Eine Glücksstunde mit Makeln
Aus der Serie "Ungehaltene Reden" ehemaliger Volkskammerabgeordneter
Markus Meckel
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In loser Folge formulieren an dieser Stelle ehemalige Abgeordnete des letzten Parlaments der DDR, der am 18. März 1990 ersten frei gewählten „Volkskammer“, Beiträge und Reden für das Deutschlandarchiv. An dieser Stelle Markus Meckel, er war letzter Außenminister der DDR und sieht seine Parlamentszeit als "aufrechten Gang der DDR-Bürger in diese mehrheitlich von ihnen gewünschte Einheit".
Oft heißt es zu Recht: „Wer die Vergangenheit nicht begreift und verarbeitet, wird es schwer haben, die Zukunft zu gestalten.“ Das gilt auch hier: Wir haben auch nach drei Jahrzehnten noch keine gemeinsame Erzählung gefunden über das, was 1989/90 geschah. Und das gilt auch für den 18. März 1990 – den Tag, an dem die DDR zu einer Demokratie wurde. Schon die Tatsache, dass sie am Ende schließlich eine war und ab dann zum aktiven Part im Prozess der deutschen Einheit wurde, ist heute weithin nicht bewusst.
Der 18. März hat es schwer unter den deutschen Gedenktagen. Im langen Ringen um Freiheit und Einheit in Deutschland steht dieser Tag in besonderer Weise für Freiheit und Demokratie, für Werte, die in der deutschen Tradition erst sehr spät zu Anerkennung und Würdigung gefunden haben. Zum einen steht der 18. März für die Revolution von 1848, deren Erfolge schließlich durch die Restauration weitgehend zunichte gemacht wurden. Zum anderen erinnern wir an diesem Tag an die freien Volkskammerwahlen vor 30 Jahren.
Rückblickend können wohl die wenigsten heute noch erklären, warum es eigentlich vier Monate nach dem Mauerfall 1989 noch Wahlen in der DDR gegeben hat. Das übliche öffentliche Gedenken kann das jedenfalls nicht erklären. Da wird meist an die Hunderttausende auf den Straßen der DDR im Herbst 1989 erinnert, dann an den Mauerfall am 9. November. Schließlich wird dann hervorgehoben, wie Kanzler Kohl die deutsche Einheit gemacht habe – unterstützt von Präsident Bush, und wie es ihm gelang, die Zustimmung Gorbatschows für die deutsche Einheit zu erlangen. Doch: Ist das wirklich unsere Geschichte? Meine jedenfalls nicht.
Bis heute hat die öffentliche Erinnerung die Ostdeutschen, das heißt die demokratischen Institutionen der DDR nach der Wahl als aktive Subjekte auf dem Weg in die Einheit ausgeblendet. Und diese erstmals freie gewählte Volkskammer gehörte dazu, sie allein war legitimiert, über die Zukunft der DDR zu entscheiden.
Der Moment ihrer Wahl am 18. März und ihre Konstituierung am 5. April 1990 markieren die Geburtsstunde der kurzen, aber wichtigen Geschichte der Demokratie in der DDR. Dieses erstmals frei gewählte Parlament bedeutete den endgültigen Sieg der Friedlichen Revolution, in welcher sich die DDR-Bürger – gemeinsam mit den anderen Völkern Mitteleuropas – von der kommunistischen Diktatur befreiten und eine parlamentarische Demokratie errichteten.
Gorbatschow hatte mit der Perestroika diese Räume der Selbstbestimmung eröffnet, die Länder Mitteleuropas und die DDR ergriffen diese Chance zur Selbstbefreiung.
Der Zentrale Runde Tische, das in Polen erfundene Instrument des friedlichen Übergangs durch Verhandlungen, die durch die Massen auf den Straßen erzwungen wurden, hatte die Voraussetzungen für die freie Wahl geschaffen. Wie die Kerzen des Herbstes 1989 wurde er zum Symbol für die Gewaltlosigkeit dieses Prozesses.
Die DDR war aber bis zu diesem wunderbaren Jahr 1989/90 nicht nur eine Diktatur gewesen, sie war auch ein Teil Deutschlands, das nach dem 2. Weltkrieg und all den furchtbaren Verbrechen von den Siegermächten in vier Besatzungszonen geteilt wurde, aus denen dann 1949 die Bundesrepublik Deutschland und die DDR entstanden. Beide deutschen Staaten gehörten jeweils den feindlichen Blöcken des Kalten Krieges an und erhielten unterschiedliche Zukunftschancen.
Im Westen entwickelte sich eine parlamentarische Demokratie und nach und nach, mit schweren Konflikten, eine offene Gesellschaft. Die DDR war eine kommunistische Diktatur. Im Spätherbst 1989, als schließlich die Freiheit die Oberhand gewann und die Menschen die Angst verloren hatten, erwies sich schnell, dass die große Mehrheit der DDR-Bürger die deutsche Einheit wollte. So prägten die Perspektive der Einheit und der Streit, wie diese zu erreichen wäre, schon auf dem Weg zur freien Wahl im März 1990 die öffentliche Debatte.
Mit dem Fall der Mauer kam die Frage der Einheit
Die im Spätsommer 1989 aus den kleinen Gruppen der demokratischen Opposition in der DDR entstandenen Bewegungen und Parteien, die in der Friedlichen Revolution zu den wesentlichen politischen Kräften wurden, kämpften für Freiheit und Demokratie. Doch als mit dem Fall der Mauer die Frage der Einheit auf die Tagesordnung kam - waren sie gespalten. Die große Mehrheit der DDR-Bürger jedoch schaute nach Westen – war getragen vom Wunsch nach Freiheit und Wohlstand wie nebenan.
Angesichts ihrer Gespaltenheit in dieser Frage verloren die neuen demokratischen Kräfte zunehmend den Rückhalt in der Bevölkerung. Diese schaute zunehmend nach Westen, setzte ihre Hoffnungen auf die Bundesregierung mit Helmut Kohl an der Spitze. Die Koalitionsparteien in der Bundesrepublik verbündeten sich anfängliche Bedenken schnell überwindend - mit den Blockparteien in der DDR, die bis dahin fest an der Seite der SED gestanden hatten. Das brachte ihnen viele Vorteile: Die Blockparteien hatten schon im SED-Staat einen vollständigen Funktionärsapparat und Mitglieder, Zeitungen – und staatliche finanzielle Mittel. Man wechselte einige Personen an der Spitze aus – und stellte sich als demokratische Kraft dar. So gewannen diese Blockparteien – in hohem Maße finanziert aus dem Westen - haushoch die ersten freien Wahlen, die westdeutsche Bundesregierung gab die Strategie vor – und versprach die baldige Einführung der D-Mark und die schnelle Einheit.
Nach Koalitionsverhandlungen wurde am 12. April eine demokratisch gewählte DDR-Regierung vereidigt, bestehend aus der CDU, den Liberalen, der DSU (Deutsche Soziale Union), dem "Demokratischen Aufbruch" sowie der SPD. So muss man für 1989/90 feststellen: Die Friedliche Revolution bis zum März 1990 prägten die neuen demokratische Initiativen und Parteien, mit der freien Wahl verloren sie rasant an Bedeutung. Umgekehrt die bisherigen Blockparteien, zu DDR-Zeiten in der "Nationalen Front" in einem Boot mit der SED. Sie hatten in der Friedlichen Revolution keine Rolle gespielt und waren erst langsam von der SED abgerückt. Mit der Wahl übernahmen sie jedoch die Regierung, darunter die CDU.
Allein die neu gegründete Sozialdemokratie war sowohl im Herbst 89 wie im Prozess der Einheit 1990 eine eigenständig gestaltende Kraft. Das waren konfliktreiche Prozesse – die heute vergessen sind. Dabei wäre es wichtig, sie in Erinnerung zu rufen – denn die Frage, ob DDR-Bürger nur Objekt des Einigungsprozesses waren oder selbst Subjekt, spielt für die Darstellung und das Selbstbewusstsein eine wichtige Rolle. AfD – und die LINKE – jedenfalls suggerieren, die DDR-Bürger wären schlicht Objekt gewesen, kolonisiert worden, und es gäbe hier etwas nachzuholen. Eine ideologisch geprägte Sicht.
Die erste in der DDR frei gewählte Regierung übernahm Mitte April den Wählerauftrag, die deutsche Einheit anzustreben - und damit, alles zu tun, sich selbst abzuschaffen. In den 2+4 Verhandlungen, in denen die beiden deutschen Staaten auf Außenministerebene mit den Siegermächten des 2. Weltkrieges verhandelte, galt es, die Akzeptanz der vier Mächte für die Deutsche Einheit zu festigen. Hier waren schwierige sicherheitspolitische Fragen zu lösen. Mit der Bundesregierung wurden die nötigen Verträge bilateral verhandelt, erst der zur Währungsunion, dann der zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Das Wahlergebnis am 18. März hatte deutlich gemacht, dass die große Mehrheit der DDR-Bürger einen möglichst zügigen Vollzug der Einheit wollte. Damit war dann auch die Entscheidung gefallen, dass sie rechtlich gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes, als Beitritt vollzogen werden sollte, denn dies war der einfachste und schnellste Weg. Doch blieb die politische Herausforderung: Es galt, die völlig anders strukturierte und gestaltete Gesellschaft der DDR in die Rechtsstrukturen der Bundesrepublik einzugliedern. Hier gab es vielfältige Diskussionen: Sollte wirklich einfach alles aus dem Westen übernommen werden (bis hin zur Hauptschule, wie es 1991 in Mecklenburg-Vorpommern noch geschah)? War im Osten wirklich alles schlecht und ideologisch belastet? (Auch die Polikliniken, die erst abgeschafft und viel später als „Ärztehäuser“ neu „erfunden“ wurden?) Und konnte nicht auch Neues für beide Seiten entstehen, auf das man sich hätte verständigen müssen?
Keine Veränderungsbereitschaft im Westen
Aber auf Seiten der Bundesregierung war die Bereitschaft, auch nur darüber nachzudenken, ob im Zuge der Vereinigung nicht auch im Westen etwas zu verändern wäre, so gut wie nicht vorhanden. Erst als im Bundesrat die SPD eine Mehrheit errang, setzte sich in der Abtreibungsfrage nach langen Verhandlungen ein neues Modell durch – man einigte sich, dass man innerhalb von zwei Jahren gemeinsam ein neues Recht schaffen wolle. Bis dahin sollten in Ost und West die bisherigen Regelungen gelten. Eine solche Art der rücksichtsvollen Einigung wäre wohl auch in anderen Bereichen möglich gewesen.
Sich die Verhandlungen nach mehr als 30 Jahren noch einmal genauer anzusehen und diesen Prozess zu durchdenken, würde sich lohnen. Bisher hat sich nicht einmal die historische Wissenschaft um solche Fragen gekümmert.
Viele Historiker folgten gern dem Bild, das Helmut Kohl von sich entwarf, denn nach 1990 hat er sich acht Jahre im Kanzleramt intensiv darum bemüht, sein Bild als „Kanzler der Einheit“ zu verfestigen. Damit war er sehr erfolgreich. So musste über die innerdeutschen Verhandlungen nicht mehr nachgedacht werden.
Die Verhandlungen waren umstritten - und von der DDR-Bevölkerung selbst wenig geachtet. Bei vielen galten sie als Zeitverschwendung und Verzögerung der Einheit. Gleichzeitig waren sie von der manchmal gnadenlosen Dominanz des Westens geprägt, der durchaus seine Interessen im Blick behielt.
Die Anerkennung der Bodenreform durchzusetzen, war nur möglich, weil auch die Sowjetunion darauf bestand. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ hat zu einem immensen Vermögenstransfer geführt, der über Generationen fortwirkt. Das war damals schon absehbar, konnten wir jedoch nicht verhindern. Dass die sogenannten „Altschulden“ keine wirklichen Schulden waren, wussten wir damals schon. Dass sie trotzdem als solche behandelt wurden, führte zu verheerenden Konsequenzen, die erst spät und nur teilweise gemildert wurden. Bei aller damaligen oder nachträglichen Kritik an den damals ausgehandelten Verträgen dürfte es jedoch unbestreitbar sein: Die Deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 war das Ergebnis dieser Verhandlungen - und der mehrheitlich gefassten Entscheidungen der am 18. März gewählten Volkskammer.
"Der aufrechte Gang in die Einheit"
Was auch immer sonst gesagt werden kann, der Weg in die Einheit war – vom institutionellen Ablauf der Ereignisse her gesehen - der aufrechte Gang der DDR-Bürger in diese mehrheitlich von ihnen gewünschte Einheit.
Auch wenn nicht alle Träume wahr wurden, so bleibt doch festzuhalten: Die Erlangung der Deutschen Einheit 1990 ist zur Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert geworden! Wir Deutschen, nach den Jahrzehnten der Teilung in Freiheit und Demokratie vereint, mit der Zustimmung aller unserer Nachbarn, und das 45 Jahre, nachdem wir so viel Schrecken über ganz Europa gebracht hatten. Welch ein Grund zur Dankbarkeit.
Und welche Verantwortung für dieses Europa, das sich darauf festgelegt hat, seine Zukunft gemeinsam zu gestalten, Konflikte friedlich zu lösen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu festigen, dem Recht zu folgen und für die Achtung der Würde des Menschen einzustehen.
1990 wollten die meisten DDR-Bürger wohl schlicht in einem geeinten Deutschland leben. Doch spielten die Europäischen Gemeinschaften (EG) auch damals schon eine wichtige Rolle im Vereinigungsprozess. Zentrale Grundentscheidungen hin zu mehr Integration in einer Europäischen Union fielen im Zusammenhang der deutschen Einigung.
Auch heute gibt es angesichts gegenwärtiger Krisen – wie jetzt angesichts der Corona-Pandemie – immer wieder zuerst den Reflex nationalen Handelns, doch bin ich überzeugt, dass sich auch hier in den nächsten Monaten zeigen wird, dass nur gemeinsames, grenzüberschreitendes Handeln tragfähige Lösungen bringt und die EU als Solidargemeinschaft eine zentrale Bedeutung für die Überlebensfähigkeit der europäischen Staaten hat. Denn der Satz am Anfang dieser Rede gilt für Deutschland, wie Europa: „Wer die Vergangenheit nicht begreift und verarbeitet, wird es schwer haben, die Zukunft zu gestalten.“
Zitierweise: "Eine Glücksstunde mit Makeln“, Markus Meckel, in: Deutschland Archiv, 7.4.2020, Link: www.bpb.de/307527.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Theologe Markus Meckel aus Brandenburg war Mitinitiator der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR 1989 und wurde nach der ersten freien Wahl vom 18. März 1990 vom 12. April bis zum 20. August 1990 Außenminister der DDR in der Großen Koalition. Bis 2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an und leitete von 2013 bis 2016 den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.. Von 1992 bis 1994 war er Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der von ihm initiierten Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Im März 2020 erschien sein Buch über den Prozess der deutschen Einheit "Zu wandeln die Zeiten" in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.