köpfe der vielpoligen Opposition heraus kristallisierten, kamen sie in Haft, verschwanden spurlos oder verloren unter mysteriösen Umständen ihr Leben.
Bei jeder Geste der Aufmüpfigkeit gegenüber Putin konnte der belarusische Diktator der EU glauben machen, dass es zu Reformen und Liberalisierung in seinem Land kommen könne. Jedoch ohne, dass es dazu kam und Folgen für Lukaschenka hatte. Wogegen er sich jedoch nicht wehren konnte, war der Einfluss, der von seinen nächsten demokratischen Nachbarn ausging, die mit Unterstützung der belarusischen Zivilgesellschaft, mit Stipendienprogrammen für die nachwachsende Generation in Belarus, mit tausend Formen nachbarschaftlicher Kontakte und Hilfe, einen Wandel vorantrieben.
In Polen fanden belarussische Oppositionelle Aufnahme und Unterstützung, entstand mit Belsat ein Fernsehsender, der freien Journalismus praktizierte. In der litauischen Hauptstadt Vilnius konnte eine belarusische Universität ihre Arbeit fortsetzen. Unabhängige Intellektuelle und Künstler*innen aus Belarus, fanden in ganz Europa und weltweit Anerkennung und Wertschätzung.
Nunmehr ist es nicht eine marginalisierte Opposition, ist es nicht eine kulturelle und intellektuelle Elite von Belarus allein, die gegen den Diktator aufbegehrt und ihr vielfältiges Engagement im Internet dokumentiert. Aktiv ist in seiner ganzen Breite das belarusische Bürgertum, unerschrocken, friedlich und undogmatisch.
Vieles erinnert mich an die Entwicklung im Herbst 1989 in der DDR, bei der ja auch eine Wahlfarce die Massenproteste beförderte. Es steht aber zu befürchten, dass Lukaschenka versuchen wird, sich mit verschiedensten Methoden an die Macht zu klammern. Selbst wenn er dabei vor Putin völlig zu Kreuze kriechen muss . Doch es ist diesmal die große Mehrheit der belarusischen Gesellschaft, welcher nach der Wahlmanipulation und dem anschließenden Terror der Sicherheitskräfte der Geduldsfaden riss, und die mit Ihren Protesten nicht müde wird, trotz einschüchterndem Polizeiapparat und immer stärker eingeschränkter Demonstrations- und Pressefreiheit .
Sie haben das Beispiel ihrer Nachbarn vor Augen, deren Demokratien mit all ihren Mängeln funktionieren, in denen elementare Freiheitswerte gesichert sind. Ihr Zeichen an den eigenen Diktator, dass seine Tage gezählt sind, ist zugleich ein Zeichen an den großen Diktator im Osten. Die Menschen in Belarus fühlen sich Russland verbunden und sind stolz ein Teil der Rus-Familie zu sein. Eine Verbindung, welche auch das diktatorische System eines Wladimir Putin überdauern wird.
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Auf dem Weg zu einem freien Belarus", in: Deutschland Archiv, 14.09.2020, Link: www.bpb.de/314788
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine. Er arbeitet gegenwärtig an einer Biografie über den polnischen Revolutionär, Marschall und Staatsgründer Józef Piłsudski, die im März 2022 erscheint.
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