Die durchlaufene Mauer
Heraus aus der "Sackgasse unseres Lebens". Erinnerungen an die (Wahlkampf-)Zeit nach dem Mauerfall.
Steffen Reiche
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Der ehemalige Volkskammerabgeordnete der SPD, Steffen Reiche, beschreibt jenes „Unbegreifliche“ aus 1989, wie es überhaupt zur ersten freien Parlamentswahl im März 1990 kommen konnte: durch Überwindung der Mauer. Er erinnert auch an die Rolle Willy Brandts und reflektiert, warum die damals in der DDR neu gegründete SPD bei der Volkskammerwahl schlechter abschnitt, als erwartet.
Am 9. November 1989, so weist es mein Amtskalender von damals aus, bekamen wir morgens früh in Berlin Kohlen, die uns einfach in den Hof geschüttet wurden und die ich dann nach oben tragen musste. Unsere Tochter konnte das Schreien der Kohlenmänner vom Kohlenhof in der Lychener Straße wunderbar nachmachen. Mit tiefer Stimme rief sie, so laut sie konnte: „Reiche, Menzel-Kohlen.“ Um 16.30 Uhr traf sich meine Christenlehregruppe und um 19 Uhr der Mütterkreis in meinem Pfarrhaus in Christinendorf.
Ich musste Tee kochen, als mein Nachbar Ralf plötzlich hereinkam – glücklich und aufgeregt. Er wohnte zwei Häuser weiter, zwischen uns war die Kneipe, er war Karosserieschlosser, und seine Mutter kam auch zum Mütterkreis und war im Gemeindekirchenrat. Wir hatten Freundschaft geschlossen, denn wir waren gleichaltrig und mit ihm machte es Freude, offen zu reden und zugleich ein wenig über den Tellerrand der Gemeinde zu gucken. Ralf erzählte mir, dass die Mauer wohl an dem Abend geöffnet würde. Er habe eben etwas im Fernsehen gehört, was ihm Hoffnung machte.
Wir beide konnten das zunächst nicht glauben, aber zugleich wussten wir, wie viel sich in den letzten Tagen schon ereignet hatte, wie viel von dem, was wir bis dahin für unmöglich hielten, plötzlich möglich wurde. Deshalb entschieden wir uns, es für unwahrscheinlich, aber denkbar zu halten. Wir verabredeten, uns am Abend noch einmal zu treffen, er weiter Nachrichten sehen und uns informieren solle. Wenn die Grenze tatsächlich geöffnet werden sollte, wollten wir unbedingt zur Berliner Mauer fahren.
Nach der Tagesschau kam er erneut in den Gemeindesaal und bestätigte, die Grenzen gehen auf. Wir konnten es nicht glauben, überlegten, welcher Trick das nun wieder sein könnte, und hatten große Sorge, dass die Mauer nur wie ein Ventil geöffnet würde – und wenn genug Druck abgelassen ist, wieder dichtgemacht wird. Deshalb wollten wir unbedingt noch an diesem Abend dorthin, um mit eigenen Augen das Unbegreifliche zu sehen. Kaum war der Mütterkreis zu Ende, war auch Ralf mit seiner Freundin wieder da, fassungslos tranken wir zu dritt eine Flasche Sekt, die er mitgebracht hatte, wohlwissend, dass wir noch fahren wollten und dass in der DDR eigentlich null Promille galt.
Aber wir dachten uns, dass die Polizei an diesem Abend wohl nicht kontrollieren würde, da sie mit der neuen Situation bestimmt überfordert war. Er hatte das wesentlich bessere Auto, einen Shiguli, eine russische Fiat-Gestattungsproduktion (so hieß das, wenn in der DDR Waren im Auftrag westlicher Unternehmen gefertigt wurden). Ich hatte Mühe, mit meinem Auto mitzuhalten. Wir wollten zur Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, die als Ort der Grenzöffnung im Fernsehen zu sehen gewesen war und die auch in der Nähe meiner Berliner Wohnung lag. Die Straße war weit vor der Grenze voller Menschen und Autos, alle waren in einem sonst toten Raum der Stadt unterwegs. In die Bornholmer Straße ging man sonst nicht. Es gab da wenig zu sehen und was man sah, frustrierte nur, und zugleich musste man sich eventuell dumme Fragen gefallen lassen.
Nun aber strömte alles in diese Richtung. Ich fuhr, nachdem wir uns getrennt hatten, schnell nach Hause, in die nahe gelegene »Lychener«. Ich hatte nicht anrufen können, denn wir hatten ja kein Telefon. Katrin lag mit Rebecca schon im Bett. Ich weckte sie und sagte ihnen, dass wir unbedingt zur Grenze müssten. Sie protestierten erst schlaftrunken, aber dann waren sie hellwach und mussten nicht lange überlegen. Wenig später fuhren wir mit dem Auto Richtung Grenze, Eiserner Vorhang, Richtung Mauer, Richtung Ende unserer Welt, in die bisherige Sackgasse unseres Lebens. Wir fanden sogar noch einen Parkplatz in der Ostseestraße, obwohl fast alles zugeparkt war. Wir waren begeistert und überglücklich, aber wussten zugleich gemeinsam mit allen anderen nicht, was nun eigentlich weiter passieren würde. Alles war denkbar, aber im Grunde konnten wir vor lauter Glück und Überraschung nicht denken.
Mauerfall ein falscher Begriff
Da, wo wir bisher nie hingegangen waren, weil es da nichts für uns zu sehen gab, strömten nun Tausende Menschen und gingen durch den Eisernen Vorgang, durchliefen die Mauer. Die Mauer ist in jener Nacht nicht „gefallen“! Es ist ein genauso falsches Wort wie „Wende“. Wenn man Mauerfall sagt, klingt es so, als wäre die Mauer so altersschwach gewesen, dass sie einfach eingestürzt oder umgefallen wäre. Aber das geschah nicht in dieser Nacht. Die Mauer ist durchlaufen worden und war damit überflüssig. Mauerspechte haben sich anschließend lustig gemacht über sie, sie weiter durchlöchert, bis sie dann in monatelanger Arbeit zu Straßenbelag geschreddert wurde.
Ebenso war es keine Wende. Das hätten sie zwar gerne gehabt, dass wir Krenz und seinem neuen Politbüro die Wende geglaubt hätten. Wir sind jedoch geradeaus weitergelaufen, ohne uns von Egon Krenz betören zu lassen. Es war eine friedliche, tiefgreifende Reformation, denn der Osten wurde in die Form gebracht, in der der Westen schon war. Oder, so könnte man mit Habermas sagen, dass es eine nachholende Revolution war. Der Osten holte nach, was im Westen schon 40 Jahre entwickelt worden war.
Eine Nacht lang das glücklichste Volk der Welt
Wir liefen durch das Spalier der begeisterten West-Berliner Richtung U-Bahnhof Osloer Straße und waren in dieser Nacht wohl wirklich das glücklichste Volk der Welt. Wir waren mit diesem Empfang spürbar ein Volk, denn die West-Berliner begrüßten uns bei sich, als wären wir nach Hause zurückgekommen. Vom Osloer Bahnhof fuhren wir zum Bahnhof Zoo, dem legendären Sehnsuchtsort, den jeder auch im Osten vom Namen her kannte, aber nicht besuchen konnte. Die Züge der Deutschen Reichsbahn, die aus Westdeutschland durch Ostdeutschland fuhren, endeten hier. Nun waren wir als Familie da und konnten nicht fassen, was wir erlebten.
Wie in alten Filmen, wo auch ein Abendblatt verteilt wird, kamen plötzlich Menschen und verteilten eine frisch gedruckte BILD-Zeitung, in der davon berichtet wurde, dass sich der Bundestag am Abend erhoben und »Nun danket alle Gott« gesungen habe. Wir waren dabei, als sich Geschichte ereignete, hatten Geschichte miterlebt und mitgeschrieben. Ich schlug meiner Familie irgendwann tief in der Nacht vor, dass wir meine Freundin Susanne besuchen sollten. Als wir klingelten, gegen 3 Uhr in der Nacht, war sie verwundert und verärgert, aber als sie Katrin und Rebecca sah, wusste sie, dass etwas geschehen war, was diesen späten Besuch rechtfertigte. Wir erzählten bis in den Morgen, denn schlafen konnten wir sowieso nicht und wir wollten die Geschichte spüren, wollten, dass unser Verstand uns wieder einholte. Am nächsten Tag waren wir nach dem Frühstück lange in der Stadt unterwegs. Ich meldete mich bei vielen guten Bekannten, um gemeinsam Fassung zu finden.
Begegnung mit Willy Brandt
Am Abend des 10. November ging ich zum Schöneberger Rathaus, denn dort wollte Walter Momper als Regierender Bürgermeister zu den Berlinern und an seiner Seite sollten Willy Brandt und Helmut Kohl sprechen. Den Jubel der Menschen im Osten hatte ich miterlebt und war Teil dieses Jubels gewesen. Nun wollte ich miterleben, wie der Westen reagierte. Zugleich war nach der Kundgebung ein Ad-hoc-Treffen der anwesenden Sozialdemokraten aus dem Westen mit dem Vorstand der SDP im Ostberliner Hospiz in der Albrechtstraße geplant, so hieß ein evangelisches Hotel in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Friedrichstraße.
Unvergessen aus jenen Tagen ist mir jener Satz geblieben von Willy Brandt, der Geschichte schreiben sollte, weil er von dem gesagt wurde, dem man aus meiner Sicht durch seine Entspannungpolitik letztlich diese Geschichte verdankte und weil er das Geschehen in genialer Einfachheit zusammenfasste: "ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf – wir erleben, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen", formulierte er auf dem Rathausbalkon in seiner Rede. Und in anschließenden Interviews und auch den Gesprächen mit uns im Gründerkreis der Ost-SPD formulierte er jene einprägsamen fünf Worte, die die den Westen in die Pflicht nahmen und die der Welt erklärten, dass ein jahrzehntelanges Unrecht zu Ende ging: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!". Ab jetzt öffneten sich komplett neue Wege. Auch das formulierte Brandt damals weissagend auf dem Rathausbalkon:
"Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es, das Zusammenrücken der Deutschen verwirklicht sich anders, als es die meisten von uns erwartet haben. Und keiner sollte in diesem Augenblick so tun, als wüßte er ganz genau, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in ein neues Verhältnis zueinander geraten werden. Dass sie in ein anderes Verhältnis zueinander geraten, dass sie in Freiheit zusammenfinden und sich entfalten können, darauf allein kommt es an. Aber eines ist sicher: Nichts wird wieder so werden, wie es war."
Der Weg hin zu einer - schon vier Monate später - frei gewählten Volkskammer, die dann mehrheitlich über die Vereinigung entschied, war allerdings zu diesem Zeitpunkt noch unvorstellbar. Aber letzten Endes hat die selbstbewusst „durchlaufene“, dann zerhämmerte und schließlich abgerissene Mauer diesen Weg unausweichlich freigemacht.
Geplatzter Traum von einer Mehrheit
Mit guten Aussichten ging die damals in der DDR neu gegründete SPD in den Wahlkampf für die Volkskammerwahl am 18. März 1990, verlor dann aber deutlich. Woran das lag, analysiert Steffen Reiche in seiner Autobiografie "Tief träumen und hellwach sein - Politiker und Pfarrer mit Leidenschaft", erschienen im Bonner Dietz-Verlag 2020:
Das Wort »Wende«, das Egon Krenz geprägt hat, sollte zweierlei, es sollte zeigen, dass die SED ganz aktiv mitgestaltete und es sollte ein Stoppschild errichten, bis hierher und nicht weiter. Da ist das Wort von der Friedlichen Revolution viel ehrlicher und mutiger, es gibt den Akteuren von damals die Ehre, die sie durch ihren Mut verdient haben. Aber was Wende zu wenig wollte, eben nur eine kleine Wende, behauptet das Wort von der Friedlichen Revolution zu viel.
Viele hätten gern eine solche Revolution gewollt, zum Beispiel indem auf der Grundlage des Verfassungsvorschlags des Runden Tisches und des Grundgesetzes gemeinsam eine neue Verfassung erarbeitet worden wäre für das vereinigte Deutschland. Doch dafür fand sich weder nach der Wahl zur Volkskammer am 18. März noch nach der Wahl zum Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990 eine demokratische Mehrheit.
Mich hat damals oft gewundert, wie diejenigen, die mit mir gemeinsam für mehr Demokratie gekämpft hatten und nun erreichten, wofür sie sich eingesetzt hatten, sich nun so schwertaten damit, dass die Mehrheit der Bevölkerung anderes wollte als sie – eine schnelle und sichere deutsche Vereinigung auf dem Weg über einen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes.
Bündnis 90 hatte überall vor den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 plakatiert: »Kein Anschluss unter dieser Nummer – Artikel 23 GG«. Sie erhielten dafür 2,9 Prozent Zustimmung und wären, hätte es bei der ersten freien Wahl eine Fünf-Prozent-Hürde gegeben, an ihr gescheitert.
Als wir zu unserem ersten regulären Parteitag der Ost-SPD nach Leipzig fuhren, hatten wir Umfrageergebnisse im Kopf und dann auch in der Zeitung, die wir in alle Haushalte der DDR mithilfe der West-SPD am 25. Februar verteilen ließen, die sahen uns bei 46 Prozent der Stimmen bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990.
Wir hatten uns für Leipzig als Ort des Parteitages entschieden, weil wir an der Stärke der SPD von Sachsen in der Weimarer Zeit wieder anknüpfen wollten und weil wir uns in der Tradition der Leipziger Montagsdemonstrationen verstanden. Die Demonstrationen und der Mut von Leipzig hatten möglich gemacht, dass wir viel schneller da waren, wohin wir uns am 7. Oktober bei der Gründung dieser einzigen neuen Partei in Zeiten der DDR gesehnt hatten, als jemand das für möglich gehalten hatte.
Nun fuhren wir von Berlin zu jenem Parteitag, bei dem Willy Brandt zu uns sprechen würde und einen weiteren denkwürdigen Satz prägen sollte, vom Zug, der auf dem Weg zur Deutschen Einheit sei, und wir uns als Sozialdemokraten dafür in der Verantwortung zu sehen hätten, dass dabei niemand unter die Räder kommt.
Wachsende Skepsis
Uns beschlich aber auch erstmals das Gefühl, dass wir bei der Wahl unter die Räder kommen könnten. Denn Helmut Kohl war ein taktisches Meisterstück gelungen. Die Ost-CDU wurde von allen nur scheel angesehen – zu lange hatte sie als Blockpartei, als Blockflöte alles mitgemacht, was die SED gemacht hatte. Ihre Kritik schien eher wie das Deckmäntelchen, das die SED brauchte, um so zu tun, als ob die DDR eine Demokratie wäre. Die Ost-CDU hatte mit der CDU im Westen nur den Namen gemein, war für alle im Grunde genauso wenig wählbar wie die zur PDS gewandelte SED.
Mir schien sie gar schwieriger und schmieriger als die SED, bei der man wusste, woran man war. Kohl war es nun gelungen, eine Allianz für Deutschland zu begründen, in dem er den Demokratischen Aufbruch und die gerade erst gegründete DSU in eine Wahlgemeinschaft hineinzwang, um so der von zwei Seiten getragenen CDU seine Unterstützung im Volkskammerwahlkampf geben zu können.
Alles, was im Konrad-Adenauer-Haus erdacht und konzipiert wurde, machten die von 40 Jahren Nationaler Front korrumpierten CDU-Leute mit, denn das gehörte zu ihrem Erfahrungsschatz, dass eine viel größere und mächtigere Partei ihnen sagte, wo es lang geht und was zu machen ist. Die nun führende Partei war allerdings nicht nur viel sympathischer, sondern sowieso das Ziel aller Träume, in sie wollte man ja aufgenommen werden.
Die anderen neuen Parteien hingegen spürten, dass auf sie im Kampf der Giganten wenig Stimmen fallen würden und auch sie traten gern die Flucht nach vorn an. Der Demokratische Aufbruch musste sich verorten und tat es nun, da sie auf der Seite der SPD nicht gebraucht wurden und bei den Bürgerrechtlern wohl nur wenige Stimmen zu holen waren.
Die DSU war an der Seite der CDU sowieso an der Stelle, wo sie sich sahen. Probleme, die es im Annäherungsprozess gab, waren durch die Vermittlung von Konsistorialpräsident Stolpe ausgeräumt worden, wie sich der damalige Chef des Bundeskanzleramtes Schäuble erinnert. Wir ahnten davon nichts.
Aber wir sahen auf dem Weg nach Leipzig etwas, was wir noch nie gesehen hatten und was es so auch nie wiedergab und geben konnte. Über Nacht war die ganze DDR professionell zugeklebt worden mit Plakaten. Es gab nur wenige Laternen in dem ganzen 17-Millionen-Einwohner-Staat, die von den Klebekolonnen des Adenauer-Hauses verschont wurden. Und diejenigen, die aus dem Süden der DDR zum Parteitag nach Leipzig anreisten, erzählten uns, dass die Stimmung sich gedreht habe.
Der früher rote Süden, das Tal der Ahnungslosen in der DDR, die immer auf Direktiven aus Berlin gewartet hatten, spürten nun, dass die wichtigen Direktiven aus Bonn kamen. Sie spürten, dass die Sozialdemokratie im Westen aber auch in Teilen im Osten nicht den schnellsten denkbaren Weg zur Deutschen Einheit gehen wollte. Je stärker Kohl das Tempo zur Deutschen Einheit forcierte, umso stärker fühlte sich Lafontaine gedrängt, das Tempo zu drosseln, im Osten und vor allem im Westen davor zu warnen, was Kohl wollte.
"Lafontaine hatte den Zug zur deutschen Einheit verpasst"
Als ich das erste Mal auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung in Neuruppin von Herbert Schnoor, dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen den Vorschlag von Ingrid Matthäus-Maier hörte, eine Währungsunion Ost-West zu begründen mit dem Kurs 1:1, hielt ich das für verrückt und zu schön, um wahr zu sein. Ich verstand die kapitalistische Welt nicht mehr: Wie konnte eine Währung, die wir mindestens 1:4 tauschten, nun plötzlich in Parität gehandelt und gewandelt werden?
Aber um den drohenden Absturz in der Wählergunst der DDR-Bürger abzuwehren, wurde das nun offiziell am 24. Februar auf dem Parteitag der Ost-SPD von unserem Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Ibrahim Böhme gefordert und als unser Wahlkampfziel millionenfach in unserer Wahlkampfzeitung am 25. Februar morgens in alle Haushalte der DDR verteilt.
Aber Lafontaine, der stellvertretende SPD-Vorsitzende, stellte unserer Partei Bedingungen. Er wolle als Kanzlerkandidat nur antreten, wenn die SPD im Wahlkampf auf große sozialpolitische Versprechungen verzichtet und sich zu Maßnahmen gegen den weiteren Zustrom von Übersiedlern bereitfindet. Er warnte vor allzu schnellen Schritten zur deutschen Einheit und zu einer Währungsunion. Kohl hingegen nahm das Versprechen von Böhme auf und wandelte es in seine Zusage. Lafontaine hatte den Zug zur deutschen Einheit verpasst und saß auf dem unter Lokführer Helmut Kohl immer schneller fahrenden Zug nur noch hinten im Bremserhäuschen.
Eine Geschichte, die mir Jahre später von Manfred Grund, dem langjährigen Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU-Bundestagsfraktion erzählt worden ist, belegt das auf eindrückliche Weise. Der aus dem Eichsfeld stammende Manfred Grund, parteilos, wollte im November 1990 bei sich die SPD gründen und fuhr deshalb zu einem Parteitag der SPD in Hessen, um sich dort Material für die Gründung eines Ortsvereines zu besorgen wie Parteiprogramm und Statut.
Er hatte sich in der Pause an den Tischen, wo reichlich Material auslag, seine Tasche gefüllt und sah sich nun gut gerüstet, die SPD im Eichsfeld zu begründen. In der Diskussion nach der Pause meldete er sich zu Wort und fragte, wie die SPD zur Deutschen Einheit stünde. Es gab eine freundliche und klare Antwort: Dies wäre jetzt nicht das große Thema der Zeit, allenfalls mittel- oder gar langfristig könne man nach einer langen Phase der engeren deutsch-deutschen Zusammenarbeit über eine Konföderation und über die Deutsche Einheit nachdenken.
Manfred Grund hatte genug gehört, er legte das SPD-Material still zurück auf die Tische und fuhr zurück ins Eichsfeld und trat der CDU bei. Ähnlich soll es Angela Merkel ergangen sein, die eigentlich von zu Hause aus eher zur SPD tendierte, der ihre Mutter dann auch eine Zeit lang beitrat, während der Vater als »roter Pfarrer« unabhängig, aber eher PDS nah ausharrte. Merkel machte sich über den Demokratischen Aufbruch auf den langen Weg in die CDU.
Die Allianz für Deutschland zu schmieden war eine kluge taktische und strategische Meisterleistung. Damit aber hatte die CDU viele Tausende Wahlkämpfer an ihrer Seite, die alles das, was sie nun voller Leidenschaft bekämpften und beenden wollten, über Jahrzehnte mit aufgebaut und getragen und verantwortet hatten. Um dies zu verschleiern, davon abzulenken, dachten sich Kohl und seine Leute eine aus meiner Sicht wirklich infame Kampagne aus. Sie behaupteten ohne jeden Anhaltspunkt in der Wirklichkeit, dass Tausende von SED-Leuten in die ostdeutsche SPD strömten, mancherorts sogar die Mehrheit in den Ortsvereinen stellten und sich anschickten, manche Ortsvereine zu übernehmen.
Der Eindruck, der bei vielen so entstand, war, dass man es bei der SPD mit einer schon längst von ehemaligen SED-Mitgliedern übernommenen Partei zu tun hatte und es deshalb egal war, wen man im Osten wählte, wichtig war, wen man damit im Westen als Partner bekam.
Diese infame Wendung, die Kohl, als er zu einem großen Staatsmann wurde, zugleich als aus meiner Sicht miesen Parteipolitiker zeigte, hatte aber noch eine langfristige Wirkung.
Verunsichert durch die aus dem Straßenverkehr übernommenen Stoppschilder, die mit einem Band von SPDSPDSPDSPDSPDSPD umrandet waren, guckten die Ortsvereine bei Neuaufnahmen nun doppelt genau hin. Und es entwickelten sich manche der erst im Winter 89 oder später dazugekommenen zu »Gründungsstöpseln«, die sich bemühten zu verhindern, dass erfahrene Leute hinzukamen. Sie wollten die SPD als die Chance ihres Lebens für sich behalten, wollten das Sprungbrett in politische Ämter, zu Mandaten und neuen Perspektiven nicht mit anderen teilen.
SED-Leute hingegen, die aus ihrer Partei ausgetreten waren, wollten zum übergroßen Teil gar nicht neu politische Karriere machen, sondern jetzt ihre Kontakte nutzen, mit denen sie bisher in der SED gut gekonnt hatten, um sich an die Schaltstellen wirtschaftlichen Einflusses zu setzen, weil sie da viel eher Vorteile sahen. Es trifft insofern zu, dass in vielen Ortsvereinen mit Macht die Türen zugehalten worden sind, Türen jedoch, durch die kaum jemand eintreten wollte.
Hoffen auf integre PDS-Mitglieder
Mir war dann spätestens im Jahr 1992 klar, dass wir als SPD in ganz Ostdeutschland nur dann eine Chance gegen die CDU haben würden, wenn es gelingen würde, auch die politische Linke wieder zu verbinden. Natürlich nicht mit einem weiteren Vereinigungsparteitag, zu dem nun die SPD die PDS einladen würde, aber doch dadurch, dass die SPD die Türen sichtbar für integre, ehemalige SED-Mitglieder öffnete, wie zum Beispiel Lothar Bisky oder Michael Schumann. Bisky war bis Anfang 1993 Landesvorsitzender der PDS in Brandenburg und Prof. Michael Schumann war der strategische Vordenker der Partei in Brandenburg und in den neuen Ländern. Beide waren mit mir Abgeordnete im Brandenburger Landtag. Als klar wurde, dass Bisky für den Bundesvorsitz der PDS kandidieren würde, war mir klar, dass nun alles auf eine Karte zu setzen war. Ich bat beide, in die SPD einzutreten, ihre Mandate bis 1994 zu behalten und dann mit einem SPD-Mandat weiter politische Verantwortung für Brandenburg zu übernehmen.
Beide waren im Kern ihrer politischen Einstellung Sozialdemokraten und insofern mit ihren politischen Ansichten bei uns völlig richtig. Michael Schumann sagte mir zuerst ab, mit einer Begründung, die von allen die Einzige war, die mir einleuchtete: Deutschland brauche die PDS, "damit all diejenigen, die über Jahrzehnte in der SED eine Heimat hatten, nicht heimatlos in die Deutsche Einheit gehen."
Die PDS als Rettungsboot für Menschen, die sonst unbehaust in der nun größeren Republik wären, die eventuell dann sogar zu Störenfrieden werden könnten. Die aber in einer PDS, die auch Schumann mitführte, die er mitgestaltete, ihren Frieden mit dem Land und der Einheit finden würden. Also eine Aufgabe auf Zeit, die er weder vollenden konnte, noch hätte abgeben können, um zeichenhaft in die SPD zu kommen, weil er bei einem Unfall auf dem Weg an die Ostsee viel zu früh starb.
Auch Lothar Biskys Loyalitäten lagen stärker bei seinen Mitgliedern. Dass es an den Gründungsstöpseln in der SPD gelegen habe, dass die PDS/Die Linke zwischenzeitlich so stark wurde, sollte nicht mehr weitererzählt werden. Ich habe in Brandenburg alle Sozialdemokraten in der PDS offensiv eingeladen, die Türen standen offen in die SPD einzutreten, aber sie sind nicht gekommen. Nur eine Handvoll sind meiner Einladung gefolgt, aber es ist nicht zu einer Bewegung geworden.
Kandidatur in Potsdam
Buchtitel Reiche
Der Text ist der Autobiografie Steffen Reiches entnommen, erschienen 2020 im Dietz-Verlag
Der Text ist der Autobiografie Steffen Reiches entnommen, erschienen 2020 im Dietz-Verlag
Die ehemalige Bezirksparteischule der SED in der Potsdamer Waldstadt wurde sehr bald zum Tagungshotel umfunktioniert. Dort fanden in den ersten Monaten und Jahren sehr viele Veranstaltungen der Potsdamer SPD statt, unter anderem mit Willy Brandt. Nachdem klar war, dass die Volkskammerwahl nicht erst im Mai stattfinden konnte, sondern auf den März vorgezogen werden musste, wurden dort die SpitzenkandidatInnen für den Bezirk Potsdam gewählt.
Denn noch gab es diese Strukturen, die die DDR drei Jahre nach ihrer Gründung durch die Zerschlagung der fünf ostdeutschen Länder hergestellt hatte. Ich kandidierte als bekanntester SPD-Mann aus unserem Bezirk als Spitzenkandidat und wurde mit einem sehr guten Ergebnis gewählt, obwohl ich einer der Jüngsten war. Die Liste kam mit einigen Überraschungen zustande. Denn viele spürten auch, wenn ich jetzt, in dieser Aufbruchssituation meine Arbeitsstelle verlasse, dann komme ich nicht mehr zurück oder nur mit erheblichen Einbußen, denn andere haben sich dann in den neuen Möglichkeiten schon eingerichtet.
Wir ahnten, dass die Volkskammer nicht lange bestehen würde, denn auch wir wollten alle möglichst bald die Deutsche Einheit und an regulären Bundestagswahlen teilnehmen. Und so hat es bei manchen guten und erfahrenen Menschen großer Überzeugungsarbeit bedurft, ehe sie sich darauf einließen zu kandidieren.
So musste ich als Spitzenkandidat im ganzen Bezirk Potsdam, der flächenmäßig der größte der 14 Bezirke war und 1,124 Millionen Einwohner hatte, Wahlkampf machen. Der Bezirk reichte von der Prignitz im Nordwesten bis nach Königs Wusterhausen im Südosten und Jüterbog im Südwesten von Berlin. Sitzungen zu leiten und Vorträge zu halten, Diskussionen in großen Veranstaltungen zu bestehen, hatte ich gelernt. Wahlkampf aber war für uns Neuland. Zum Glück hatten wir mitten im Bezirk, später mitten im Land, Berlin und über 20.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die Erfahrungen hatten und sie gern einbrachten. Mit meinem Trabant war ich ständig unterwegs, um die weniger bekannten Kollegen vor Ort zu unterstützen.
Wie seltsam aber war es, immer wieder auch meinem Bild zu begegnen, mit dem die SPD für sich warb. Wir fanden hier noch Laternen oder Bäume, an denen wir unsere Plakate anbringen konnten, im Süden hingegen war fast alles schon besetzt durch die Plakate der Allianz für Deutschland. Die Klebekolonnen der CDU aus dem Westen hatten nirgendwo gefragt, es gab dafür auch keine Regeln und wer hätte sie jetzt noch sinnvoll erarbeiten und glaubwürdig verabschieden können in einer Volkskammer, die, wie all die 40 Jahre zuvor, von der SED dominiert wurde.
Oskar Lafontaine hatten wir kaum zum Wahlkampf eingeladen, denn wir hätten ihm immer nur widersprechen müssen, denn wir wollten ja die Einheit wohl sogar leidenschaftlicher als die gegen uns konkurrierende Ost-CDU. Die wurde in diesem Wahlkampf nun auch kaum gefragt und wenn, stimmten sie allem zu, dankbar, nun nach so kurzer Zeit unverhofft und reingewaschen als ganz »neue Partei« durch die Allianz antreten zu können.
Die SPD hingegen stimmte alles mit uns ab, hatte Sorge uns als einzige in DDR-Zeiten neu gegründete Partei zu verärgern. Diese Rücksicht kam gut an bei uns, wurde jedoch nicht einmal von allen wirklich bemerkt und verstanden. Nur als Konzept ging sie nicht auf, denn die DDR-Bürger in ihrer Mehrheit wollten auch gern schon im Wahlkampf den Westen spüren, den sie dann mehrheitlich auch wählten.
Täuschende Prognosen
Wir beharrten auf den Prognosen, die kurz vor der Wahl schon drei Wochen alt waren und uns deutlich vorn sahen, aber spürten, dass sich das Blatt gedreht hatte. Aber bis zuletzt glaubten wir und die anderen BürgerrechtlerInnen fest daran, dass die BürgerInnen an der Wahlurne schon wissen würden, wem sie diesen Wahlgang verdankten.
Aber die übergroße Mehrheit blickte bei der höchsten Wahlbeteiligung, die es je bei einer freien Wahl in diesem Gebiet gegeben hat, nicht zurück, sondern nach vorn. Sie wählten nicht die D-Mark, wie ich es in meiner Verbitterung am Wahlabend im Palast der Republik sagte, sondern sie wollten ein unüberhörbares Signal an die Parteien aussenden, aber auch nach ganz Deutschland und nach Europa hinein, dass sie einen schnellen Weg zur Deutschen Einheit gehen wollten. Helmut Kohl hatte die Frage am klarsten gestellt und er bekam eine klare Antwort.
Der SPD-Vorsitzende Lafontaine fand an diesem Abend nicht den Weg in den Saalbau am Friedrichshain, wo wir unsere Wahlparty feiern wollten, die jedoch in der Verbitterung und der Enttäuschung über das Ergebnis unterging. Lafontaine wollte nicht mit den Verlierern gesehen werden, wollte sich dazu nicht äußern und glaubte wohl noch immer mit seinem Kurs im Westen im Dezember die Wahl zu gewinnen. Er kam also nicht, um sich anzusehen, was er angerichtet hatte – wir hatten seinetwegen und durch seinen Kurs verloren, und er wollte damit nicht in Zusammenhang gebracht werden.
Ich bedauere heute, dass wir ihm auch an jenem Abend die Solidarität hielten, die er uns bis dahin nicht, aber auch in Zukunft nicht erweisen sollte.
Zitierweise: Steffen Reiche, "Die durchlaufene Mauer“, in: Deutschland Archiv, 08.01.2021, Link: www.bpb.de/324915. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Pfarrer und Mitbegründer der SPD in der DDR, Steffen Reiche, war von 1994 bis 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 gehörte der ehemalige Volkskammerabgeordnetedem Deutschen Bundestag an.
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