Ein anhaltendes Defizit?
Ostdeutsche in den Eliten als Problem und Aufgabe
Raj Kollmorgen
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Die öffentliche Debatte über die Vertretung Ostdeutscher in den bundesdeutschen und regionalen Eliten wogt seit über 30 Jahren auf und ab. 2021 hat das Thema auch seinen Weg in den Koalitionsvertrag gefunden. Wo genau liegen die Probleme?
1. Problemhorizont
Zum einen hat sich die in den 1990er Jahren in Politik und Wissenschaft vorherrschende Annahme, die geringe Vertretung Ostdeutscher in den bundesdeutschen Eliten wachse sich in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren von selbst aus, sobald die Jüngeren über entsprechende Sozialisationen, Qualifikationen und Laufbahnerfahrungen verfügten, offenkundig nicht bestätigt. Auch wenn es bis heute keine vollumfassenden, detaillierten und validen Erhebungen zur Vertretung Ostdeutscher in den bundesdeutschen Eliten gibt, die vorliegenden Teilergebnisse der letzten Jahre sind eindeutig. Es gibt eine Repräsentationslücke, die sich auch nicht in allen Sektoren zu schließen scheint. Wenn sich aber das Problem in über 30 Jahren nicht autogen erledigt hat, was folgt daraus für die Gesellschaft der Bundesrepublik und die ostdeutschen Regionen? Resultieren aus dem personellen Repräsentationsdefizit Schwierigkeiten in der Wahrnehmung, Vermittlung und Durchsetzung von ostdeutschen Ideen und Interessen? Führt das Defizit zu spezifisch ostdeutschen Problemen in der Regionalentwicklung?
Zum anderen haben die Erschütterungen der politischen Landschaft nach 2015 im Zusammenhang mit der Migrationskrise, der Ausbreitung von rechtspopulistischen Protestbewegungen sowie dem rasanten Aufstieg der AfD und deren Wahlerfolgen gerade in den neuen Bundesländern dafür gesorgt, dass neu gefragt wird, woher die Distanz, ja das offenbar ubiquitäre Misstrauen der Ostdeutschen gegenüber den repräsentativ-demokratischen Institutionen und ihren Eliten stammt, was die Gründe für die Wahlerfolge populistischer Parteien sind – und ob der Mangel an Ostdeutschen in den Eliten auch eine Ursache dafür sein könnte.
Der Beitrag setzt an diesem Problemhorizont an und wird nach begrifflichen Vorklärungen (2.) eine empirisch gestützte Problemdiskussion vornehmen (3.), die mit einem Zwischenresümee (4.) endet. Dem folgt (5.) ein pointierender Erklärungsversuch der Rekrutierungsdefizite. Eine kurze Diskussion politischer Gestaltungschancen und möglicher Zukünfte (6.) beschließt den Beitrag.
2. Problematische Begriffe: Elite und Ostdeutsche*r
Um zu wissen, worüber im Folgenden geschrieben und diskutiert wird, sind zunächst zwei Fragen zu klären: Wer zählt zur Elite und wer wird im vorliegenden Kontext als Ostdeutsche*r begriffen?
Elite
Unter Elite(angehörigen) werden jene Personen verstanden, die in bestimmten überlokalen Handlungsarenen Entscheidungsmacht besitzen, die also innerhalb von Institutionen und Organisationen mit gesamtgesellschaftlicher Wirkungsreichweite über die wesentlichen Steuerungskompetenzen und Machtressourcen verfügen (vgl. Kaina 2009, Wasner 2004). Eliten verfügen also, um es anders zu formulieren, über das erste Zugriffsrecht auf Ressourcen und über das letzte Wort in gesamtgesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen. Eliten werden empirisch vor allem als Positionseliten begriffen (vgl. Hoffmann-Lange 1992: 39-43, 85-90; Kaina 2009: 394-397). Machtpositionen werden damit an strukturelle und institutionelle beziehungsweise organisationale Positionen, vor allem Ämter, gekoppelt, wie beispielsweise Minister*in, Präsident*in einer nationalen Wissenschaftsakademie oder Vorstandsvorsitzende*r einer Aktiengesellschaft. Inhaber*innen solcher (im weitesten Sinne) Ämter zählen unter Absehung der konkreten Person, ihres Charakters und Einflusshandelns zur Elite.
Dabei werden zwei Elite-Ebenen unterschieden:
(1) Die Top-Elite umfasst die eigentlichen Spitzenpositionen auf nationaler Ebene in allen Sektoren, zum Beispiel im staatspolitisch-exekutiven Bereich: Bundeskanzler*in, Bundesminister*innen, Bundespräsident*in oder die Ministerpräsident*innen der Länder; für die Wirtschaft: Vorstände der sektoral jeweils umsatzstärksten Großunternehmen, wobei es sich insgesamt um etwa 1500 Positionen handelt.
(2) Zur Elite insgesamt zählen neben den eben genannten Top-Positionen einerseits deren Stellvertreter*innen und weitere Mitglieder in Kollektivgremien (wie Vorstände, Präsidien und so weiter), andererseits die Positionen der „zweiten Reihe“. Letztere umfassen zum Beispiel Abteilungsleiter*innen der Bundesministerien, Staatssekretär*innen auf Länderebene oder Landesgerichtspräsident*innen. Die so begriffene bundesdeutsche Elite zählt – je nach konkreter sektoraler Ausgestaltung – etwa 5000-10.000 Positionen (siehe Kollmorgen 2015: 196/197 und vgl. Bunselmeyer et al. 2013: 7-10, Hoffmann-Lange 1992: 112/113).
Ostdeutsche Elite
Obzwar der Terminus „ostdeutsche Eliten“ geläufig ist, bleibt er doppeldeutig und bedarf einer Klärung, da mit ihm sowohl Menschen ostdeutscher Herkunft wie auch alle Eliteangehörigen in den neuen Ländern unabhängig von ihrer Herkunft verstanden werden können. Deshalb wird mit Blick auf den Problemkontext definiert: „Ostdeutsche Eliten“ bezeichnet wie „Eliten in Ostdeutschland“ die Angehörigen der Eliten in den fünf neuen Bundesländern; der Ausdruck „westdeutsche Eliten“ erfasst demzufolge die Eliten in den zehn alten Ländern. „Bundesdeutsche Eliten“ adressiert die Eliten auf nationalstaatlicher Ebene, die aufgrund der föderalen Konstitution auch Elitepositionen in den ost- wie westdeutschen Ländern (zum Beispiel die Minister*innen der Länder) einbezieht.
Demgegenüber werden als „ostdeutsche Eliteangehörige“ oder „Ostdeutsche in den Eliten“ alle Positionsinhaber*innen begriffen, die in der DDR geboren wurden und dort mindestens bis zum 14. Lebensjahr aufgewachsen sind, sowie alle nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin geborenen und/oder im Wesentlichen dort aufgewachsenen Personen mit Eltern, die 1989 Bürger*innen der DDR waren.
Ostdeutsch kann selbstverständlich auch strikt nach dem Wohnortprinzip definiert werden. Angesichts der massiven Binnenwanderungen zwischen Ost und West seit der Grenzöffnung im Herbst 1989 könnte damit aber empirisch zum Beispiel nicht erfasst werden, welche Aufstiegschancen Menschen mit DDR-Herkunft besitzen. Mit der Grenze des 14. Lebensjahres wird pragmatisch die Primärsozialisation in der DDR abgebildet, die als ein Grund für unterschiedliche Rekrutierungschancen begriffen wird. Allerdings ist diese Definition zukünftig nur noch bedingt tauglich (siehe 6).
3. Problemdimensionen und Problemperspektiven
Rekapituliert man die Ergebnisse der theoretisch-konzeptuellen Eliteforschung wie der empirischen Analysen zum ostdeutschen Fall eines radikalen Elitewechsels (als Übersichten etwa: Best/Holtmann 2012, Bürklin et al. 1997, Hoffmann-Lange 2000, Kaina 2009, Kollmorgen 2015, Wasner 2004), werden zum Thema Ostdeutsche in den Eliten drei mögliche Problemdimensionen erkennbar:
(1) Das sozialstrukturelle Rekrutierungs- und Repräsentationsproblem: Hier ist problematisch, in welchem Umfang Ostdeutsche in den Eliten vertreten sind beziehungsweise neu rekrutiert werden. Entspricht ihr Anteil dem Bevölkerungsanteil oder liegt er (weit) darunter? Das gilt übergreifend, daber auch auf einzelne Elitesektoren (Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und so weiter), auf bestimmte Regionen (etwa Bundesländer) oder Eliteebenen bezogen.
(2) Das Problem systemischer Elitenintegration: Hier wird nach möglichen Problemen des systemischen Zusammenwirkens von Eliten und nicht-elitären Gruppen in und zwischen unterschiedlichen Sektoren, Regionen oder Ebenen, das heißt in horizontaler wie vertikaler Perspektive, gefragt. Unterschiedliche Kommunikationsstile Ostdeutscher gegenüber westdeutschen Elitenangehörigen könnten etwa Informationsflüsse stören, Entscheidungen verzögern oder Durchsetzungsprozesse erschweren.
(3) Das Problem sozialer Elitenintegration: Hier treten mögliche gesellschaftliche Probleme in den Blick, die darauf basieren, dass Ost- und Westdeutsche sich in normativer Hinsicht (Werte, Normen, Einstellungen) substanziell unterscheiden. Das betrifft die horizontale Dimension, das heißt das Zusammenwirken unterschiedlicher Elitesektoren oder Regionen, und die vertikale. Letztere umfasst sowohl das Zusammenspiel von Positionsinhaber*innen unterschiedlicher Eliteebenen als auch die normative (Des-)Integration von Eliten und Bevölkerung(sgruppen).
Darüber hinaus ist auf zwei grundlegend differente Problemperspektiven aufmerksam zu machen, die quer zu den Dimensionen verlaufen. Jede Diskussion eines Eliteproblems muss sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es aus funktionaler oder normativer Perspektive vorgetragen und bewertet wird.
Dabei interessiert aus funktionaler Perspektive, ob und wie gravierend das Elitenproblem für den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess unter Output-Gesichtspunkten ist. Sorgen die gegebenen Rekrutierungs-, Repräsentations- und Integrationsmechanismen von Eliten und Bevölkerung sowie deren unmittelbare Folgen (wie eine Mindervertretung) für gesamtgesellschaftliche Stabilität und Chancenwahrnehmung in der Entwicklungsgestaltung oder werden umgekehrt nicht nur Entwicklungspotenziale verschenkt, sondern auch kulturelle Konflikte oder sozioökonomische Polarisierungen zwischen Bevölkerungsgruppen befördert?
Davon zu unterscheiden ist eine normative Perspektive. Sie thematisiert, ob die elitären Funktionsmechanismen und deren Output unsere verfassungsrechtlich gestützten Erwartungen an meritokratische, also leistungsorientierte, und partizipativ-demokratische Wohlfahrtsgesellschaften erfüllen oder nicht. Muss also im Handlungsfeld der Eliten etwas geändert werden, auch wenn es weder politisch noch ökonomisch ernsthafte „objektive“ Funktionsprobleme in der Gesellschaft gibt? Im Folgenden wird auf drei Problemkonstellationen etwas näher eingegangen, die sich politisch als besonders relevant erwiesen haben (siehe zum Beispiel Best/Holtmann 2012, Bluhm/Jacobs 2016, Deutsche Gesellschaft 2017, Kollmorgen 2015).
Rekrutierung und Repräsentation Ostdeutscher: Befunde und Folgen
Hinsichtlich der sogenannten deskriptiven Repräsentation, das heißt der Frage, wer mit welcher Herkunft in Elitepositionen berufen wird und dort verbleibt, kann die gegenwärtige empirische Daten- und Forschungslage in drei Punkten zusammengefasst werden:
(1) Die bundesdeutsche Elite wird nach wie vor von Positionsinhaber*innen westdeutscher Herkunft dominiert. Obwohl ca. 17 Prozent aller Bundesbürger*innen ostdeutscher Herkunft sind, stammen heute (2015-2019) insgesamt nur etwa 6 bis 8 Prozent dieser Eliten aus den neuen Bundesländern (Tab.1). Dabei finden sich neben proportionalen, teils sogar überproportionalen Vertretungen in wichtigen Feldern des staatspolitischen Sektors sowie Werten zwischen circa 5 und 15 Prozent in den Bereichen Wissenschaft, Verwaltung, Zivilgesellschaft oder Kirchen auch Sektoren extremer Unterrepräsentation. Hierunter fallen mit einem Anteil von nur ein bis zwei Prozent die Sektoren Justiz, Militär und Wirtschaft.
Tabelle 1: Gegenwärtiger Anteil der Ostdeutschen (in v.H.) an den bundesdeutschen Eliten (2015-2019)
(2) Der Transfer westdeutscher Personen auf Elitepositionen nach Ostdeutschland hat sich ab Mitte der 1990er Jahre abgeschwächt, wurde aber keineswegs gestoppt. Das gilt für alle Sektoren, in besonderer Weise aber für die Verwaltung, die Judikative, die Massenmedien und die Wissenschaft. Im Ergebnis sind die Ostdeutschen – abgesehen vom staatspolitischen Sektor (ca. 70%) – selbst in den Eliten ihrer eigenen Regionen in der deutlichen Minderheit. Im Durchschnitt besetzten Ostdeutsche 2016 etwa 25-30 Prozent aller Elitepositionen im Osten (Tab. 2). In den westlichen Bundesländern dürfte der Anteil Ostdeutscher an den Eliten bei maximal 2 Prozent liegen (bei einem Bevölkerungsanteil von circa 5%).
(3) In der Reproduktion und Zirkulation der bundesdeutschen Eliten nach 1990 ist ein dreifaches Muster erkennbar. Erstens, je höher die Position klassifiziert ist, desto unwahrscheinlicher wird die Besetzung mit Ostdeutschen. Nur der staatspolitische Sektor weicht von dieser Regel ab. Zweitens steigen die Chancen Ostdeutscher in der Rekrutierung und Elitenkarriere in dem Maße, in dem demokratische Auswahlverfahren auf territorialer Grundlage dominieren (demokratische Wahl- oder Delegationseliten) und die Bedeutung von institutionalisierten Laufbahnordnungen (Ernennungs- und Karriereeliten), wie sie insbesondere in der Verwaltung, der Judikative, dem Militär oder der Wissenschaft zum Teil hoch formalisiert ausgebildet sind, sowie von (marktgeneriertem) Besitz abnehmen. Drittens sind die Chancen Ostdeutscher in den zentralen Feldern staatlicher (Verwaltung, Judikative, Militär, Polizei), ökonomischer und massenmedialer Herrschaft systematisch geringer als im repräsentativ-demokratischen Politikfeld wie in allen anderen Elitesektoren (Ausnahme: Wissenschaft). Offenkundig handelt es sich hier um ein manifestes und persistentes sozialstrukturelles Rekrutierungs- und Repräsentationsproblem in fast allen Elitesektoren – und zwar auf Bundes- wie Länderebene.
Folgen daraus aber – perspektivisch gewendet – unmittelbare funktionale Defizite im Sinne von Instabilität, Krisen oder Entwicklungsproblemen? Für die Länder- und Bundesebene kann das verneint werden. Etwas anders stellt sich die Situation dar, wenn nach der angemessenen politischen und zivilgesellschaftlichen Repräsentation von Ideen und Interessen der ostdeutschen Bevölkerung(sgruppen) in den und durch die Eliten gefragt wird. Prinzipiell ist zunächst festzuhalten, dass eine hinreichende Interessenrepräsentation keineswegs zwingend an gleiche regionale oder soziale Herkünfte gebunden ist. Nicht nur setzt jede Repräsentation die Vertretung nicht nur der eigenen Interessen voraus. Auch das komplexe intermediäre politische System sorgt dafür, dass in politisch-administrativen Entscheidungsarenen unterschiedliche Interessen artikuliert, vermittelt und berücksichtigt werden. Daher bedeutet etwa der überproportionale Anteil von ostdeutschen Exekutiveliten mit westdeutscher Herkunft nicht per se repräsentative Dysfunktionen und Defizite.
Dennoch besitzt die These, dass der Mangel an Ostdeutschen in den Eliten zu einer geringeren Aufmerksamkeit gegenüber sowie minderen Durchsetzungskraft von ostdeutschen Interessen führt, einige Plausibilität. Dazu kann man nicht nur auf die frühen 1990er Jahre und die westdeutsche Ignoranz gegenüber ostdeutschen Erfahrungen und Interessenlagen beispielsweise in den Bereichen Wohnen, Bildung und Beruf oder Arbeit zurückblicken. Noch die Diskussion über die Schließung von ostdeutschen Standorten des Siemens-Konzerns in den Jahren 2017/18 hat diesbezügliche Asymmetrien zwischen West und Ost erkennen lassen, die wahrscheinlich auch mit der geringen Präsenz Ostdeutscher in den Schaltzentralen von Großunternehmen zusammenhängen.
Darüber hinaus kann gefragt werden, ob ohne einen proportionalen Anteil Ostdeutscher in allen Sektoren nicht generell wichtige öffentliche Diskussions-, Lern- und Innovationsimpulse für Deutschland insgesamt verschenkt werden (vgl. etwa Links/Volke 2009, Engler/Hensel 2018). Bisher liegen allerdings zu all diesen (potenziellen) Zusammenhängen und Folgen kaum valide sozialwissenschaftliche Untersuchungen und verwertbare Forschungsresultate vor.
Was bedeutet die Unterrepräsentation aus normativer Perspektive? Das kommt auf den jeweiligen Standpunkt an. Für ein wissenschaftliches und politisches Lager erscheint der geringe Anteil Ostdeutscher (selbst in Ostdeutschland) angesichts des radikalen Umbruch- und Vereinigungsprozesses plausibel, ja unvermeidlich. Verwiesen wird auch auf den Umstand, dass Ostdeutsche in den Rekrutierungsprozessen formell nicht diskriminiert werden und der Erwerb notwendiger Qualifikationen sowie die Ausbildung echter Rekrutierungschancen in bestimmten Sektoren deutlich über zehn Jahre benötigt (zum Beispiel für Bundesrichter*innen). Insofern wird auf leichte Besserungen in den letzten Jahren und die weitere Zukunft mit höchstwahrscheinlich steigenden Anteilen Ostdeutscher verwiesen. Ein anderes Lager bewertet diese Analyse kritisch und behauptet, dass nach 30 Jahren die Rekrutierungsdefizite und Repräsentationslücken in den Eliten wichtiger Sektoren nicht mehr legitimierbar sind (zur Debatte: Best/Holtmann 2012, Bürklin et al. 1997, Deutsche Gesellschaft 2017, Hoffmann-Lange 2000, Jacobs/Bluhm 2016, Kollmorgen 2015).
Sektorale Asymmetrien
Eine andere Problemkonstellation betrifft die eigentümlichen sektoralen Unterschiede in der Rekrutierung Ostdeutscher. Während Ostdeutsche in den politischen Repräsentationseliten (Parteien, Parlamente, politische Exekutive) sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene weitgehend adäquat vertreten sind (siehe Tab. 1, 2), gibt es nicht nur in der Judikative, sondern auch in der administrativen Exekutive, dem Militär, der Wirtschaft, den Massenmedien und in wichtigen Teilen der Wissenschaft ein massives Repräsentationsdefizit. Folgen daraus ernsthafte funktionale Defizite in der transsektoralen Elitenkommunikation? Sind bestimmte Kommunikations- und Koordinationsprobleme in der gesellschaftlichen Entwicklung gerade in den ostdeutschen Bundesländern durch diese merkwürdige Asymmetrie zu erklären? Dazu gibt es bis heute bestenfalls erste Überlegungen und Vermutungen, die unter anderem die Kommunikation zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft (Eliten und Gruppen) in den neuen Ländern oder jene zwischen der bundesdeutschen Staatspolitik (mit einem angemessen Anteil Ostdeutscher) und einer von Westdeutschen dominierten Wirtschaft sowie Wissenschaft betreffen.
Auch hier muss aus normativer Perspektive darüber hinaus gefragt werden, ob es relevante Bevölkerungsgruppen akzeptieren, wenn die Ostdeutschen in den politischen Eliten proportional vertreten sind – nicht aber in wichtigen anderen Sektoren.
(Des-)Integration zwischen Eliten und ostdeutscher Bevölkerung
Ein weites und gesellschaftspolitisch brisantes Problemfeld öffnet sich mit Blick auf die multidimensionale Integration von Eliten und ostdeutscher Bevölkerung. Die vielleicht entscheidende Fragestellung ist die nach dem möglichen Zusammenhang zwischen dem Repräsentationsdefizit Ostdeutscher in den allermeisten Elitesektoren und der besonderen und größeren Elite-Bevölkerungsdistanz auf der Einstellungsebene, den schwächeren Werten beim Institutionenvertrauen und – nicht zuletzt – dem deutlich höheren Engagement Ostdeutscher in links- wie rechtspopulistischen, teils -radikalen Bewegungen und politischen Parteien.
Einige Forschungsergebnisse zu den politischen Repräsentationseliten in den ostdeutschen Ländern weisen darauf hin (Best/Vogel 2011, Vogel 2017), dass es dort besondere und in bestimmter Hinsicht auch größere Einstellungsdifferenzen zwischen Eliten und Bevölkerung gibt als in Westdeutschland, die sich auch den unterschiedlichen Herkünften der Eliten, das heißt mit oder ohne DDR-Biografie, verdanken. Signifikante Einstellungsdifferenzen zwischen der ost- und westdeutschen Bevölkerung sowie zwischen der ostdeutschen Bevölkerung und Westdeutschen in den ostdeutschen Eliten gibt es etwa zur konkreten Gestaltung demokratischer Prozesse, für die sich Ostdeutsche unter anderem stärker direktdemokratische Elemente wünschen, oder hinsichtlich der Rolle des Sozialstaates als Akteur zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit, wofür die Ostdeutschen stärker plädieren. Deutliche Unterschiede gibt es aber auch in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen (bei denen Ostdeutsche gleichberechtigter orientiert sind) oder zu Fragen der Europäisierung und Globalisierung, einschließlich der Migrationsproblematik, wobei hier Ostdeutsche deutlich skeptischer und begrenzender argumentieren (ebd., Rainer et al. 2018).
Aus der personellen Vertretungslücke und den inhaltlichen Differenzen zwischen ostdeutscher Bevölkerung und den (politischen) Eliten in Ostdeutschland mit westdeutscher Herkunft lässt sich die Hypothese begründen, dass ein erheblicher Teil der ostdeutschen Bevölkerung nicht nur mit den Eliten in Ostdeutschland (und der Bundesrepublik insgesamt) fremdelt, also in ihnen gerade nicht ihre Vertreter*innen oder – jenseits des politisch-administrativen Systems – ihre Führungskräfte erkennt, die respektiert werden und denen man vertraut. Vielmehr steigt mit dieser Konstellation die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung der Distanz auf die Basisinstitutionen der Bundesrepublik – vom politischen System über die Justiz bis zur sozialen Marktwirtschaft. Das wiederum erschwert nicht nur soziale Integrationsprozesse in Ostdeutschland sowie zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern kann damit zu funktionalen Integrationsproblemen beitragen, weil etwa Eliten- und Institutionenmisstrauen mittel- und langfristig auch die Effektivität institutioneller Mechanismen untergräbt. Bisher liegen allerdings auch zu diesen (potenziellen) Zusammenhängen und Folgen keine validen sozialwissenschaftlichen Erhebungen und Forschungsresultate vor.
4. Zwischenresümee: Elitenprobleme zwischen Forschung und Politik
Offenkundig gibt es nicht das eine Problem von Ostdeutschen in den Eliten, egal ob die Repräsentation Ostdeutscher oder die Frage der Integration von Eliten und Bevölkerung aufgerufen wird. Vielmehr ist es ein sich mit der Zeit veränderndes multidimensionales Problem, das wiederum nur aus unterschiedlichen Problemperspektiven wahrgenommen, untersucht und bewertet werden kann. Das hat Folgen für die Forschung. Zurzeit liegen keine hinreichend komplexen und validen Daten zum Elitenproblem vor. Es braucht also neue Erhebungen sowie programmatische und methodische Erneuerungen (etwa im Bereich der Rekrutierungsmechanismen, der Elitenvernetzung oder der Eliten-Bevölkerungs-Kommunikation). Zugleich ist anzuerkennen, dass es Fragen gibt, die nicht sozialwissenschaftlich geklärt werden können, sondern nur politisch. So sehr die Forschung den Anteil Ostdeutscher in der (Top-)Elite ermitteln oder auch Einstellungsdifferenzen herauszuarbeiten vermag, so wenig ist sie in der Lage, darüber zu befinden, welche Anteile Ostdeutscher in normativer Hinsicht wann angemessen sind und ob es besonderer Unterstützungs- und Förderprogramme bedarf.
Um die Komplexität der Problemlagen, Zukunftsperspektiven und daraus folgende Lösungsstrategien näher aufzuschließen, soll im Folgenden auf das Rekrutierungsproblem detaillierter eingegangen werden.
5. Gründe für die Marginalisierung Ostdeutscher in der Elitenrekrutierung
Es handelt sich um einen Komplex von Ursachen und sozialen Mechanismen, die in der Forschung bisher nur unzureichend zusammengeführt wurden. Sechs miteinander zusammenhängende Mechanismen sollen hervorgehoben und skizziert werden (Kollmorgen 2015: 211-215).
Langzeitwirkungen der staatssozialistischen Herrschaft und des Vereinigungsprozesses
Zunächst handelt es sich einerseits um eine Langzeitwirkung des DDR-Staatssozialismus, der bekanntlich die verbliebenen, auch demokratisch eingestellten Ober- und Führungsschichten bis 1961 und darüber hinaus weitgehend aus dem Land trieb und zugleich die Entwicklung und Formung elitären Bewusstseins (außerhalb der Politbürokratie und ihres Apparates) konsequent bekämpfte. Andererseits ist die Marginalisierung eine Langfristfolge der Art und Weise der deutschen Vereinigung. Diese wurde als „Beitritt“ (nach Artikel 23 des alten Grundgesetzes) realisiert und hatte die Übernahme der Legalinstitutionen und organisierten Akteur*innen der alten Bundesrepublik zur Folge. Für deren Eliten kamen Ostdeutsche nur selten infrage. Sie verfügten weder über das notwendige Fachwissen noch über adäquate formale Berufsqualifikationen (vgl. Best/Vogel 2012, Derlien 2001, Hornborstel 2000). Daher war der massive Elitentransfer durch den Staatssozialismus vorbereitet und mit dem Modus des Beitritts gesetzt.
Strukturkonservative Grundorientierung
In den zentralen Sektoren der bundesdeutschen Herrschaftsregimes (Exekutive, Judikative, Wirtschaft, Massenmedien) strebten die westdeutschen Führungsgruppen die Konservierung ihrer Machtpositionen an und zeigten kein Interesse an einer breiteren Machtteilung mit ostdeutschen Aspiranten. Viele von ihnen hegten zudem systematische Zweifel an der Verfassungstreue, Zuverlässigkeit und Führungsfähigkeit ostdeutscher Kandidat*innen – auch bezogen auf Bürgerrechtler*innen. Eine massenhafte Kooptierung Ostdeutscher in die bundesdeutschen Eliten war angesichts dessen nicht attraktiv und nicht gewollt. Zugleich war sie aufgrund eines Überschusses westdeutscher Kandidaten für die neuen, namentlich in Ostdeutschland angesiedelten Elitepositionen auch nicht notwendig.
Quantitativer Minderheitenstatus
Die Marginalisierung verdankt sich auch dem quantitativen Minderheitenstatus der Ostdeutschen. Der Mechanismus „strukturelle Majorisierung“ (Kreckel 2004: 292) führt in den Auswahlprozessen von Eliten unter Bedingungen von eigentums- und demokratiefundierter Konkurrenz sowie fehlender Schutz- oder Kompensationsregeln für die Minderheit zur strukturellen Bevorteilung der Majorität. Die Bevorteilung der Mehrheit resultiert aus häufigeren Kommunikations- und routinisierten wechselseitigen Selbst(an)erkennungsprozessen, ohne dass eine Kolonialisierungsstrategie gegenüber der Minderheit notwendig wäre.
Netzwerke der Macht
Eliten organisieren sich in Netzwerken der Macht. Diese funktionieren durch wechselseitiges Kennen, Schätzen, Vertrauen, Geben und Nehmen und gründen auf sozialisatorisch und sozialstrukturell bedingter Ähnlichkeit der Leidenschaften, Interessen, Ideologien und Laufbahnen sowie auf dem Vertrauen in die Stärke des anderen (potenziellen) Eliteangehörigen. Grundsätzlich exkludierte der Netzwerkcharakter Ostdeutsche aufgrund der Beitrittslogik. Weder konnten sie in den ersten Jahren herkunftsseitig oder bildungsbiografisch in die Netzwerke hineingewachsen sein, noch verfügten sie als markierte Außenseiter über jene Machtpotenziale, die es braucht, um für Führungspositionen wahrgenommen und angesprochen zu werden. Die Außenseiterposition zeigt dabei eine eigenlogische Tendenz der Verlängerung und Verstärkung. Allerdings differierten die Chancen eines Ausschlusses Ostdeutscher in Abhängigkeit von den sektoralen Zirkulationstypen. Während Inklusionschancen durch einen demokratischen und proporz-orientierten Rekrutierungsmodus auf territorialer Basis (wie bei den staatspolitischen Wahlämtern) größer sind, zeigen sektorale Netzwerke mit dominierendem Ernennungs- oder Karrieremodus (wie Verwaltung, Militär oder Justiz) bis heute deutliche Exklusionstendenzen gegenüber Ostdeutschen.
Soziale Über- und Unterschichtung
Die Wahrscheinlichkeit der Marginalisierung wird infolge der sozialstrukturellen Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch Westdeutsche und der Unterschichtung der bundesdeutschen Gesellschaft durch die Ostdeutschen systematisch erhöht. Einerseits ist ein überproportionaler Anteil der deutschen Armen, Unterprivilegierten und in Unterschichtenmilieus Lebenden – unter Absehung von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund – in den neuen Bundesländern beheimatet. Andererseits stammen alle 500 reichsten deutschen Familien aus Westdeutschland (Kaiser 2014). Etwa 90 Prozent der bundesdeutschen Oberschicht sind westdeutscher Herkunft (Krause et al. 2010: 4). Da sich die bundesdeutschen Eliten, abgesehen von den Sektoren der Kirchen, Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und in bestimmten Feldern der Staatspolitik, überproportional aus Familien der oberen Mittel- und Oberschichten rekrutieren (Hartmann 2002), besitzen Ostdeutsche gerade hier systematisch geringere Chancen, in die Eliten aufzusteigen.
Kulturelle Selbst- und Fremdmarginalisierung
Die deutliche Selbstreproduktion der Eliten mit westdeutscher Herkunft wird durch zwei kulturelle Marginalisierungsmechanismen ergänzt. Eine soziokulturelle Fremdmarginalisierung sitzt nicht nur der untergegangenen DDR mit ihrer arbeiterlichen Sozialstruktur und Kultur auf, sondern verdankt sich auch der übergreifenden soziokulturellen Abwertung Ostdeutscher in der Bundesrepublik nach 1990, denen als quasi ethnische Gruppe ein Verlierer-Stigma anhaftet (vgl. Kollmorgen 2011). Beides mindert die Chancen der Ausbildung elitärer Habitus. Vielen Ostdeutschen mit primärer oder auch sekundärer DDR-Sozialisation mangelt es an einer machtvollen Sprache sowie elitären Umgangsformen und Geschmacksurteilen, sodass ihnen der berüchtigte „Stallgeruch der Macht“ fehlt. Sie verfügen kraft Abkunft und Herkunft auch nicht über die Mentalität und das zugesprochene Prestige des Siegers. Dieses „Defizit“ findet sein erstaunliches Pendant in der kulturellen Selbstmarginalisierungen vieler Ostdeutscher.
Der radikale Umbruch 1989-1991 führte nicht nur zu sozialstrukturellen Abstiegen beachtlicher Teile der alten Dienstklasse, sondern verursachte soziale Verunsicherungen und Zukunftsängste für die damals mittleren Generationen, was die ohnehin weniger ausgeprägten Aufsteiger-, Eliten- und Herrschaftsmentalitäten in den neuen Ländern zusätzlich schwächte. In der Mehrheit der sozialen Statusgruppen und Gemeinschaften wurden stattdessen familienorientierte Lebensführungen, sichere Erwerbsbiografien und risikoarme Karrieren präferiert (als Überblicke: Alheit et al. 2004, Vester et al. 2001). Das scheint sich bis in die heutige Jugendgeneration fortzusetzen (siehe etwa Keller/Marten 2010, Leven/Quenzel/Hurrelmann 2016: 75-77, 81).
6. Das Rekrutierungsproblem: Zukunftsperspektiven und Lösungsstrategien
Nicht nur Prognosen zur Zukunft des ostdeutschen Elitenproblems, sondern vor allem eine gehaltvolle Diskussion möglicher politischer Lösungsansätze und Gestaltungsoptionen können ohne Reflexion der skizzierten Marginalisierungsgründe nicht geleistet werden.
Während sich strukturelle Majorisierung und die Reproduktion von sozialen Machtnetzwerken einem politischen Steuerungszugriff weitgehend entziehen und staatssozialistisches Erbe, strukturkonservatives (Macht-)Kalkül sowie das Qualifikationsargument nach mehr als 30 Jahren offensichtlich an Bedeutung verloren haben, entfalten die sozialstrukturelle Über- und Unterschichtung wie auch die kulturelle Fremd- und Selbstmarginalisierung weiter ihre sich allerdings selbst verändernde Wirkung. Dabei ist die Gewichtung der Faktoren vom spezifischen Rekrutierungs- und Zirkulationstyp der sektoralen Eliten abhängig.
Um es zuzuspitzen: Für die politische Repräsentationselite (politische Parteien, Bundestag, Landtage, Bundesregierung und so weiter) brauchen Ostdeutsche keine „Nachhilfe“ oder Förderprogramme, weil sie wegen des Zirkulationstyps einer demokratischen Delegationselite angemessen vertreten sind. Im administrativen und judikativen Sektor haben wir es mit Karriere- oder Ernennungseliten zu tun, bei denen sowohl formale Qualifikation und Laufbahn wie auch informelle Rekrutierungsnetzwerke und damit Eliteschichten und -kulturen eine zentrale Rolle spielen.
Insofern wird der Anteil ostdeutscher Positionsinhaber hier zukünftig sicher noch zunehmen, aber auch in den nächsten zehn Jahren höchstwahrscheinlich nicht der Bevölkerungsrelation entsprechen. Dafür befinden sich heute zu wenig Ostdeutsche in Positionen, die den Rekrutierungspool für diese Eliten bilden (wie Abteilungsleiter in den Landes- und Bundesministerien, siehe Tab. 1). Um so gespannter darf man sein, welche Dynamik und welche Antworten sich nun aus der Aufgabe entwickeln, die der Koalitionsvertrag der neuen rot-grün-gelben Bundesregierung vom 7. Dezember 2021 formuliert: "Wir verbessern die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien in allen Bereichen. Für die Ebene des Bundes legen wir bis Ende 2022 ein Konzept zur Umsetzung vor". So steht es dort auf S.130.
Eine Politik, die das personelle Repräsentationsdefizit abbauen will, könnte hier – durchaus vergleichbar mit dem Problemfeld der Geschlechtergleichstellung – mit Quotierungen operieren oder mit den weicheren Methoden der „affirmative action“. Ostdeutsche könnten also bei der Aneignung von Bildung und Qualifikationen besonders unterstützt, ihre Karriereschritte gefördert oder Stellen für sie freigehalten werden. Im Wirtschaftssektor finden sich ähnliche Bedingungen, wobei hier neben der Managementelite, die dem Karrieretypus zugehört, zusätzlich die Besitzelite, mithin die sozialstrukturelle Überschichtung der ostdeutschen Bevölkerung durch die westdeutsche Oberschicht der Vermögenden und Kapitaleigner eine wesentliche Rolle spielt. Hier empfiehlt sich daher eine länger anhaltende Förderung von Ostdeutschen, die Unternehmen gründen, modernisieren oder ausbauen wollen (zum Beispiel über Qualifikationsprogramme, Kredit- und direkte Investitionsförderungen), wobei von Bund und Ländern in diesem Bereich seit Anfang der 1990er Jahre bereits einiges geleistet wurde. Sowohl Quotierungen wie auch Förderprogramme für Ostdeutsche haben allerdings mit drei systematischen Problemen zu kämpfen (Kollmorgen 2019). Erstens erscheinen Quoten weniger denn je politisch durchsetzbar. Zweitens bedeuten Quotierungen – wie die meisten positiven Diskriminierungen – nicht nur kollektive, sondern schlussendlich individuell einklagbare Anspruchsrechte.
Das wirft die zu Beginn bereits angesprochene Frage auf, wer heute im juristischen Sinne Ostdeutsche*r ist. Wegen der massenhaften Binnenmigration seit 1989 sowie der vielen ost-westdeutschen Elternschaften und Biografien ist das bereits heute für Hunderttausende Bürger*innen schlicht nicht entscheidbar. In zehn Jahren wird sich das Problem vervielfacht haben. Rechtlich lässt sich daher wohl nur das Wohnort- oder Standortprinzip anwenden. Das aber kann rasch zu kontraintendierten Effekten führen, wie nicht zuletzt die Wirtschaftsförderprogramme für Ostdeutschland gezeigt haben. Von den außerordentlichen Abschreibungs- und Investitionszulagemöglichkeiten haben volumenmäßig überproportional westdeutsche Kapitaleigner und Unternehmer*innen profitiert, die nach 1990 in den neuen Bundesländern aktiv wurden. Drittens müssten sich auch in diesem Feld die Geförderten mit dem generellen Quotierungsmakel auseinandersetzen – es wären eben ostdeutsche Quoten-Eliten.
Das lässt zwei alternative Strategien in den Blick treten. Zum einen verdanken sich die geringeren Chancen Ostdeutscher auch der Stigmatisierung des „Ostens“ und der „Ostler“ in den öffentlichen und privaten Diskursen nach 1990/91 als zurückgebliebene, verlorene und hilfebedürftige Gebiete und Bevölkerungsgruppen (Kollmorgen 2011, Kollmorgen/Hans 2011). Auch wenn sich das seit etwa 2005 ändert, weil bestimmte Gebiete (wie etwa Leipzig) und Gruppen in den neuen Ländern als Trendsetter oder gar Avantgarde gelten und neue Generationen andere Perspektiven auf ihre Geschichte und Lebenswelten entfalten, die Deutung Ostdeutscher und Ostdeutschlands als gegenüber dem Westen inferior bleibt bis heute hegemonial – auch mit Folgen für die Elitenrekrutierung.
Insofern brauchen wir (weiter) eine Transformation dieser Diskurse – eine politische Reflexion der Probleme unter Beteiligung der Ostdeutschen. Zum anderen verweist das „ostdeutsche Problem“ auf die Frage nach einer generellen Öffnung und Demokratisierung von Rekrutierungs- und Aufstiegsmodi in unserer Gesellschaft. Vermutlich lässt sich das ostdeutsche Vertretungsdefizit in den Eliten nur zusammen mit der Aufhebung struktureller Benachteiligungen anderer Gruppen (Frauen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen, Angehörige der Unterschichten) nachhaltig lösen.
Zitierweise: Raj Kollmorgen, "Ein anhaltendes Defizit? Ostdeutsche in den Eliten als Problem und Aufgabe“, in: Deutschland Archiv, 8.12.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/344487. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Literatur:
Alheit, Peter: Modernisierungsblockaden in Ostdeutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (2005), S. 32-40.
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Der Text dem bpb-Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der am 1. Dezember 2021 in einer zweiten und ergänzten Auflage Interner Link: bpb-shop erschienen ist. Die Erstauflage vom 1. Juli 2021 war binnen drei Monaten vergriffen. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg" und seine Premiere, produziert 2021 von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Prof. Raj Kollmorgen stammt aus Leipzig. Er ist Soziologe an der Hochschule Zitta-Görlitz. Er studierte an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 1999 mit einer Arbeit zu Transformationstheorien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Es folgte 2010 die Habilitation an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Kollmorgen gehörte von 2019 bis 2020 der Kommission der Bundesregierung „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ an und von März bis Juni 2021 der von der Bundesregierung eingesetzten Arbeitsgruppe „Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“.
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