"Wir bewundern sie und sie verschwinden"
Über die für so viele Menschen beklemmende Situation, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine entstand. Eine Korrespondenz wischen Freund innen aus Deutschland und den USA.
Esther Dischereit
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Reime, sie sind am Ende die klassischen, die biegsamen die romantischen oder auch die unbeholfenen Der Atem selbst, so sieht es aus, verlor seinen Rhythmus Die Worte wie sturzbesoffene ungehobelte Leute erklimmen gerade Wände Hört sich an wie Kleinkindgeschrei Unter den Bomben die fallen und fallen und fallen Ist selbst die Stille abgelaufen Sogar die dünne Stimme Seiner Stille ist weg Und der großartige Friedenskämpfer, Wischi-waschi und mit einer Seele so rein Will gerade nur eine einzige Sache die grausige Aufgabe direkt und ohne Diskussion vollenden die brutale Bestie Putin erwürgen mit seinen eigenen Händen
Ich schicke meiner Freundin das Video, das Video, in dem Vasilyevna Petrovskaya spricht. Sie ist die Mutter der Schriftstellerin Katja Petrovskaya, die das Buch „Vielleicht Esther“, 2014, schrieb. Die weißen Haare der Mutter werden ein wenig vom Luftzug bewegt. Sie steht draußen, vor einer steinernen Wand, wo sie ihre Gehstöcke anlehnte. „Vielleicht Esther“ handelt von der verschütteten Geschichte der „Babuschka“, der Mutter des Vaters, die 1941 in Kiew allein zurückblieb in der Wohnung, aus der alle übrigen Familienmitglieder geflohen waren. Sie hatte Jiddisch gesprochen, ein zerbrochenes Familienmosaik.
Die Freundin hat das Video angesehen. Zusammen mit ihren Kindern hat sie zugehört, wie Petrovskaya sagt, dass sie das Recht habe als Lehrerin der Geschichte und Trägerin der Ehrung Order of Smile zu sprechen. Sie spricht insbesondere zu ihren Kolleg innen, zu den russischen Historiker innen, zu den russischen Frauen, sie richtet sich an alle Altersgruppen und an alle Nationalitäten. Sie appelliert an die Verantwortung der Historiker innen, zur Aufklärung beizutragen. Und sagt, dass die russischen Truppen kamen um zu zerstören, kamen, um die Freiheit zu zerstören, um zu zerstören, dass sich die Ukrainer innen ihre Unabhängigkeit und Demokratie aufgebaut hatten und sie sagt dann: Wir haben eine Menge Probleme, aber wir werden sie selbst lösen. Wir brauchen keine russischen Truppen hier.“
Vasilyevna Petrovskayas Botschaft—und die Art wie sie die Botschaft übermittelt — sind erstaunlich. Ich hoffe, ihre Worten kommen irgendwie dort an, wo es beabsichtigt ist. Von Anbeginn an hat dieser Krieg bei mir eine komplizierte Reihe von Emotionen (Wut und Bestürzung hauptsächlich) ausgelöst. Ich finde es schwer, an etwas anderes zu denken. Ich reagiere zur Zeit in erster Linie auf die blossen Tatsachen vor Ort — darauf, was der gewalttätige Irre Putin macht, auf das Massenelend, das hier geschieht.
Aber auch die Geschichte wirbelt bei mir im Kopf herum, geprägt von der Geschichte der Familie.
Wir sind zu Hundertprozent aus der Ukraine (gewiss hat das für Familienmitglieder, die nicht emigrierten, kein gutes Ende genommen—diejenigen, die die Pogrome überlebten, haben die Nazis und ihre Kollaborateure unter den Ukrainern nicht überlebt). Es ist unglaublich, diese demokratische Gesellschaft, die die Ukrainer dabei waren aufzubauen, nach solch grauenvollen historischen Kapiteln … und jetzt diese Zerstörung. Wer weiss, ob es eine Möglichkeit des Wiederaufbaus jemals geben wird.
Und dann die Rolle von Öl und Gas in Putins Kriegsmaschinerie. Hast du die Offenen Briefe darüber gesehen? Die Organisation, für die ich arbeite, hat diesen Offenen Brief unterschrieben:
Während der Übernahme des Kernkraftwerkes in Saporischschja bin ich die ganze Nacht aufgeblieben. Angeblich sind die Russen jetzt unterwegs zu einem dritten Nuklearstandort.
Ich schreibe:
Heute wieder Bebelplatz in Berlin – demonstrieren – geflüchtete Menschen kommen am Hauptbahnhof und am Zentralen Busbahnhof an … europaweit in kaum noch zählbaren Zahlen.
Es sieht so aus, als würde Putin die Grosny Aktion wiederholen – und Herr Bennett ist offenbar mit dieser Art Krieg ebenfalls vertraut, wenn ich an den Gaza-Krieg denke. Ich habe keine Idee. Es sieht so aus, wenn immer jemand eine Waffe besitzt, eine Rakete, was auch immer, sie wird genutzt werden.
Einen Moment lang dachte ich an das Konzept des friedlichen Widerstands. Aber wie soll man seine oder ihre Friedlichkeit gegenüber Drohnen und Raketen zeigen … sie erreichen ihr Ziel, obwohl der Soldat zur gleichen Zeit Kaffee trinkt – ich traue mich fast nicht mit den ukrainischen Freunden und denen aus Kasachstan oder aus Belarus zu sprechen – Ich habe tatsächlich nichts zu sagen – ich weiß, ich sehe, ich sehe zu, ich sehe sie sterben, ich sehe, wie sie eingesperrt werden, ich bewundere sie, wir bewundern sie und sie verschwinden, sie kommen vielleicht in vierzig Jahren als Geister wieder — wo sind die Stimmen der religiösen Führer innen – ich habe nichts zu sagen.
Ich dachte anExterner Link: Prag 1968, ich dachte an Externer Link: Berlin 1953, ich dachte an den Aufstand in Ungarn – alle diese Menschen wurden am Ende betrogen, alleingelassen, sich selbst überlassen – bereit für die Jahre im Gefängnis – einige Berühmte werden auf diplomatischem Weg außer Landes gebracht – die meisten bleiben zurück oder – 40 Millionen würden ins Exil gehen und einen leeren Eimer hinterlassen, einen leeren Eimer, der einmal ihr Land gewesen war. Wem gehört was – wem gehöre ich – wem gehörte ich – die Ukrainer gehörten schon zu den Armen, arbeiteten in der EU, in Polen und überall. Wenn Weizen und Mais knapp werden, wird auch der afrikanische Kontinent eine weitere Hungerperiode haben.
Und ich werde morgen, wenn die Schmerzen in meinem Nacken nachgelassen haben, zum Zentralen Busbahnhof gehen und den müde gewordenen polnischen Busfahrern einen Tee anbieten.
Meine Freundin schreibt:
Zitat
Trotz meines ganz anderen Ausgangspunkts (ich bin nicht in Europa, bin nicht da involviert, wo du es bist, kenne nicht die Leute, die du kennst), hast du so viele meiner Gedanken erfaßt, die mir in der letzten Woche durch den Kopf gingen: Wie ich die Rolle des gewaltfreien Widerstands unwillkürlich bezweifelte (obwohl ich die fantastischen Bilder sehe, wie sich in manchen Städten die unbewaffneten Einwohner den russischen Truppen entgegenstellen, und wie die Strassenschilder genial modifiziert werden, um die Angreifer zu verwirren), den Zorn gegenüber Israel (dessen eigener Gewalt und die Tatsache, dass Roman Abramowitsch hier beherbergt wird, plus das fragwürdige Verhältnis zu Putin), die fehlenden Aussagen von Religionsführer innen, das Schicksal der Weizen- und Gerstenernten, und die traurige Aussicht auf einen “leeren Eimer,” der gleichzeitig ein hochgradig contaminierter und grausamer Friedhof sein wird.
Was Drohnen angeht, ich habe vor ein paar Jahren ein bemerkenswertes Buch von Catherine Taylor gelesen. Ihr Bruder war Operator einer Drohne (er hatte seinen Kaffee getrunken ...): You, Me, and the Violence, “ein Buch über Drohnen, Macht, und Machtlosigkeitsgefühlen”
P.S. Gerade findet etwas statt, das ich begeisternd finde: Von den vielen amerikanischen Juden, die Nachkommen der Millionen Immigranten sind, die aus dem Gebiet des Pale Settlements stammen (ein Grossteil aus der Ukraine, aus Belarus, Litauen, Moldau, Südost-Polen), wissen einige nicht wirklich, worum es ging, und was das alles mit der eigenen (ethnischen? nationalen?) Identität zu tun haben mag. (“Halt, bin i c h eigentlich ukrainisch?!”)
Der Krieg scheint einen Impuls ausgelöst zu haben, um sich darüber klar werden zu wollen. Eine Art Abrechnung findet hier statt. (Und wir sind nicht allein: Eine nicht-jüdische ukrainisch-amerikanische Freundin, die ich seit mehr als einem Jahrzehnt kenne, war verzweifelt über den Krieg. Sie ergriff die Gelegenheit und bat mich spontan um Verzeihung für die Verbrechen, die die Ukrainer begangen hatten, die im 19. und 20. Jahrhundert auf der falschen Seite der Geschichte standen.)
Was ich in den letzten paar Wochen während dieses fürchterlichen Angriffs erlebt habe, sind amerikanische Juden – mit unseren schwierigen Wurzeln im Pale of Settlement, aus dem Ansiedlungsrayon – die sich zu Wort melden und die heutigen Ukrainer innen mit einer Welle von Solidarität geradezu überschütten, mit ihrer Empathie für die Gesellschaft, die sie aufzubauen versuchten.
Ich schreibe:
Zentraler Busbahnhof ZOB Berlin – für heute Nacht hat sich die Gruppe der polnisch sprechenden Helfer innen eingetragen. Sie sprechen sofort mit den Busfahrern. Schokolade, Kuscheltiere, SIM-Karten – einer kommt und hat einen Karton edler Seifen in der Hand, die möchte er abgeben – drinnen in der winzigen Wartehalle: ein elfjähriger Junge kniet auf dem kleinen Spielteppich und sucht die passenden Legosteine zusammen, daneben stehen Kisten mit Hygieneartikeln, eine Kleiderstange mit warmen Sachen ... In Frankfurt am Main sagt eine Frau, die seit sechs Tagen mit dem Zweijährigen unterwegs ist, sie hoffe, ihr Mann könne nachkommen – in ein paar Monaten, sagt sie, dann sagt sie, in einem Jahr. Ich sage nichts.
Die Autorin ist Schriftstellerin und Journalistin und war von 2012 bis 2017 Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Ihr Text für www.deutschlandarchiv.de hatte am 16.3.2022 im Theater Freiburg Premiere.
Zitierweise: Esther Dischereit,"Wir bewundern sie und sie verschwinden", in: Deutschland Archiv, 16.3.2022, www.bpb.de/506272.
Weitere Betrachtungen aus unterschiedlichsten Perspektiven werden folgen.
English version of Esther Dischereits essay
Excerpt. Correspondence between friends: USA/Germany On the Situation of the Russian Invasion of Ukraine
I send my friend that video, the one in which Vasilyevna Petrovskaya speaks. She is the mother of Russian-German writer Katja Petrovskaya, who wrote the book Vielleicht Esther [Perhaps Esther] in 2014. A woman whose white hair moves a little in the breeze outside, where she has leaned her walking stick against a stone wall. Vielleicht Esther concerns the buried story of “Babushka,” her father’s mother who, in 1941, stayed behind in Kyiv alone, in the apartment that all the other members of the family had fled. She spoke Yiddish—a broken family mosaic.
My friend has seen the video. She and her kids listened to Petrovskaya say that, as a history teacher and a laureate of the Order of the Smile, she has the right to speak. In particular, she speaks to her colleagues, to Russian historians, to Russian women. She addresses all age groups and all nationalities. She appeals to the responsibility of historians to contribute to enlightenment. And she says that Russian troops have come to destroy, come to destroy freedom and to destroy the fact that Ukrainians have built independence and democracy. And then she says: “We have a lot of problems, but we will solve them ourselves. We do not need Russian troops here.” (Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=jtrH-xrfXkI&t=3s)
My friend writes:
Vasilyevna Petrovskaya’s message—and her messaging—are amazing. I hope her words somehow land where intended. It’s been a complicated set of emotions for me (mostly anger and upset) since this war began. It’s hard to think about anything else. Most of my reaction is to the simple facts on the ground right now—what that violent madman Putin is doing, and the mass suffering going on.
But history is also swirling around in my head, inflected by family history. We’re 100% from Ukraine (of course things did not end well for any family members that did not emigrate—those who survived the pogroms did not survive the Nazis and collaborators among the Ukrainians). It’s incredible, the democratic society Ukrainians have been in the process of building, after such terrible historical chapters... and now this destruction. Who knows if there will be any possibility to rebuild.
And then the role of oil and gas in Putin’s war machine. Have you seen some of the public letters about that? The organization I work for signed this one: https://www.with-ukraine.org/
I was up all night during the takeover of the Zaporizhzhia nuclear plant. Supposedly the Russians are on their way to a 3rd nuclear site now.
I write:
Today again Bebelplatz in Berlin—demonstrating—incoming refugees at central train station and central bus station... it looks like Putin is repeating the Grosny action—and Mr Bennett obviously is familiar with such a kind of war as well, looking at the Gaza war. I have no idea. It looks like whenever anyone owns a weapon, a rocket, whatever: it will be used.
For a moment I thought of the peaceful resistance concept, but how can you show your peacefulness to drones and rockets... they reach the target although the soldier is drinking coffee at the time. I nearly do not dare to talk to Ukrainian and Kazakh friends or Belarussian friends—I have in fact nothing to say. I know, I see, I watch, I see them dying, I see them being incarcerated, I admire them, we admire them and they disappear—they might come back as ghosts in forty years. Where are the voices of religious leaders —— I have nothing to say. I thought of Prague in 1968. I thought of Berlin in 1953. I thought of the Hungarian uprising. All these people were betrayed in the end, left alone and by themselves, ready for the years in prison. Some prominent figures were brought outside the country by diplomatic means —— most of them remained. Or: 40 million would go to exile, leaving an empty bucket which was once their country. Who owns what – who owns me – who owned me —— the Ukrainians already had been the poor, working in the EU, in Poland and elsewhere. If wheat and corn supplies become short, the African continent also will have another period of hunger. And I might go tomorrow when my neck pain gets less, will go to the central bus station and offer some tea to the tired Polish bus drivers.
My friend writes:
Even considering my very different vantage point (not being in Europe, not being involved in the things you are involved in, not knowing the people you know), you have captured so many of my thoughts of the past week: the way I found myself questioning the role nonviolent resistance could play (though I see the fantastic images of unarmed residents standing down Russian troops in some towns, the brilliantly altered road signs to confuse the invaders), anger with Israel (its own violence, plus its hosting of Roman Abramovich, plus the questionable relationship with Putin), the missing voices of religious leaders, the fate of the wheat and barley crops, and the sad prospect of the “empty bucket,” which will also be vastly contaminated and horrible graveyard.
On the drones, I read aExterner Link: remarkable book a couple years ago by Catherine Taylor. Her brother was a drone operator (drinking his coffee...): You, Me, and the Violence, “a book on drones, power, and feelings of powerlessness.”
Hugs, C.
P.S.: A fascinating thing is going on here: Of the many American Jews that descended from the millions of immigrants from the Pale of Settlement (much of Ukraine, Belarus, Lithuania, Moldova, east-central Poland) some don’t really know what it was all about, and how it relates to their own (ethnic? national?) identity. (“Wait, am I actually Ukrainian?!”) The war seems to be releasing an impulse to figure this out. A kind of reckoning is going on. (And we’re not alone: a non-Jewish Ukrainian-American friend I’ve known for a decade took the time during her wartime distress to spontaneously apologize to me for the crimes of those Ukrainians who were on the wrong side of history in the 19th and 20th centuries.) What I’ve been seeing over these past couple of weeks, as this horrific onslaught is going on, are American Jews, with our difficult roots in the Pale, coming forward with an outpouring of solidarity with contemporary Ukrainians and the society they’ve tried to build.
I write:
ZOB Berlin – the central bus station – the group of Polish-speaking volunteers have signed in for the night. Right away they are talking with the bus drivers. Chocolate, stuffed toys, SIM cards – someone comes with a box of fancy soaps in hand and wants to donate them. Inside, in the tiny waiting room: an eleven-year-old boy kneels on a small play mat and gathers up matching Lego pieces, next to him boxes with personal hygiene items and a clothes rack with warm things… In Frankfurt am Main, a woman who has been in transit with her two-year-old for the past six days say she hopes her husband can follow – in a couple of months, she says, then she says in a year. I say nothing.
schreibt Prosa, Essays, Lyrik und Stücke für Radio und Theater. Sie erhielt 2009 den Erich-Fried-Preis und war von 2012 bis 2017 Professorin an der Angewandten in Wien (Universität für angewandte Kunst), 2019 DAAD-Chair in Contemporary Poetics an der New York University.