Städte wie Mariupol oder Charkiw und deren Umgebung erleben nicht zum ersten Mal einen Vernichtungskrieg. Vor 80 Jahren verwüstete die Wehrmacht das Land und tötete rund ein Viertel der Bevölkerung. Eine Rückerinnerung von Hauke Friederichs, er zitiert dabei auch aus Briefen des Offiziers Fritz Hartnagel an seine Freundin Sophie Scholl, die im Februar 1943 in München als Widerstandkämpferin hingerichtet wurde.
Am Bahnhof von Mariupol laden deutsche Soldaten Fahrzeuge, Geräte und Waffen aus den Eisenbahnwaggons. Es ist der 30. Mai 1942; nach langer Fahrt ist die Kompanie unter Befehl von Fritz Hartnagel in der Hafenstadt am Asowschen Meer eingetroffen. Am Abend schreibt der junge Wehrmachtoffizier an seine Freundin Sophie Scholl in München: "Als wir gerade beim Ausladen waren, wurden wir ziemlich unsanft hier in Mariupol begrüßt, indem der Russe einige Bomben auf den Bahnhof abwarf, die aber zum Glück in meiner Kompanie kein Unheil anrichteten."
Ein Jahr zuvor, am 22. Juni 1941, hat mit dem Überfall der Wehrmacht der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen. Die Ukraine war einer seiner Hauptschauplätze. Millionen Menschen starben in diesem "bloodland", wie der US-Historiker Timothy Snyder die Region nennt. Sie starben bei Kämpfen, in den Konzentrationslagern und Gaswagen der Deutschen, durch Hunger und Massenerschießungen. Besonders schwer umkämpft waren damals jene Städte im Osten der Ukraine, die heute, 80 Jahre danach, von russischen Truppen angegriffen werden. Charkow etwa (ukrainisch Charkiw), die zweitgrößte Stadt des Landes, wurde binnen zwei Jahren gleich viermal erobert, zweimal von der Wehrmacht, zweimal von der Roten Armee. Am Ende lag sie zu weiten Teilen in Schutt und Asche.
Oberleutnant Fritz Hartnagel aus Ulm machte den deutschen Ostfeldzug – Deckname: "Unternehmen Barbarossa" – von Anfang an mit. Zunächst gehörte der 24-Jährige zur Fernmeldetruppe der Luftwaffe, stellte die Kommunikation zwischen Einheiten sicher. Seiner Freundin Sophie Scholl berichtete er von "scheußlichen Bildern, die einem längs der Vormarschstraßen begegnen". Ins Detail ging er nicht, schließlich bestand die Gefahr, dass die Zensoren der Feldpostprüfstellen mitlasen.
In der besetzten Ukraine verbringt Fritz Hartnagel 1942 mehrere Wochen. Er und seine Kompanie nehmen am "Unternehmen Blau" teil, der Sommeroffensive, die zur Einnahme Stalingrads und der Ölfelder im Kaukasus führen soll. In Mariupol bezieht Hartnagel in einer geräumten Schule Quartier. Hier, so teilt er Sophie Scholl mit, "sitze [ich] in ›meinem Zimmer‹, einer Art Lehrerzimmer [...], in dem ich mir noch ziemlich verloren vorkomme".
Sophie Scholl studiert damals in München. Sie lehnt wie ihr Bruder Hans den Krieg ab. Und Hartnagels Schilderungen bestärken sie nur umso mehr auf ihrem Weg in den Widerstand. Das erste Flugblatt der Weißen Rose erscheint, noch während ihr Freund in der Ukraine im Einsatz ist.
"Skrupellose Vernichtungsideen"
Hartnagel sieht viel von dem besetzten Land. Er fliegt nach Charkow und fährt durch ländliche Gegenden. In seinen Briefen schwärmt er von Kirchen mit verdrillten Türmchen, von Dörfern mit weiß getünchten und strohbedeckten Lehmhäusern, von Sonnenblumenfeldern, die bis zum Horizont reichen, vom Fluss Dnjepr, der einen "gewaltigen Eindruck" auf ihn gemacht habe. Er berichtet aber auch von Erlebnissen, die ihn aufwühlen und die seine Zweifel am Krieg wachsen lassen. "Es ist erschreckend, mit welcher zynischen Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Rußlands erzählt hat und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist", schreibt er am 26. Juni 1942. Mit klopfendem Herzen habe er mitangehört, wie sich sein Vorgesetzter im Offizierscasino skrupellosen Vernichtungsideen hingab.
Zehntausende Juden haben die Deutschen unmittelbar nach der Eroberung des Landes ermordet, am Ende beläuft sich die Zahl der ukrainischen Holocaustopfer auf 1,5 Millionen. Da die meisten von ihnen erschossen wurden, sprechen Historiker von einem "Holocaust by bullets". In Lemberg (Lwiw), Ternopil und anderen Städten beteiligten sich auch von Deutschen aufgehetzte Einheimische und ukrainische Nationalisten an den Mordtaten.
Fritz Hartnagel wird nicht unmittelbar Zeuge der Gewalt, aber er hört er immer wieder von "Aktionen" gegen die Juden. Es sind vor allem die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die in der Ukraine wüten, doch auch die Wehrmacht und andere Organisationen helfen beim Massenmord. Die Einsatzgruppe D ist zeitweise in Simferopol auf der Krim stationiert und operiert in der gesamten Südukraine. In der Schlucht von Babi Jar (Babyn Jar) bei Kiew erschießen Angehörige des Sonderkommandos 4a der SS-Einsatzgruppe C und zweier Polizeibataillone am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.700 Juden. Einheiten der Wehrmacht sind ebenfalls an dem Verbrechen beteiligt, einem der größten Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs in Europa.
"Es gibt keine freie Ukraine"
Hartnagels Briefe künden eher indirekt von den Schrecken der Besatzung, etwa wenn er über Flüchtlinge schreibt, die ihm begegnen: "Es war wohl der erschütterndste Eindruck von Elend und Trostlosigkeit, den ich in diesem Feldzug gewonnen habe." In der Ukraine bekommt er, wie er anmerkt, kaum männliche Zivilisten zu Gesicht; auf den Feldern und Höfen sieht er fast nur Frauen und Mädchen. Mehr als eine Million Ukrainer und Ukrainerinnen werden gezwungen, als Arbeitssklaven in deutschen Fabriken, Bergwerken und Zechen zu schuften. Andere müssen der Wehrmacht als Hilfskräfte dienen. Als in Deutschland infolge des Krieges zunehmend Arbeiter fehlen, gehen die Besatzer zu einer immer rücksichtsloseren Rekrutierung über.
Dem deutschen Kriegs- und Besatzungsterror war die sowjetische Zwangsherrschaft vorausgegangen: Anfang 1918, im Chaos des Weltkriegsendes, hatten die Ukrainer erstmals erfolgreich ihre Unabhängigkeit erklärt. Doch im Russischen Bürgerkrieg ging der junge Staat wieder unter und wurde zur Sowjetrepublik.
Als den ukrainischen Nationalisten in der Zwischenkriegszeit klar wurde, dass kaum noch eine Chance auf eine eigenständige Ukraine bestand, begannen sie sich zu radikalisieren. Die gewaltbereite Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) hatte nun mehr und mehr Zulauf. Einer ihrer Anführer war Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kollaborierte.
Nicht wenige Ukrainer hatten 1941 gehofft, dass die Deutschen sie von den Bolschewiki befreien würden. Mit Stalin verbanden sie nichts als Zwang, Hunger und Tod. Von 1929 an hatte der Diktator die Kollektivierung der Landwirtschaft erzwungen. Gut 200.000 Höfe lösten die Behörden in der Ukraine auf; Hunderttausende Menschen wurden in den Osten der Sowjetunion deportiert.
Viele Landwirte leisteten erbitterten Widerstand. Sie sabotierten Getreidelieferungen, schlachteten ihr Vieh ab, zerstörten Maschinen und Werkzeug. Bereits 1931 gab es eine Missernte, die landwirtschaftliche Produktion brach ein. Dennoch mussten die Bauern sämtliche Vorräte abliefern. Die Parteiführung ging brutal gegen jeden vor, der sich widersetzte; sogar Saatgut wurde den Bauern weggenommen. 1932 kam es zu einer Hungersnot, die auch im Folgejahr noch andauerte. "Holodomor" taufte man diese Katastrophe später, der in der Ukraine mehr als 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. In ihrer Verzweiflung verspeisten die Hungernden Hunde, Katzen, Rinde und Baumwurzeln.
"Es ist grauenhaft, was diese Menschen leiden mußten und leiden an körperlichen und seelischen Nöten", schreibt Fritz Hartnagel an Sophie Scholl. Er hatte im Donezbecken mit seiner Kompanie ein Lager in einem Dorf aufgeschlagen. Sein Zelt stand im Garten eines alten Bauern, mit dem er sich gelegentlich unterhielt. "Er hatte zwei Kinder, unser Bauer", berichtet Hartnagel. "Das eine ist 1933 verhungert und das andere ist im selben Jahr aus Brotneid erschossen worden, als er mit seiner Familie auf Wanderschaft war, um Essen zu suchen."
Die ukrainischen Freiheitshoffnungen erwiesen sich im Sommer 1941 schnell als trügerisch: Nachdem Anhänger der OUN die Ukraine am 30. Juni in Lemberg für unabhängig erklärt hatten, nahmen die Deutschen die Anführer der Organisation fest; Stepan Bandera wurde ins KZ Sachsenhausen deportiert. Die Gleichung "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" war, wie der Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler schreibt, für die OUN nicht aufgegangen. Die Ukrainer, befand Hitler im September 1941, seien "genauso faul, unorganisiert und nihilistisch-asiatisch wie die Großrussen".
Die Nationalsozialisten lassen die Ukraine denn auch keineswegs als Staat bestehen. Galizien wird dem Generalgouvernement (dem vom Deutschen Reich besetzten Polen) zugeschlagen. Die Bukowina, Bessarabien und das Gebiet zwischen Dnjestra und Bug, in dem auch Odessa liegt, überlässt das NS-Regime dem rumänischen Verbündeten. Der Rest des Landes wird zum Reichskommissariat Ukraine zusammengefasst. Dort herrscht nun Erich Koch. "Es gibt keine freie Ukraine", erklärt der im August 1942: "Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht, dass wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt."
Das historische Traumata
Das Land dient fortan als Kolonie. Getreide, Milch und Fleisch gehen ans Reich. Besonders rücksichtslos werden das Donezbecken, die Nordostukraine und die Krim ausgebeutet. Im Mai 1942 verhungern in Charkow täglich 40 Menschen; bis Ende des Jahres sterben 14.000 Einwohner der Stadt an mangelnder Versorgung.
Um die Bauern besser kontrollieren zu können, lösen die deutschen Besatzer die Kolchosen aus der Sowjetzeit nicht auf. Hunderttausende Ukrainer kommen in deutschen Lagern ums Leben, infolge von Hunger, Krankheiten und Misshandlungen.
Vergeblich versucht Fritz Hartnagel, mit seinem Kommandeur über die deutsche "Bevölkerungspolitik" zu diskutieren. "Der Horizont dieser Menschen reicht über materielle Dinge nicht hinaus", klagt er in einem Brief an Sophie Scholl, "das höchste Ziel ist nur Macht, das Herrsein."
Auch der OUN wird schließlich das Ausmaß der deutschen Ausbeutung und Vernichtung bewusst. "Wir wollen nicht für Moskau, die Juden, die Deutschen und andere Fremde arbeiten, sondern für uns", verkündet, mit deutlich antisemitischem Unterton, ein Flugblatt der Bandera-Fraktion von Mitte 1942. Im Februar 1943 stellt die Gruppe fest: "Die Ukraine befindet sich gegenwärtig zwischen Hammer und Amboss zweier feindlicher Imperialisten, Moskaus und Berlins."
Die Ukrainische Aufstandsarmee, die aus der OUN hervorgeht, beginnt nun einen Guerillakrieg gegen die Deutschen und gegen kommunistische Partisanen. Ihre Mitglieder ermorden zudem viele Polen, die ihnen, da Teile der Ukraine einst polnisch beherrscht waren, als Feinde gelten. Die Deutschen betrachten bald 90 Prozent der riesigen Waldgebiete in der Westukraine als "bandenverseucht".
"Wir sind ein Herrenvolk"
Wehrmacht, SS und Waffen-SS bekämpfen echte und vermeintliche Partisanen mit äußerster Brutalität. In einem Wehrmachtbefehl vom März 1943 heißt es: "Wir sind ein Herrenvolk, das bedenken muß, daß der geringste deutsche Arbeiter rassisch und biologisch tausendmal wertvoller ist als die hiesige Bevölkerung." Das war eine Einladung, auch gegen Zivilisten mit mörderischer Gewalt vorzugehen.
Fritz Hartnagel befindet sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an der Ostfront. Mit der 6. Armee ist seine Kompanie in Stalingrad eingekesselt worden. Als einen der letzten deutschen Soldaten fliegt man ihn im Februar 1943 aus; er hat Erfrierungen, aber wird den Krieg überleben. Im Lazarett in Lemberg, dem heutigen Lwiw im Westen der Ukraine, erfährt er, dass der Volksgerichtshof seine Freundin zum Tode verurteilt hat und sie sofort hingerichtet wurde. Sophie und Hans Scholl waren am 18. Februar verhaftet worden, nachdem sie Flugblätter in der Münchner Universität verteilt hatten.
Im August 1943 beginnt die Rote Armee mit der Rückeroberung der Ukraine. Von Charkow aus rückt sie nach Westen vor. Im November nehmen sowjetische Truppen die Metropole Kiew ein, die 1941 von der Wehrmacht besetzt worden ist. Die Kämpfe werden mit großer Härte geführt. Erst im August 1944 gewinnt die Rote Armee Lemberg zurück. Zwei Monate später stehen alle von Ukrainern bewohnten Gebiete unter sowjetischer Herrschaft – erstmals auch die Karpato-Ukraine.
7 Millionen Tote
Drei Jahre lang herrschte Krieg. Am Ende ist das Land weitgehend zerstört, viele Städte gleichen Ruinen. Bis zu sieben Millionen Menschen, schätzt der Ukraine-Kenner Andreas Kappeler, sind unter der deutschen Besatzung ums Leben gekommen, etwa ein Viertel der Bevölkerung. In der hiesigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg spielt die Ukraine, die uns in den vergangenen Wochen so nah gerückt ist, gleichwohl nur eine untergeordnete Rolle.
Heute liegen Städte wie Mariupol und Charkiw, aus denen vor 80 Jahren Fritz Hartnagel an Sophie Scholl schrieb, erneut in Trümmern. Einige der älteren Ukrainerinnen und Ukrainer haben noch eigene Erinnerungen an die Jahre des Weltkriegs. Nicht minder tief haben sich die Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft ins kollektive Gedächtnis des Landes eingegraben. Dass die Ukrainer heute mit so großer Zähigkeit um ihre Unabhängigkeit kämpfen, hat auch mit diesen historischen Traumata zu tun. Noch einmal wollen sie nicht auf dem Amboss eines Imperialisten zermalmt werden.
Der Autor, der Historiker Dr. Hauke Friederichs, arbeitet vor allem für die Ressorts Politik, Wirtschaft, Wochenschau und Geschichte der ZEIT, für das Politikressort und die Seite drei des "Tagesspiegels" und für ZEIT ONLINE. Dort erschien sein Beitrag zunächst im Ressort Wissen am 19. März 2022 unter dem Titel "Der erschütterndste Eindruck von Elend". Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors und des ZEIT-Redaktion.
Zitierweise: Hauke Friederichs, "Schon einmal Vernichtungskrieg", in: Deutschland Archiv, 14.4.2022, www.bpb.de/507290.
Der Historiker Dr. Hauke Friederichs arbeitet vor allem für die Ressorts Politik, Wirtschaft, Wochenschau und Geschichte der ZEIT, für das Politikressort und die Seite drei des "Tagesspiegels" und für ZEIT ONLINE.
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