Freundesverrat
DDR vermitteln, aber wie? Zum Beispiel mit dem Dokumentarfilm "Feindberührung" von Heike Bachelier
Matthias Wanitschke
/ 18 Minuten zu lesen
Link kopieren
„Feindberührung“ heißt ein lehrreicher Dokumentarfilm, der sich auf die Spurensuche begibt, einen folgenreichen Freundesverrat an die DDR-Geheimpolizei Stasi zu ergründen. Der Film von Heike Bachelier zeigt beispielhaft auf, wie mühsam ein Dialog zwischen Täter und Opfer ist, aber funktionieren kann. Allzu oft wurden und werden solche Versuche versäumt. Matthias Wanitschke besucht Schulklassen mit diesem Täter-Opfer-Projekt und seinen Protagonisten. Ergänzend sein pädagogischer Erfahrungsbericht mit dem Film „Feindberührung“, den das Deutschland Archiv hier mit dem Einverständnis der Filmemacherin komplett online zur Verfügung stellt:
Feindberührung
Die filmische Aufbereitung eines „Freundesverrats“
Als IM "Hans Kramer" berichtete Hartmut Rosinger der DDR-Geheimpolizei Stasi folgenreich über seinen Freund Peter Wulkau. 30 Jahre danach treffen sich beide wieder und versuchen mühsam einen Dialog.
Peter Wulkau (74) und Hartmut Rosinger (74) sind politische Menschen, durch und durch. Der eine, Hartmut Rosinger, wurde mit 25 Jahren zeitweise zum Spitzel der DDR-Geheimpolizei Externer Link: Staatssicherheit (abgekürzt Stasi oder MfS) und reflektiert heute:
„Weil ich an den Sozialismus glaubte, habe ich mich zu DDR-Zeiten mit der Stasi eingelassen und über Peter berichtet. Nach seiner Verhaftung habe ich das zutiefst bereut. Ich schäme mich bis heute dafür.“
Sein Opfer, der damals exmatrikulierte Student Peter Wulkau blickt zurück:
„Hartmut hatte damals einfach ein anderes Wertesystem als ich - für ihn war ich der „Feind“. Dass er mich um Entschuldigung gebeten hat und sich seiner Verantwortung stellt, rechne ich ihm hoch an.“
Zwei gegensätzliche Grundhaltungen
Beiden ist – im Sinne von Hannah Arendt – der „sechste Sinn“, ihr politischer Gemeinsinn, besonders eigen. Ihr soziales Gewissen – an Marx geschärft – ist bei ihnen als Nachkriegskindern besonders wach, auch wenn sich beide damals – für sechs Jahre, von 1974 bis 1980 – faktisch diametral gegenüberstanden: Der „positive, ehrenamtliche“ Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) (Rosinger) versus dem „negativen, dekadenten, andersdenkenden Staatsfeind“ (Wulkau).
Der engagierte Marxismus-Leninismus-Student Peter Wulkau wurde schon 1968 als Anhänger des „Externer Link: Prager Frühling“ zum „Staatsfeind“ erklärt und in Operativ Vorgängen (OV) der Stasi geheimdienstlich bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1981 „bearbeitet“.
Der 25jährige Hartmut Rosinger dagegen ließ sich anfangs (1974) aus politischer Überzeugung als „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) anwerben, schaffte aber nach sechs Jahren 1980 den radikalen Bruch mit dem MfS. Doch in den sechs Jahren seiner IM-Tätigkeit wurde einer von Rosingers besten Freunden, sein Kommilitone Peter Wulkau zu seinem Opfer und musste deshalb jahrelang in Haft.
Im Verlauf der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 bewies Hartmut Rosinger anhaltenden politischen Gemeinsinn. Als er von der Gründung der „Sozialdemokratischen Partei“ am 7. Oktober 1989 in Schwante bei Berlin erfuhr, ließ er sich die Satzung schicken und gründete umgehend eine SDP-Ortsgruppe, um das Gewaltmonopol der SED-Staatspartei an seinem Wohnort in Bad Langensalza zu brechen. Bis heute ist er engagiert im „Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V“.
Etwa 2001 wertete ich die Stasi-Akten über Wulkau und Rosinger für ihre mögliche Verwendung im Schulunterricht aus, danach nahm sich die Filmemacherin Heike Bachelier der Akten an. Sie führte beide Protagonisten zueinander und protokollierte mit der Kamera ihre Reflexionen und Dialoge, angereichert durch zahlreiche Zeitdokumente aus der DDR.
Steht am Ende ihres Films eine Versöhnung? Wohl keine reparierte Freundschaft, aber wohl das, was man „Den-anderen-Verstehen-Lernen“ nennt. Am 14. Oktober 2019 äußerte Peter Wulkau entsprechend in einem NDR-Fernseh-Beitrag über den Film: „Ja, ich bin versöhnt! Wenn Versöhnung heißt, keine Rachegefühle zu haben […], dann bin ich versöhnt.“
Meinen „Erfahrungsbericht“ mit diesem Fall rekonstruiere ich in drei Etappen:
2006: Ein besonderes Schülerprojekt anhand von Stasi-Akten über diesen Fall von Freundesverrat startet in Schulen.
2011: Der Dokumentarfilm „Feindberührung“ von Heike Bachelier weckt – je nach Sozialisation und Lebensalter - unterschiedliche Emotionen: Von Hass bis zu Respekt.
2018: Es entsteht zusätzliches Arbeitsmaterial zum Dokumentarfilm „Feindberührung“, erstellt von von Steffi Hummel und mir, nach den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie kann es nun endlich ausprobiert werden.
1. Erste Gehversuche mit einem besonderen Schülerprojekt
Nachdem Aktenfunde Hartmut Rosingers IM-Tätigkeit offenbart hatten, erklärte er mir 2001 seine Bereitschaft, sich seiner Vergangenheit im Rahmen von Schülerprojekten als Zeitzeuge zu stellen. Auch eines seiner in den Akten ausführlich dokumentierten „Opfer“, Peter Wulkau, sagte mir zu, als Zeitzeuge vor Schülerinnen und Schülern mitzuwirken, so dass auch eine pädagogische Aufbereitung der umfangreichen Quellen beginnen konnte. Im Juli 2006 war dann die Premiere dieses dreitägigen „Opfer-Täter“-Projektes unter der von mir benannten Quellenauswahl mit dem Titel: „Zwei ‚Überzeugungstäter‘. Offener Widerstand und inoffizielle Mitarbeit aus politischem Idealismus!?“
19 Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse im Leistungskurs Sozialkunde des Gymnasiums „Georgianum“ Hildburghausen nahmen in Erfurt daran teil, gut vorbereit durch ihre Lehrerin, die sie gebeten hatte, zuvor ihrer (Groß)Eltern zu deren DDR-Geschichte kritisch zu befragen.
Am 10. Juli 2006 bearbeiteten die Schüler das Quellenmaterial über Peter Wulkau (OV „Revisionist“, OV „Kreis“, Untersuchungsvorgang) und über Hartmut Rosinger (alias IM „Hans Kramer“).
Da das Projekt in der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen stattfand, konnte den Schülern im Magazin die circa drei Meter Akten über und von den beiden Zeitzeugen auch im Original gezeigt werden.
Dann besuchten sie ebenso als „räumliche Quelle“ die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Andreasstraße, die die Thüringer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur seit 2005 in den Sommermonaten öffnen konnte. Am folgenden Tag stellten sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig ihre Quellenanalyse vor, sammelten und ordneten ihre Fragen für die abschließende Befragung von Peter Wulkau und Hartmut Rosinger, besprachen die Moderation sowie Begrüßung und Verabschiedung der beiden Zeitzeugen.
Abends lernten sie Peter Wulkau als Autor kennen, der aus seinem Romanmanuskript „Noch nicht und doch schon“ vorlas, für das er 1978 zu vier Jahren und sechs Monaten Haft wegen „Staatsfeindlicher Hetze“ (§106 StGB) verurteilt worden war. Hartmut Rosinger hatte als IM darüber berichtet. So hörten sie auch das „Vaterunser des Parteibürgers“ aus Wulkaus Mund:
„VATER UNSER IN MOSKAU GEHEILIGT IST DEIN NAME SOWIESO DEIN REICH KOMME VON MOSKAU BIS WASHINTON UND IM HIMMEL UNSERTE TÄGLICHE ARBEIT GIB UNS HEUTE UND VERGIB UNS UNSERE ZWEIFEL WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSEREN FÜHRERN UND FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG SONDERN ERLÖSE UNS VON MITLÄUFERN SONDERLINGEN UND HÄRETIKERN ALLER ART DENN DEIN IST DAS REICH DAS GELD DIE ARMEE DIE PRESSE IN EWIGKEIT AMEN NICHT MEHR!“
Auch ich traf Peter Wulkau erstmals persönlich bei dieser Lesung, die ich auf dem Innenhof vor dem Zellentrakt der Untersuchungshaftanstalt Erfurt angespannt moderierte. Ganz hinten in der letzten Reihe, am Rand sitzend, nahm ich auch Hartmut Rosinger wahr.
Am dritten Projekttag fand 90 Minuten lang die Zeitzeugenbefragung statt. Der Mut einer Schülerin ist mir auch nach 16 Jahren noch gut in Erinnerung. Ihre erste Frage an Peter Wulkau lautete: Haben Sie während Ihrer Haftzeit auch Menschen an die Stasi verraten?
Das war ein Auftakt! Bisher habe ich - während meiner fast 30-jährigen Arbeit mit der nachgewachsenen Generation noch nie erlebt, dass Jugendliche anmaßend wurden, aber eine selbstbewusst kritische Jugend erlebe ich bis heute.
Die verantwortliche Lehrerin Angelika Nembach beschreibt dieses Projekt so:
„… Mit dieser Projektmethode lassen sich zwei Themenbereiche im Fach Sozialkunde exemplarisch umsetzen. Zum einen können die Schüler die zentrale Bedeutung von Menschenrechten und Menschenwürde für das politische und rechtliche Leben nachweisen, und zum anderen können sie erfahren wie sich Anspruch und Wirklichkeit von Menschenrechten in Diktaturen am Bespiel der DDR widersprechen. […].
Wie Schüler und Studenten den Beginn 2006 und - rund 15 Jahre später – heute dieses Projekt bewerten, sollen folgende Zitate zeigen:
2006: Kilian, 11. Klasse, Hildburghausen: „Es ist eine Sache, eine solche Geschichte in 30 Jahre alten Akten der Geheimpolizei zu lesen, aber dann mit dem Opfer und einem Täter in einer Fragerunde selbst zu sprechen, war eine einmalige Chance, das Unrechtssystem der Stasi durch Sprechen mit den Betroffenen selbst nachzuvollziehen. Der Autor Peter Wulkau ist eine überzeugende Persönlichkeit, dem man sofort Sympathie entgegenbringen musste. Sein Freund, welcher ihn verriet, schien ungleich weniger selbstbewusst, aber auch nicht wie ein schlechter Mensch. Fakt ist, dass beide Opfer des Systems wurden, welche die Sicherheit des Staates über persönliche Verhältnisse stellte. […] Ich glaube, dass keiner die Erfahrungen, die wir dort machen durften, je wieder vergessen kann. Dafür waren sie einfach zu eindringlich. […] Das Projekt … hat für mich Maßstäbe gesetzt zum Verständnis totalitärer Staaten. Durch das Zeitzeugengespräch […] bin ich persönlich weitergekommen.“
2007: Manuel, 11. Klasse, Jena: „Hochinteressant waren die Emotionen zwischen den Befragten und der Verdrängungseffekt. […] So hat man gemerkt, dass das Gespräch etwas Einzigartiges war.“
2007: Berthold, 11. Klasse, Jena: „Was haben wir gelernt? Menschen legen sich ihre Geschichte zurecht. Der, der Schuld hat und sie verdrängt, genauso wie der, der unschuldig Strafe erleiden musste und sie herabspielt und nicht in Trauer über verlorene Lebenszeit geraten möchte. […] Wie wichtig ist der zivile Ungehorsam heute? Wie wichtig die Auflehnung gegen kleines Unrecht heute? […] Die Erfahrungen aus der Diktatur, die meine Generation zwar nicht mehr bewusst erlebt hat, aber die sie vermittelt bekommen kann, rufen dazu auf, unsere Gesellschaft aktiv mitzugestalten, sich einzusetzen für einen möglichst breiten und von allen tragbaren Wertekonsens. Sie vermitteln die Wichtigkeit von Freiheit als eine der Hauptzutaten für ein funktionierendes Staatsgebilde, indem der Bürger Mensch ist und nicht Zelle, nicht Objekt, nicht Abkürzung und nicht Nummer. Auf diese Erkenntnis muss man hingewiesen werden, sonst gerät man zu leicht in die Versuchung, aus übersteigertem Sicherheitsbedürfnis Freiheitsrechte wie die informationelle Selbstbestimmung einzuschränken – dieses Ziel hat die Beschäftigung mit der Stasi sicherlich erreicht.“
2021: Vier aus 19 differenzierten Schülermeinungen, 10. Klasse, Suhl: • „Durch den Zeitzeugen wurde Geschichte ‚zum Leben erweckt‘.“ • „Ich fand gut, dass das Erarbeiten des Falles eine Mischung aus Quellenkritik, Diskussion, Geschichten persönlicher Erfahrungen und Informationen durch die Projektleiter war.“ • „[…] Aus dem Gespräch mit dem Zeitzeugen habe ich mitgenommen, wie man einen Zeitzeugen am besten befragt. Man stellt entweder eine offene Frage und lässt den Zeitzeugen reden oder man stellt eine geschlossene Frage mit einer Nachfrage.“ • „[…] Dazu habe ich auch gelernt, kritischer Quellen zu lesen.“
2021: Ein Student der Thüringer Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung Gotha: „[…] Ich wusste bislang nicht, dass die DDR so ein Unrechtsstaat war. Gespräche mit meinen Verwandten hatten ergeben, dass meine Eltern eine sehr schöne und unbeschwerte Kindheit hatten, aber dass das Erwachsenleben schwer war. Nun habe ich mitgenommen, dass unsere Demokratie in jedem Fall ein äußerst schützenswertes Gut darstellt.“
2022: Ein Referendar aus Bayern:
„Täter wurden sehr oft unter Druck gesetzt, waren oft naiv und jung und somit auch ‚Opfer‘ des Systems.“
Ich nehme mit, „dass Täter auch Menschen waren. Es war besonders interessant nachzuvollziehen, wie und warum ein Mensch zum Täter wird und wie es dazu kommt, dass er sich davon distanziert.“
„Dass ein Mensch stark genug ist, sich immer wieder mit dem größten Fehler seines Lebens zu konfrontieren, das hat mich nachhaltig beeindruckt und inspiriert zum Umgang mit eigenen Fehlern. Diese psychische Stärke haben nicht viele Menschen in ihrem Leben.“
2. Maßstabsetzend: Der Film „Feindberührung“
Von diesem „Opfer-Täter“-Projekt erfuhr 2006 die Filmemacherin Heike Bachelier, die sehr schnell mit dem Anliegen auf mich zukam, aus der Stasi-Geschichte von Peter Wulkau und Hartmut Rosinger einen Dokumentar-Film zu machen.
Nach Zusage aller Beteiligten fanden im Rahmen des oben genannten ersten Quellen-Zeitzeugen-Projektes im Juli 2006 die ersten Drehtage statt, zunächst nur zur Produktion eines Teasers. Dieser sechsminütige Kurzfilm wurde, unter dem damaligen Arbeitstitel „Der verwunde(r)te Blick“, interessierten Sendeanstalten vorgeführt, um sie von dem Projekt zu überzeugen. Ich war zunächst besorgt und daher skeptisch. Hatten nicht auch einige IM nach dem Öffentlichwerden ihrer Spitzeleien den Suizid statt den Weg zur Aufklärung gewählt? Meine Sorge erwies sich als unbegründet. Mein Dank geht an Hartmut Rosinger und seiner Familie sowie Freunden!
„Feindberührung“ wurde für das ZDF in Co-Produktion mit Cinétévé in Paris für France 3 hergestellt und zum Tag der Deutschen Einheit 2011 im ZDF ausgestrahlt. 2011 erhielt der Film den PRIX EUROPA für den besten Dokumentarfilm.
Dass dieser Film überhaupt via Förderung zustande kam, liegt wohl am Erfolg des in Hollywood Oscar-prämierten Spielfilms „Das Leben der Anderen“ von 2006.
Die filmische Aufbereitung eines „Freundesverrats“
Durch die nun im Mai 2023 erfolgte Onlinestellung des kompletten Films im Deutschlandarchiv der bpb kann sich jeder selber ein Urteil bilden, ob Dokumentarfilme über Monika Häger (1990), Sascha Anderson (2014), über den Bruderverrat in „Striche ziehen“ (2015), Wolfgang Schnur (2017), Gerhard Gundermann (2018), Manfred Böhme (2021) dieselbe Tiefe des Themas persönlicher Schuld und Reue erlangen oder nicht, wie „Feindberührung“ das mit Einschränkungen leistet. Ich erinnere mich noch, als ich den Film „Vaterlandsverräter“ über die IM-Tätigkeit des Schriftstellers Paul Gratzik (2011) oder „Anderson“ (2014) über den Spitzel in der Künstlerszene, Sascha Anderson sah, wie mich der Ärger über die zornige Selbstgerechtigkeit der Stasi-Informanten befiel.
Interview mit Regisseurin Heike Bachelier
Was hat Sie am Thema gereizt?
„Die ‚Täter-Opfer‘-Frage zweier Freunde. Was macht den einen zum Täter und den anderen zum Opfer? Während meiner Arbeit am Film sollte ich herausfinden, dass diese Frage nicht leicht zu beantworten ist und selbst die Kategorien ‚Täter-Opfer‘ verschwimmen, wenn man näher hinschaut.“
Welche Botschaft sollte der Film haben? Was war Ihre Intention?
„Am Anfang der Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm ‚Feindberührung‘ hatte ich lediglich viele Fragen. Diesen Fragen wollte ich im Laufe der Dreharbeiten nachgehen. Wichtig war mir, Peter Wulkau und Hartmut Rosinger dabei unvoreingenommen zu begegnen.
Ich bin in West-Deutschland aufgewachsen und konnte mir selbst nicht beantworten, wie ich mich in der DDR verhalten hätte. Wäre ich mutig gewesen oder angepasst? Auf welcher Seite wäre ich gewesen? Auch dachte ich, dass eine unvoreingenommene Haltung mir die größtmögliche Chance gibt, etwas zu verstehen und den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Sehr gefreut habe ich mich über Peter Wulkaus Haltung zu Hartmut Rosinger. Peter Wulkau hat es Hartmut Rosinger hoch angerechnet, dass er sich ihm persönlich und seiner Vergangenheit stellt. Mit dieser sachlichen Haltung Peter Wulkaus war die Grundlage für eine Auseinandersetzung der beiden Männer geschaffen. Und mir waren die Voraussetzungen gegeben, um mir durch Interviews und situative Konfrontation ein Bild von den Ereignissen und der unterschiedlichen Handlungsweisen der beiden Freunde zu schaffen. Im Schnitt des Filmes ging es dann darum, diese Eindrücke und Erkenntnisse so zusammenzustellen, dass diese auch für den Zuschauer nachvollziehbar werden.“
Wie haben Sie mit den Zeitzeugen gearbeitet? Sind einige Szenen gestellt, zum Beispiel die Szene, in der die beiden Zeitzeugen an einem Tisch sitzen und ihre Akten lesen?
„Ich habe mich für die Dreharbeiten gemeinsam mit Peter Wulkau und Hartmut Rosinger auf eine Reise in die Vergangenheit begeben. Diese habe ich durch lange Interviews, durch den Besuch der Orte des Geschehens und das Lesen der Stasi-Akten befördert. Gestellt ist dabei nichts. Die Aufgabe war es, einzufangen, was sich zwischen den beiden Männern abspielte. Die Akten, die Peter Wulkau und Hartmut Rosinger gemeinsam lesen, sind natürlich von mir vorbereitet. Ich habe wochenlang daran gesessen, Peter Wulkaus Akten zu studieren, diese dann in einen chronologischen Ablauf zu bekommen und so zu kürzen, dass diese bewältigbar sind. Die Originalakten umfassen über 18.000 Seiten. Natürlich hätten die beiden Männer die Akte so nicht lesen können und sich auch wahrscheinlich nicht getroffen, um dies zu tun, insofern ist diese Szene gestellt. Aber beide lesen die Akte zum ersten Mal, so ist es wieder eine ganz unverfälschte und unmittelbare Situation der Auseinandersetzung von Peter Wulkau und Hartmut Rosinger.“
Pressestimmen
Der Dokumentarfilm „Feindberührung“ wurde am 3. Oktober 2011 zum Tag der Deutschen Einheit im ZDF ausgestrahlt. Im Vorfeld wurde der Film auf unterschiedlichen Internetseiten vorgestellt. Hier einige Auszüge:
Presseportal.de: Der ZDF-Dokumentarfilm „Feindberührung“ am Montag, 3. Oktober 2011, 0.20 Uhr, zeigt die seltene Begegnung von Täter und Opfer als Chance einer ehrlichen Auseinandersetzung vor dem Hintergrund eines perfiden Überwachungsstaates. Heike Bachelier erzählt in ihrem Debütfilm eine exemplarische Geschichte aus der DDR-Diktatur, eine Geschichte über Freundschaft und Verrat, Schuld und Versöhnung und den schwierigen Versuch, die Verletzungen der Vergangenheit zu heilen.
taz.de: Der Film, der auch deshalb so überzeugend ist, weil er auf einen deutenden, einordnenden, wertenden Off-Kommentar verzichtet, lässt Spielraum. Er lässt Leerstellen. Er sagt nicht, welches das bessere Deutschland war, als es einmal zwei davon gab. Er lässt aber keinen Zweifel daran, welches das schlechtere Deutschland war – die DDR.
Saarbrücker-Zeittung.de: Bachelier hat ihren Film nicht dramatisch aufgeheizt, sondern erzählt dort ruhig, wo andere Dokus vielleicht Spielszenen und hektische Schnitte eingesetzt hätten. „Analyse interessiert mich mehr als Drama“, sagt sie.
Zuschauerreaktionen
Die Filmemacherin Heike Bachelier über die Reaktionen des Publikums bei öffentlichen Vorführungen des Films:
„International stieß ‚Feindberührung‘ auf großes Interesse. Bei Vorführungen vor internationalem Publikum habe ich einige Menschen getroffen, die eine positive Haltung zum Kommunismus hatten. Diese zeigten sich enttäuscht über den Einblick, den ihnen der Film gab. In Deutschland begegnete ich keinen Menschen mit dieser Haltung. Bei Vorführungen in Westdeutschland stieß ich ausschließlich auf sachliches Interesse. Verständlicherweise waren die Reaktionen bei Vorführungen in den neuen Ländern Deutschlands am emotionalsten. Dort wurde Hartmut Rosinger oft angegriffen. Bei einem Gespräch nach einer Vorführung in Schwerin warf ein Zuschauer Hartmut Rosinger vor, ein „Wendehals“ zu sein. In Berlin beschimpfte ein Zuschauer während einer Vorführung den anwesenden Hartmut Rosinger wütend und aufgebracht, sobald dieser im Bild erschien. Eine Gruppe von ehemaligen politischen Gefangenen der DDR wiederum zeigte eine sehr positive Reaktion. Sie rechneten Hartmut Rosinger hoch an, dass dieser sich öffentlich stellte. Ihre eigenen Erfahrungen mit Menschen, die ihnen in der DDR geschadet haben und denen sie tagtäglich weiter begegneten, war völlig anders. Keiner von ihnen zeigte sich zum Gespräch bereit oder gar Reue".
Aus einem Zeitungsartikel zu einer Präsentation des Films am 30. Mai 2011 in Erfurt, bei der auch Roland Jahn, der damalige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, anwesend war:
„Dass Wulkau seinem Spitzel Rosinger ungeachtet seiner Verletzungen und Enttäuschungen wieder begegnen kann, hielt der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen Roland Jahn in Erfurt für ein wichtiges Beispiel gelungener Geschichtsaufarbeitung. Bevor man von den Opfern die Bereitschaft zur Versöhnung verlangen könne, müssten die Täter Verantwortung für ihre Taten übernehmen, so Jahn. Im Falle von Wulkau und Rosinger habe das funktioniert.“
Zitat
„Feindberührung“ weckt – je nach Sozialisation und Lebensalter - unterschiedliche Emotionen: Vom lauten Hass bis zum leisen Respekt.
Meine Sicht
Was zuvor beschrieben wurde, spiegelt auch meine Erinnerung: jung- und alt-bundesdeutsch Sozialisierte oder, salopp formuliert: nachgeborene Jugendliche und ehemalige Westdeutsche zeigen sich erfreut, dass Erfahrung klug macht, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur besser funktioniert als die „Bewältigung“ der Nazizeit nach 1945. Dagegen reagieren ehemalige „DDR-Insassen“ (Joachim Gauck) auf Hartmut Rosingers Mut, sich seiner Täter- beziehungsweise Mitläufer-Vergangenheit zu stellen, immer noch – teils irrational – affektiert und mokierten sich laut, und ich sah außerhalb von Schulen kaum einen bildungspolitischen Ertrag.
Dann - im Rahmen der Lutherdekade 2017 - wurde der Film in Erfurt gezeigt und beide Zeitzeugen sowie die Filmemacherin waren anwesend. Erstmals bemerkte ich, dass die Zuschauer ruhiger waren: Westdeutsche zeigten sich - wie erwartet - erfreut über eine endlich gelungene Begegnung von „Opfer“ und „Täter“. Und Ostdeutsche, aus der (evangelischen) Bürgerbewegung von 1989, bekannten ihre Trauer, dass sich bei ihnen bislang kein Spitzel gemeldet habe.
In Konsequenz lässt sich sagen, dass die Bereitschaft, auch einem „Täter“ zuzuhören, erfreulich gewachsen ist. Statt „explodierender“ Wut zeigte sich in (langen) Vier-Augen-Gesprächen nach der Veranstaltung leise Trauer. Man muss nicht mehr auf die Täter starren, um seine (Mitläufer-) Geschichte erträglicher zu gestalten. Hier einige Beispiele, die mir noch besonders in Erinnerung geblieben sind:
2018 forderte ein „engagierter“ Katholik vehement vom Magdeburger Bischof und vom Thüringer Landesbeauftragten, die Auftakt-Tagung zum Thema „‘Feindberührung‘, Aufarbeitung – Versöhnung?“ (26.-27.10.2018) abzusagen, weil einem Stasi-Spitzel kein „Judaslohn“ und kein Podium zur Selbstdarstellung geboten werden dürfe. Die Tagung fand trotzdem statt.
2019: Gotha, als ein Mann gleich nach dem Film aufstand und Hartmut Rosinger als „schlimmsten Lump im ganzen Land“ beschimpfte, den er, anstelle Peter Wulkaus, „erschlagen“ hätte, gab es eine kurze Unruhe unter den Besuchern der Abendveranstaltung im evangelischen Gemeindezentrum. Mir neu war, dass ein Mann - entspannt im Sitzen, aber bestimmt - äußerte: „Blinden Hass wollen wir nicht mehr, sondern Aufklärung!“ Er bedankte sich bei Hartmut Rosinger, weil er sich traue, hier offen zu seiner Schuld zu stehen. Über sechzig Menschen klatschten laut.
2019: Der Abend eines ökumenischen Kreises in Merseburg währte lang und war sehr leise: Ein Mann offenbarte seine fortwährende Verfolgungs-Angst. Eine Frau sagte versöhnlich, dass sie trotz religiöser „Bindung“ nur Glück gehabt habe, nicht hauptamtlich bei der Stasi gelandet zu sein wie einige ihrer „netten“ Familienmitglieder.
2019: In Heiligenstadt sagte ein Mann zu Hartmut Rosinger: „Bevor ich meine Frage stellte, will ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie den Mut haben, hier als Täter vor uns zu stehen!“ Alle klatschten zustimmend.
2021: Eisenach, ein Pfarrer schreibt nach einer bewegenden Diskussionsrunde an Hartmut Rosinger: „… Mir kam der Gedanke, dass hier zum Teil ja auch Leute gesprochen haben, die selbst durch ihr bewusstes Christsein zu DDR-Zeiten zum Teil schwere Nachteile in Kauf nehmen mussten. Deshalb vermute ich, dass hier einfach Traumata aus dieser Zeit, die - in ja der Regel auch - nie aufgearbeitet worden sind, emotional hochkamen – deshalb auch diese starke Emotionalität. An der Stelle werden Sie dann automatisch zu einer Projektionsfläche: es wird nicht mehr Ihre ganz persönliche Geschichte und deren Aufarbeitung gesehen, sondern Sie stehen in diesem Moment für ein System und für Erfahrungen, die die Betroffenen selbst in ihrem eigenen Leben gemacht haben. So könnte ich mir es erklären. Und vielleicht kann es Ihnen etwas helfen, diese Rolle für einen solchen Abend ein- und anzunehmen, um für sich selbst zu erkennen, dass nicht letztlich Sie direkt als Person gemeint sind, sondern dass manch Betroffener in Ihnen das sieht (und zwar unbewusst!), unter dem er selbst früher einmal gelitten hat…“
Die darin zusammengestellten Texte, Quellen und Arbeitsvorschläge können Schülern helfen, die Machart und die Erzählabsichten von historischen Dokumentationen zu erkennen und zu hinterfragen. Der Aufbau des Arbeitsmaterials orientiert sich an der Logik einer Filmanalyse, beginnend mit Hinweisen zum Charakter des Mediums Dokumentarfilm und Anregungen zum ersten Erfassen der inhaltlichen Struktur des Films über die exemplarische Analyse einzelner Kapitel bis hin zur Interpretation der im Film erzählten Geschichte und ihrer abschließenden Beurteilung.
Im Fach Ethik beschäftigten sich im Herbst 2022 die 15 Schülerinnen der 12. Klasse des Gymnasiums „Gleichense“ Ohrdruf mit der Filmanalyse. Als Projektabschluss fand am 23. November 2022 ein Zeitzeugengespräch mit Hartmut Rosinger statt. Eine Schülerin bilanzierte:
„Insgesamt 90 Minuten hatten die Schüler und Schülerinnen des Ethikkurses Zeit, dem Zeitzeugen in einem persönlichen Interview Fragen zu stellen, die sich um die Themen ‚IM-Tätigkeit‘, ‚Verrat‘ und ‚Umgang mit Vergangenheit‘ drehen…. Im Rahmen dieses Projektes wurde es uns als Schülern ermöglicht, eine eigene Meinung zur Thematik zu bilden und Einblicke in eine Welt zu erhalten, auf die wir sonst nur von einer anderen Seite blicken können. Die erhalten Informationen sind für uns von großer Bedeutung, denn aus der Geschichte können – und wollen – wir lernen.“
Am Filmende heißt es übrigens: „Im Gehen entsteht der Weg“.
Zitierweise: Matthias Wanitschke, "Feindberührung" - DDR vermitteln, aber wie? Am Beispiel eines Dokumentarfilms von Heike Bachelier über die Stasi, in: Deutschland Archiv, 3.12.2024, Erstveröffentlichung am 22.05.2023, Link: www.bpb.de/520913. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Als IM "Hans Kramer" berichtete Hartmut Rosinger der DDR-Geheimpolizei Stasi folgenreich über seinen Freund Peter Wulkau. 30 Jahre danach treffen sich beide wieder und versuchen mühsam einen Dialog.
Dr. Matthias Wanitschke, 1964 in Stralsund geboren; 1993: Diplom-Theologe; 1993-95: Arbeit beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (damals abgekürzt BStU, heute: BArch) dann Wechsel zum Thüringer Landesbeauftragten (ThLA) als Referent für politische Bildung.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).