„Eine Sternstunde des demokratischen Aufbruchs“
Vor 35 Jahren: Der 7. Oktober 1989 als einer der Schlüsseltage der Friedlichen Revolution in der DDR
Andreas Förster
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Maßgeblich wird der 9. Oktober 1989 als Wendepunkt in der Geschichte der DDR betrachtet, als in Leipzig die erste große friedliche Demonstration gegen das SED-Regime gelang. Aber eine vergleichbare Schlüsselrolle spielte zwei Tage zuvor der 7. Oktober in Ostberlin, als die DDR-Staatsmacht noch auf Gewalt setzte. Und scheiterte. Sie verlor ihr Volk. Eine Rekonstruktion und Dokumentensammlung.
Während am 7. Oktober 1989 die greise Staats- und Parteiführung im Palast der Republik den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feierte, demonstrierten in der Stadt zahllose Ostberliner und Ostberlinerinnen friedlich und forderten demokratische Reformen. Einen Tag später, am 8. Oktober, gingen erneut Tausende, überwiegend junge DDR-Bürger in Berlin auf die Straße. An beiden Tagen wurde der Protest von Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen. Insbesondere in der Gegend um die Gethsemane-Kirche an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg knüppelten Volkspolizisten und Stasi-Mitarbeitende die friedlich Demonstrierenden zusammen. Es gab Hunderte Verletzte, mehr als 1.000 Menschen wurden „zugeführt“, wie es im Polizeijargon hieß, darunter auch viele unbeteiligte Passanten und sogar SED-Parteimitglieder.
Auf Polizeirevieren und in Haftanstalten sowie provisorisch eingerichteten Internierungslagern mussten die Festgenommenen Misshandlungen und Erniedrigungen in einem bis dahin für DDR-Verhältnisse beispiellosen Ausmaß erleiden.
Die Erlebnisberichte über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte drehten den Wind im Land. Sie sorgten in der Bevölkerung für Wut und eine Welle der Solidarität mit den Opfern. Durch den öffentlichen Druck war die Politik gezwungen, der Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zuzustimmen. Neben Vertretern und Vertreterinnen des Ostberliner Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung gehörten dem Gremium auch Arbeiter/innen, Ärzt/innen, Rechtsanwält/innen, Wissenschaftler/innen, Kirchenleute und Oppositionelle sowie mehrere namhafte Künstler und Künstler/innen an.
Die im Roten Rathaus tagende Kommission, die erste ihrer Art in der Geschichte der DDR hatte mehrere Aufgaben. Sie sollte die Abläufe an den beiden Oktobertagen aufklären, Verantwortliche für eine spätere Strafverfolgung identifizieren, Vorschläge für ein neues Polizeigesetz erarbeiten sowie den Opfern die Möglichkeit geben, ihre Leidensgeschichten zu schildern und Wiedergutmachung zu erhalten.
Auch wenn nicht alle diese Ziele erreicht werden konnten, gilt die weitgehend vergessene Arbeit der Untersuchungskommission als eine Sternstunde des demokratischen Aufbruchs in der DDR. „Wir haben zum ersten Mal – was zuvor niemals jemand gewagt hatte – Rechte, die es in der DDR-Verfassung gab, wahrgenommen“, erinnert sich die Publizistin Daniela Dahn, die stellvertretende Vorsitzende der Kommission war. „Allein der Umstand, dass die Spitzen von SED, Stasi und Polizei im Roten Rathaus bei uns antanzen und sich von Ärzten, Schriftstellern, Installateuren und jungen Leuten, die misshandelt wurden, befragen lassen mussten, war etwas ganz Neues. Wir hatten da etwas in Bewegung gesetzt.“
“The wind of change“
Ein Rückblick auf das Geschehen. Schon in den Tagen vor dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober 1989 waren die DDR-Sicherheitskräfte im Alarmzustand und hatten Einsätze gegen Demonstrierende geprobt. Die regelmäßigen Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom Mai, die seit August anhaltende Fluchtwelle Tausender DDR-Bürgerinnen und -Bürger über Ungarn und die CSSR in den Westen, die Gründung der Bürgerbewegung Neues Forum im September und nicht zuletzt die Reformpolitik Michail Gorbatschows in Moskau ließen die Stimmung im Land brodeln. Veränderung lag in der Luft, Aufruhr, der Wind of change.
Auf dem Alexanderplatz hatte sich am Nachmittag des 7. Oktobers, einem Sonnabend, Hunderte junge Leute versammelt. Vereinzelt wurden Sprechchöre gerufen wie „Wir sind das Volk“ und „Wir bleiben hier“.
Zivil gekleidete Stasi-Mitarbeiter griffen sich immer wieder einzelne Protestierende heraus und führten sie zu. Die sogenannte, auf 24 Stunden begrenzte Zuführung war in der DDR die Vorstufe einer Festnahme oder Verhaftung, für die keine Begründung oder Rechtsgrundlage notwendig war.
Kurz nach 17 Uhr setzte sich die Gruppe auf dem Alex plötzlich in Bewegung und zog Richtung Palast der Republik, wo die Staats- und Parteiführung mit Gorbatschow und anderen ausländischen Gästen feierte. Unterwegs schlossen sich immer mehr Passanten spontan an, so dass rund 3.000 Personen die Spreebrücke am Palast erreichten. Dort blockierte eine Sperrkette aus Polizisten und Stasikräften, die als FDJ-Ordnungsgruppe getarnt waren, den Demonstrationszug. Aus der Menge erschollen Rufe: „Keine Gewalt“, „Wir sind das Volk“, „Gorbi, hilf“. Kleine Greifergruppen der Stasi zerrten einzelne Demonstrierende hinter die Sperrkette, prügelten auf sie ein und stießen sie auf bereitstehende Lkw.
Nach einer Stunde gelang es den Sicherheitskräften, die Menge vom Stadtzentrum weg in Richtung Prenzlauer Berg zu drängen und die Straßenzüge zurück Richtung Alexanderplatz abzuriegeln.
Massive Polizeigewalt
Unterwegs griffen immer wieder Angehörige der Anti-Terror-Einheiten des MfS mit großer Härte einzelne Personen wahllos aus der Menge heraus, schlugen sie zusammen, obwohl keine Gegenwehr erfolgte, und verluden sie auf Transportfahrzeuge. Gegen 20 Uhr war schließlich der Großteil der Demonstrierenden in Richtung Gethsemane-Kirche abgedrängt worden. Eine halbe Stunde später wurde der Bereich um die Kirche fast hermetisch abgeriegelt. In dem Kessel befanden sich nun rund 5.000 Personen. Um Mitternacht begannen Polizei und Stasi mit der gewaltsamen Räumung. Erneut prügelten sie mit Schlagstöcken auf Menschen ein und jagten Flüchtenden durch Nebenstraßen nach. Sogar ein Wasserwerfer kam – erstmals in der DDR – zum Einsatz und richtete seinen Strahl auch auf die Fenster von Anwohnenden, die sich entrüstet über das Vorgehen zeigten und mit den Demonstrierenden solidarisierten. Häuser und Wohnungen boten keinen Schutz – zivile Stasi-Kräfte und Volkspolizisten drangen gewaltsam in die Wohnungen ein, in die sich Demonstrierende geflüchtet hatten, und verschleppten die Anwesenden.
Am darauffolgenden Sonntag sollte von vornherein jeder Protest unterbunden werden. Stasi-Chef Erich Mielke stimmte dazu am Vormittag mit Politbüromitglied Egon Krenz, dem Berliner SED-Chef Günter Schabowski und Stasi-Vizeminister Wolfgang Schwanitz das Vorgehen ab. Dabei konzentrierte sich der Einsatz der Sicherheitskräfte erneut auf vermutete Zentren des Aufruhrs – insbesondere den Alexanderplatz und die Gethsemane-Kirche.
Gegen 18 Uhr spitzte sich die Lage an der Schönhauser Allee erneut zu. Wieder wurde die Gegend rund um die Gethsemane-Kirche abgeriegelt. Eine unerträgliche Spannung lag in der Luft. Auf Gehwegen und Straßen, in Fenstern und auf Balkonen brannten nun Kerzen, immer wieder erschollen Rufe „Keine Gewalt“ und „Freiheit“. Doch eine halbe Stunde vor Mitternacht schlug die Staatsmacht zu. Wieder kamen Schlagstöcke zum Einsatz, einige Sicherheitskräfte gingen zudem mit Schlagringen und Reizgas vor. Bis spät in die Nacht hinein durchkämmten Greiftrupps die Straßen des Prenzlauer Bergs zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. Erst gegen 2 Uhr kam der Befehl zum Rückzug.
Insgesamt wurden an beiden Tagen mehr als 1.000 Männer und Frauen zugeführt. Eine große Zahl von ihnen wurde auf Polizeirevieren misshandelt und erniedrigt. Andere wurden in ein provisorisch eingerichtetes Internierungslager am Blankenburger Pflasterweg im Berliner Stadtteil Weißensee gebracht. Was sich dort, in einem als Kaserne von der DDR-Bereitschaftspolizei genutzten Dienstobjekt, abspielte, schilderte Frank Richter, einer der Betroffenen, in einem Gespräch mit dem Autor zwei Jahre später so:
„Wir kamen am 8. Oktober 1989, abends gegen 20 Uhr, in der Kaserne an. Unser Lkw war rückwärts an die Haustreppe eines Gebäudes herangefahren, wir mussten in kleinen Gruppen von zwei bis vier Leuten von der Ladefläche springen und durch ein Spalier von Uniformierten mit Gummiknüppeln, die uns anschrien, ins Haus laufen. Ich habe Hunde bellen hören, und uns wurde gesagt, dass bei einem Fluchtversuch geschossen wird. Im Erdgeschoss nahmen sie mir den Ausweis ab und sagten, dass hier ‚abschließende Maßnahmen’ erfolgen. Dann jagten sie uns die Treppen hoch. Auf den Podesten standen Uniformierte, schlugen mit Gummiknüppeln an die Eisengeländer und brüllten: ‚Schneller, schneller!’ und ‚Aus diesem Lager kommt ihr nie wieder raus!’. Auf dem Flur mussten wir Männer uns vor den Frauen nackt ausziehen, unter Hohn und Spott der Polizisten Liegestütze und Kniebeugen machen. Stundenlang standen wir in Fliegerstellung – Beine gespreizt, Hände erhoben und Blick zur Wand – auf dem Flur. Keiner durfte sprechen oder sich bewegen. Wer zur Toilette wollte, musste den Weg in Häschen-hüpf-Sprüngen zurücklegen.“
Einzeln, so erinnerte sich Frank Richter noch, seien einige in den Keller geführt worden, wo Stasi-Offiziere sie vernahmen. Man habe Schreie von dort gehört, manche hätten geblutet, als sie wieder zurück auf den Flur gebracht wurden.
Fast alle der am 7. und 8. Oktober 1989 Festgenommenen, auch die Internierten vom Blankenburger Pflasterweg, kamen spätestens in den frühen Morgenstunden des 9. Oktober wieder auf freien Fuß. Lediglich 17 Personen wurden in Untersuchungshaft genommen. Sie wurden erst vier Tage später aus der Haft entlassen.
Couragierte Zeugen und Zeuginnen
Der damals 23-Jährige Frank Richter war nur ein Zeuge von Hunderten, die in den Tagen nach dem DDR-Jahrestag übereinstimmend Gewalt und Willkür durch Polizei und Stasi schilderten. Der Radiojournalist Christoph Singelnstein, der damals der Opposition angehörte und bis März 2021 Chefredakteur im RBB war, erinnert sich daran:
„Wir hatten in der Gethsemane-Kirche schon vor dem 7. Oktober ein Kontakttelefon eingerichtet, da wir befürchteten, dass die Staatsmacht erbarmungslos gegen Oppositionelle vorgehen wird“, erzählt er. „Was wir dann aber zu hören bekamen von den Betroffenen, die an diesen Tagen zusammengeknüppelt und zugeführt worden waren, das erschütterte uns sehr. Wir baten sie, Gedächtnisprotokolle über ihre Erlebnisse anzufertigen, die wir dann öffentlich machen wollten.“
Hunderte solcher Gedächtnisprotokolle entstanden, sie gehören heute zu den wichtigsten authentischen Zeugnissen jener Tage.
Wachsende Empörung in der Bevölkerung
Das rücksichtslose und brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte sorgte für Empörung unter Ostberlinern und Ostberlinerinnen. Denn während die SED-gelenkten Medien nur in Kurzmeldungen über „Randalierer“ berichteten, die „im Zusammenspiel mit westlichen Medien … republikfeindliche Parolen“ gerufen hätten, worauf die „Schutz- und Sicherheitsorgane mit Besonnenheit“ reagiert hätten, verbreiteten sich die realen Erlebnisschilderungen wie ein Lauffeuer in der Stadt. Betroffene, Augenzeugen und Augenzeuginnen informierten in ihren Freundeskreisen und an ihren Arbeitsplätzen, was sich wirklich abgespielt hatte rund um die Gethsemane-Kirche. Auch unter Krankenhausmitarbeitenden und ihren Bekannten machten Berichte von den vielen Verletzten die Runde. Allein in den umliegenden Krankenhäusern rund um den Prenzlauer Berg waren am 7. und 8. Oktober 19 Frauen und 39 Männer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren behandelt worden. Sie hatten Quetschungen und Blutergüssen am ganzen Körper, Prellungen der Nierenlager, Schädel-Hirn-Verletzungen, Kopfplatzwunden und Knochenbrüche.
Zwei schwangere Frauen waren durch Schlagstöcke und Reizgas verletzt worden. Bei einem Mann wurde ein Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades und Trommelfellverreißung diagnostiziert, er befand sich noch Ende 1989 in stationärer neurologischer Behandlung. Weitere 163 Verletzte begaben sich an den folgenden Tagen in ärztliche Behandlung; viele weitere Opfer der Übergriffe vermieden aber auch den Gang zum Arzt, weil sie fürchteten, den Behörden gemeldet zu werden.
Der Schock und die Wut in der Bevölkerung saßen tief, denn eine solche Gewaltorgie gegen friedlich Demonstrierende hatte es seit der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der Stadt nicht mehr gegeben. Und die Empörung steigerte sich noch, als Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen am 23. Oktober auf einer Pressekonferenz im Gemeindezentrum „Am Fennpfuhl“ erstmals öffentlich einige der von Betroffenen verfassten Gedächtnisprotokolle verlasen. Vor den Augen von Berliner und ausländischen Journalistinnen und Journalisten übergaben sie eine rund 150 Seiten umfassende Dokumentation mit den Protokollen an einen Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft mit der Aufforderung, strafrechtliche Schritte gegen Beteiligte und Verantwortliche der brutalen Polizeieinsätze einzuleiten.
Bloß „Rowdys und Gewalttäter“?
Nun berichteten auch die Berliner Zeitungen über das Thema, sogar auf Seite 1. Am Tag darauf veröffentlichten die SED-Medien allerdings kommentarlos eine Erklärung des neuen SED-Chefs und Honecker-Nachfolgers Egon Krenz. Dieser behauptete darin wahrheitswidrig, dass „Rowdys und Gewalttäter“ unter den Demonstrierenden auf der Schönhauser Allee mit Brandflaschen, Eisenstangen und Stahlkugeln sowie Totschlägern Einsatzkräfte angegriffen hätten. Angeblich habe es 106 verletzte Sicherheitskräfte gegeben. Eine Lüge, wie sich später herausstellte: An beiden Tagen waren nur vier Polizisten zu Schaden gekommen, alle ohne Einwirkung eines Demonstrierenden.
Die Erklärung von Krenz verpuffte. Auf Demonstrationen, von Künstlern und Künstlerinnen organisierten Veranstaltungen und in öffentlichen Diskussionsrunden mit Parteifunktionären wurde in den folgenden Tagen der Ruf nach einer Untersuchungskommission immer lauter. Schließlich gründeten sich Anfang November gleich zwei solcher Gremien – eine unabhängige, aus Oppositionellen, Kirchenvertreter/innen und Künstler/innen zusammengesetzte Kommission und ein zweiter, von der Stadtverordnetenversammlung berufener Untersuchungsausschuss, dem ebenfalls Künstler/innen und Kirchenleute, aber auch Abgeordnete, Polizeioffiziere und Stadträte angehörten. Nachdem die Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen durchgesetzt hatten, dass die Polizeivertreter abberufen werden, fusionierten beide Gremien am 9. November 1989 zu einer „Zeitweiligen Untersuchungskommission“.
Die Kommission als „Lernort für Demokratie“
Dieser Kommission gehörten insgesamt 26 Männer und Frauen an. Darunter waren neben Vertretern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung auch Arbeiter und Arbeiterinnen, Ärzt/innen, Rechtsanwält/innen, Wissenschaftler/innen, Kirchenleute - und, was sich allerdings zum Teil erst Jahre später herausstellte, auch einige Inoffizielle Mitarbeitende der Stasi. Außerdem gehörten dem Gremium Oppositionelle sowie mehrere namhafte Künstler und Künstlerinnen an, die in den zurückliegenden Wochen öffentlich auf eine Untersuchung gedrungen hatten. Zu ihnen gehörten etwa die Schriftsteller/innen Christa Wolf, Christoph Hein, Daniela Dahn und Jürgen Rennert, der Maler und Grafiker Manfred Butzmann, der Filmemacher Lew Hohmann und die Schauspielerin Jutta Wachowiak.
„Diese Kommission war ein Lernort für Demokratie, denn da saßen wir plötzlich mit denen an einem Tisch, mit denen wir sonst nie freiwillig geredet haben“, sagt Martin Michael Passauer, im Herbst 1989 Pfarrer der Sophiengemeinde in Berlin-Mitte und Referent des Evangelischen Bischofs Gottfried Forck. „Das war aufregend und herausfordernd. Wir alle – Oppositionelle, Unangepasste, SED-Genossen, Kirchenvertreter – übten gemeinsam demokratische Spielregeln ein, ohne dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Uns einte doch das Ziel, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu gelangen und dem Unrecht auf die Spur zu kommen. Täter und Verantwortliche sollten auch öffentlich einen Namen bekommen. Ich halte diese Kommission für eine der Sternstunden des Umbruchs.“
Ähnlich sieht es auch der Schriftsteller Christoph Hein im Rückblick: „Das waren Anhörungen, wie es sie in dem Land nie gegeben hatten, die zuvor nicht vorstellbar waren und die jene, die für die Übergriffe verantwortlich waren, zur Weißglut trieben. Doch sie hatten unsere Fragen zu beantworten.“
Christoph Singelnstein erinnert sich noch heute an die hohe Emotionalität, die das gemeinsame Arbeiten in der Kommission anfangs prägte. „Da prallten wirklich Welten aufeinander. Die Vertreter der Staatsmacht konnten mit uns Oppositionellen nichts anfangen. Und wir konnten mit denen nichts anfangen“, sagt er. „Schließlich kam hinzu, dass parallel zur Arbeit der Kommission der Aufruhr weiter lief in der DDR, es brannte – im übertragenen Sinnen – an allen Ecken und Enden des Landes.“ Im Laufe der Zeit aber sei die Stimmung in der Kommission ruhiger, sachlicher geworden, weil sich die Verhältnisse im Land ja auch änderten. „Wir hatten zunehmend ein Miteinander.“
Am 15. November 1989 begann die Kommission mit den Befragungen von Verantwortlichen und Beteiligten der Ereignisse vom 7./8. Oktober. Den Weg dafür freigemacht hatte die Volkskammer, erzählt Daniela Dahn. „Die Kommission hatte beim Rechtsausschuss der Volkskammer beantragt, dass Verantwortliche zur Zeugenaussage verpflichtet und eine Geheimhaltung von Regierungs- und Behördenentscheidungen im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin aufgehoben werden. Und das hat uns der Rechtsausschuss genehmigt“, sagte sie. „Ohne diese Rechtsgrundlage hätten wir gar nicht die Kompetenz gehabt, die Zeugen und Zeuginnen vorzuladen.“
Weder Reue noch Selbstkritik
Als erstes wurden der Berliner Polizeipräsident, Friedhelm Rausch, und der Berliner Stasi-Chef, Siegfried Hähnel, befragt. Beide bestritten, dass es einen Befehl zur Gewaltanwendung gegen Demonstrierende gegeben habe. Eine unmittelbare Verantwortung für die gewaltsamen Übergriffe von Einsatzkräften lehnten sie ebenso ab wie die später befragten Ex-Innenminister Dickel und Mielke-Nachfolger Stasi-General Schwanitz. Auch der frühere Oberbürgermeister Erhard Krack, Honecker-Nachfolger Krenz, der ehemalige Berliner SED-Bezirksvorsitzende Schabowski und Wolfgang Herger, früherer Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen im SED-Zentralkomitee, bekannten sich vor der Kommission lediglich zu einer allgemeinen politischen Verantwortung. Eine Mitwirkung in der Befehlskette wiesen sie zurück.
Martin-Michael Passauer, der die Untersuchungskommission geleitet hatte, erinnert sich, wie sehr ihn dieses Verhalten damals erzürnte. „Nicht einer von denen ließ irgendein Zeichen von Reue oder Selbstkritik erkennen. Wir hatten nichts anderes erwartet, aber wir haben die Genossen nicht einfach davonkommen lassen, auch wenn sie in ihrer arroganten Art so taten, als perlte alles von ihnen ab“, sagt er. „Es ging uns in der Kommission auch darum, denen zu zeigen, dass wir diese Politik, diese Gewalt und Willkür nicht mehr haben wollen in unserem Land.“
Obwohl die Zeugen sich störrisch und uneinsichtig zeigten und der Kommission relevante Unterlagen vorenthalten wurden, gelang es dem Gremium, die Vorgänge und Verantwortlichkeiten rund um den 7./8. Oktober weitgehend zu rekonstruieren. „Vor allem gelang es uns, den Opfern Genugtuung widerfahren zu lassen“, betont Christoph Singelnstein. „Es war wichtig, dass alle Zugeführten und Inhaftierten vollständig rehabilitiert und entschädigt wurden.“
Ein besonderes Erlebnis war für einige Mitglieder der Untersuchungskommission – und auch für den Autor, der als einziger Berichterstatter daran teilnehmen durfte – die Befragung des einstigen Stasi-Chefs Erich Mielke am 26. Januar 1990. Der damals 82-Jährige saß bereits seit einigen Wochen in Rummelsburg in Untersuchungshaft. Die Befragung fand in einer Zelle auf der Krankenstation statt. Vor dem Gespräch hatte der Anstaltsarzt gesagt, dass der Ex-Minister einen totalen psychischen und körperlichen Zusammenbruch hatte in der Untersuchungshaft. Es hätten sich massive Erscheinungen von Verkalkung und fortschreitende Senilität eingestellt, Mielke habe auch Suizidwünsche geäußert.
Und tatsächlich machte der einst so mächtige Mann, der nun klein und zusammengesunken auf seinem Holzstuhl in der Zelle saß, einen körperlich und psychisch gebrochenen Eindruck. Stockend versuchte er, auf Fragen zu antworten, verhaspelte sich dabei oft, unterbrach sich häufig mitten im Satz und schweifte ab.
„Wir waren uns zunächst unsicher, ob der nun wirklich schon so verwirrt ist oder ein genialer Schauspieler, der eine Senilität nur vorgibt“, erinnert sich Daniela Dahn, die damals als stellvertretende Kommissionsvorsitzende dabei war in Rummelsburg. „Ich war mir dann aber schnell sicher, dass er uns nichts vorspielt. Er rang um Worte, wollte sich klarer ausdrücken und war dann über sich selbst verärgert, dass ihm das nicht gelang.“ Inhaltlich aber habe die Befragung nichts erbracht. „Wenn es konkret wurde, machte Mielke dicht. Da war der alte Geheimdienstmann stärker, keine Namen, keine Details. Immerhin hat er bestätigt, dass er auf der Brücke am Palast der Republik stand, sich die Situation vor Ort angeschaut und angewiesen hat, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.“
Auch der Versuch von Daniela Dahn, Mielke zu weitergehenden Gedanken über seine gut drei Jahrzehnte andauernde Karriere als Geheimpolizeichef zu befragen, schlug fehl. „Ich wollte die Gelegenheit eben nicht verstreichen lassen“, erzählt sie. „Es blieb ja auch, so weit ich weiß, das einzige Interview mit ihm. Wobei Interview das falsche Wort ist – es war ja eine Befragung. Mielke musste den Rollentausch hinnehmen, er sollte uns antworten und sein Tun rechtfertigen. Deshalb dachte ich, bald wird er gar nichts mehr sagen und das wäre jetzt die Chance, dass er vielleicht noch mal reflektiert, was er falsch gemacht hat. Doch da kam nichts von ihm.
Beispielhafte gesellschaftliche Verständigung
Am 14. März 1990 beendete die Untersuchungskommission ihre Anhörungen, anderthalb Monate später, am 27. April, erlosch mit dem Ende der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung auch ihr Untersuchungsauftrag. In Absprache mit dem sogenannten MagiSenat, der gemeinsamen Stadtregierung von Ost- und Westberlin, setzte die Kommission ihre Arbeit – allerdings mit reduzierten Möglichkeiten – noch bis 1991 fort und legte dann einen Abschlussbericht vor. Wesentliche Auszüge daraus wurden im gleichen Jahr als Buch mit dem Titel „Und diese verdammte Ohnmacht“ herausgegeben.
Der Titel des Buches klingt nach Resignation, räumt heute Martin-Michael Passauer ein. „Unter dem Strich sind ja fast alle Täter ungestraft davongekommen“, sagt er. „Zwei oder drei von den Sicherheitskräften bekamen eine Bewährungsstrafe, glaube ich, aber das war es schon. Dier Formulierung von Bärbel Bohley – „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtstaat.“, – steht exemplarisch deshalb auch für unsere Kommission. Es ist Unrecht geschehen, das haben wir festgestellt, aber es ist niemand bestraft worden. Wie für so vieles, was in der DDR geschehen ist.“
Aber in der Kommission sei es immer auch um viel mehr gegangen als nur darum, wann welcher Befehl erteilt wurde und warum sich Polizisten so oder so verhalten haben, betont Christoph Singelnstein. „Wir sprachen miteinander, machten unsere politisch entgegengesetzten Positionen dem anderen verständlich“, sagt er. „Diese Kommission führte vor, wie eine gesellschaftliche Verständigung der Ostdeutschen untereinander stattfinden kann. Wünschenswert wäre es gewesen, das hätte in dieser Zeit an vielen anderen Stellen auch so funktioniert. Das hätte manches vielleicht anders werden lassen.“
Zitierweise: Andreas Förster, „Eine Sternstunde des demokratischen Aufbruchs“, in: Deutschland Archiv, erstveröffentlicht am 13.10.2021, aktualisiert am 4.10.2024. Link: Externer Link: www.bpb.de/341969.
Jahrgang 1958, ist freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt vor allem über DDR-Aufarbeitung, Terrorismus und politischen Extremismus, Geheimdienste, Zeitgeschichte und Organisierte Kriminalität, vornehmlich für die Berliner Zeitung.
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