Eine Keimzelle politischen Engagements
Das Sprachenkonvikt der Evangelischen Kirche in Ostberlin als prägender Ort geistiger Freiheit
Markus Meckel
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Während der Friedlichen Revolution in der DDR vor 34 Jahren spielten nicht wenige Pfarrer eine einflussreiche Rolle, sie schufen Freiräume zum Nachdenken und Diskutieren. Wie kam es dazu? Der Kirche war es in der DDR gelungen, kleine, staatsunabhängige theologische Hochschulen zu verteidigen, die zu einer Schule freien Denkens und demokratischer Streitkultur wurden. Mit Folgen. Ein Rückblick von Markus Meckel aus Anlass einer Ausstellungseröffnung über das evangelische "Sprachenkonvikt" in Berlin-Mitte. Der letzte Außenminister der DDR hat dort selber studiert.
Kirche war in der von einer atheistischen Ideologie geprägten DDR sehr viel mehr als Religionsvermittlung. Von Gott zu sprechen bedeutet in der Kirche immer, von dem von Gott geliebten Menschen zu reden, der darin seine Würde hat. So traten die Kirchen für die Freiräume ein, in denen Menschen diese Würde in Freiheit leben konnten – und das war oft nicht leicht. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte ihr Freiräume zugestanden, die sie dann in der DDR zu verteidigen suchte, mehr oder minder erfolgreich, je nach den konkreten Umständen und Selbstbewusstsein und Einfallsreichtum von Pfarrern und Pfarrerinnen, aber genauso von Gemeindekirchenräten, Gemeindemitgliedern und Kirchenoberen, die oft clever Wege finden mussten, dem auf sie ausgeübten Druck in der SED-Diktatur zu trotzen.
Engagement für Abrüstung und Umweltschutz auch in der DDR, für Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte wären ohne diese gesellschaftlichen Freiräume unter den schützenden Kirchendächern so nie möglich gewesen. Solche ideologiefreien Nischen zu schaffen hatte auch damit zu tun, dass viele Theologiestudentinnen und Studenten, wie auch ich einer war, schon in ihren Familien, in der Gemeinde und dann besonders in der Ausbildung genau dies vermittelt bekamen: Freiraumkultur, Nachdenklichkeit, Engagement, Gewaltfreiheit, demokratische Werte und Transparenz – Grundbausteine auf dem Weg in die Interner Link: Friedliche Revolution.
Sechs Theologische Fakultäten
In der DDR gab es verschiedene Möglichkeiten, Theologie zu studieren: Sechs Universitäten besaßen eine Theologische Fakultät beziehungsweise Sektion: Berlin, Greifswald, Rostock, Halle, Leipzig und Jena. Dazu kamen drei „Kirchliche Hochschulen“ mit jeweils verschiedenem historischem Hintergrund: das "Sprachenkonvikt" in Ostberlin, das "Katechetische Oberseminar" Naumburg, das ursprünglich für die Ausbildung von Katecheten bestimmt war, und das "Theologische Seminar" Leipzig, hervorgegangen aus der Ausbildung für Missionare durch die Leipziger Mission. Gewissermaßen als Fachhochschule kam das „Paulinum“ im Berliner Missionshaus dazu. Die Katholische Kirche hatte ihre Hochschule in Erfurt.
Beschreiben will ich die Arbeit am "Sprachenkonvikt" – vieles von dem, was ich dazu sagen kann, gilt auch für die anderen beiden Kirchlichen Hochschulen in Naumburg und Leipzig.
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Diese Schulen waren der letztlich erfolgreiche Versuch der evangelischen Kirchen in der DDR, eine eigenständige Theologieausbildung unabhängig vom Staat zu etablieren. Dies erwies sich als zwingend nötig, um zu verhindern, dass der Staat unmittelbaren Einfluss auf die theologische und die ganz praktische Ausbildung von Theologen nimmt sowie auf die Auswahl des Pfarrernachwuchses. Mit Recht sah die Kirche die Gefahr, dass sonst Loyalität zum Staat zur Voraussetzung des Pfarrernachwuchses geworden wäre.
Das Sprachenkonvikt, beheimatet in der Borsigstraße in Berlin-Mitte, war bis zum Mauerbau 1961 gewissermaßen ein östlicher Ableger der "Kirchlichen Hochschule" in Berlin-Zehlendorf (KiHo). Diese war von der Bekennenden Kirche 1935 für die theologische Ausbildung unabhängig vom Einfluss der Deutschen Christen und vom nationalsozialistischen Staat gegründet und umgehend verboten worden. Bis 1941 arbeitete sie faktisch im Untergrund – eine wahrhaft abenteuerliche Geschichte. Nach dem Krieg wieder eröffnet, wurde sie stark von Studierenden der Sowjetischen Besatzungszone besucht. So wohnten hier die Studenten und Studentinnen aus der DDR, wurden die Sprachen Griechisch, Latein und Hebräisch gelehrt, dazu gab es einführende Vorlesungen in das Alte und Neue Testament und in die Kirchengeschichte.
Selbstständig nach dem Mauerbau
Die eigentliche Geburtsstunde als selbstständige Kirchliche Hochschule erfolgte dann nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 und der faktischen Trennung von der Zehlendorfer „KiHo“. Schnell kam es zur Entscheidung der Berlin-Brandenburgischen Kirche und dem zwischen 1953 und 2003 bestehenden Bund evangelischer Landeskirchen der Union (EKU), diesen Ort zu einer vollständigen, wissenschaftlich arbeitenden Hochschule auszubauen.
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So stand das Sprachenkonvikt von Beginn an in dem widerständigen Erbe aus Zehlendorf und unter dem ähnlichen Auftrag: Theologie zu lehren angesichts eines feindlichen gesellschaftlichen Umfeldes, die Freiheit des Evangeliums zu bezeugen und für die Studierenden unmittelbar erfahrbar zu machen.
Eine Grundentscheidung war, dem Sprachenkonvikt auch institutionell Unabhängigkeit zu geben – nicht nur vom Staat, sondern auch in der Kirche: Nicht die Kirchenleitung oder das Konsistorium wurden das tragende Organ, sondern ein Kuratorium. Sein erster Vorsitzender war Präses Kurt Scharf, dann ab 1963 für viele Jahre Propst Siegfried Ringhandt – beides Männer, die tief in den Erfahrungen der Bekennenden Kirche wurzelten.
Assistenten an der Kirchlichen Hochschule, die aus dem Osten stammten, wurden flugs zu Dozenten gemacht – genannt seien nur Hans-Jürgen Hermisson (Altes Testament), Christoph Demke (Neues Testament) und Eberhard Jüngel (anfangs ebenfalls Neues Testament, doch wechselte er bald in die Systematische Theologie). Dazu kam bald Joachim Rogge, der an der Humboldt-Universität zu große Schwierigkeiten bekommen hatte. Diese Entwicklung war auch innerhalb der Kirche keineswegs unumstritten.
Wie man einem Rückblick auf das Wirken des Sprachkonvikts des Theologie-Professors Wolf Krötke aus dem Jahr 2010 entnehmen kann, sicherte Generalsuperintendent Albrecht Schönherr noch im März 1963 dem DDR-Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen zu, dass es sein Bestreben sei, zu verhindern, „dass den Theologischen Fakultäten Konkurrenz gemacht werde“. In einer Notiz heißt es dort: Schönherr „begrüße diese staatliche Ausbildungsmöglichkeit für Theologen und wolle das Sprachenkonvikt allmählich wieder zu einer Stätte werden lassen, an der tatsächlich nur die alten Sprachen und Bibelkunde zur Vorbereitung auf das Theologiestudium vermittelt werden“. Diese Beschränkung gelang ihm dann jedoch nicht.
Der Freiraum „Sprachenkonvikt“
Am Sprachenkonvikt, wie an den anderen Kirchlichen Hochschulen auch, konnte man künftig in einem Freiraum und auf einem Niveau Theologie studieren wie in Tübingen, Berlin-West, Göttingen oder Bielefeldt. Manchmal auch mit Gästen aus dem Westen. Und der Staat hatte keinerlei Einfluss auf die Inhalte und Zugangsbedingungen, was für die Kirche und ihre Entwicklung in der DDR von zentraler Bedeutung war, auch wenn sie die SED immer wieder beklagte. In einem Stasi-Bericht an die Parteiführung aus dem Jahr 1976 wird sich empört, dass „kein Zweifel“ bestünde, „dass hier eine gegen unseren Staat gerichtete politische Beeinflussung der Lernenden erfolgt.“
Ich selbst war nach der 10. Klasse von der Erweiterten Oberschule, dem „Grauen Kloster“ in Berlin, geworfen worden – und hatte dann nur in Potsdam-Hermannswerder, am Kirchlichen Oberseminar, Abitur machen können. Nur die Kirchlichen Hochschulen ermöglichten mir ein Theologiestudium. Dem Theologen Richard Schröder ging es ähnlich – und vielen anderen auch.
Der Wechsel zwischen diesen Hochschulen in Naumburg, Leipzig und Berlin war problemlos möglich und damit eine Erfahrung großer Pluralität. An den staatlichen Universitäten war das so nicht vorgesehen. Ich kam 1974 aus Naumburg ans Sprachenkonvikt, wo mein Bruder Hans-Martin im Jahr zuvor sein Studium begonnen hatte. Das dogmatische Hauptseminar (zu Karl Barth, Friedrich Schleiermacher oder Dietrich Bonhoeffer etwa oder zur altkirchlichen Christologie) wurde über Jahre zum festen Bestandteil meines Stundenplans. Den stellte sich jeder selbst zusammen – anders als an den Universitäten, bei denen es feste Stundenpläne gab, oft 30 Wochenstunden. Ich belegte meist nur die Mindestzahl von 12 bis 14 Wochenstunden – denn wie sollte man mehr schaffen, wenn man allein für die zwei Stunden Hauptseminar mindestens einen Tag Vorbereitung brauchte?
An den staatlichen Universitäten der DDR war unter dem Begriff „Philosophie“ oft nur „Marxismus-Leninismus“ zu finden. Anders am Sprachenkonvikt. Dort traf ich 1974 zuerst auf Jörg Milbradt, der einen Lehrauftrag hatte – eigentlich mehr für die Sprachen, faktisch aber wurde er zu einem wichtigen Lehrer der Philosophie. Im kleinen Kreis lasen wir in seiner Wohnung morgens um 7.00 Uhr Hegel und Marx, Plato, Nikolaus von Kues und andere – natürlich in den originalen Sprachen – und verfolgten Satz für Satz ihre Gedanken. Wir versuchten, Zusammenhänge und Wahrheiten zu ergründen. Milbradt vertrat eher die Idee der Einheit der Religionen, was wohl der tiefere Grund dafür war, dass er nicht als Dozent für Philosophie angestellt wurde.
Seminar über den in der DDR verbotenen Nietzsche
Ab 1977 lehrte Richard Schröder Philosophie am Sprachenkonvikt und in Naumburg. Seminare und Vorlesungen zu Kant und Aristoteles wurden für mich zu einem Erlebnis, das Horizonte öffnete. Seine Vorlesung zu Hannah Arendt habe ich seinerzeit nicht mehr hören können, aber in informellen Gruppen und Kreisen blieben wir über die Studienzeit hinaus verbunden – und am Thema in der denkenden Auseinandersetzung auch mit der gesellschaftlichen Realität in der DDR. Meine Arbeit zum 1. Theologischen Examen schrieb ich schließlich nach einem Nietzsche-Seminar bei Michael Jacob über Nietzsches Zarathustra. Er kümmerte sich dann auch darum, dass diese Arbeit in den Nietzsche-Studien im Westen erschien. Und das alles, obwohl Nietzsche in der DDR verboten war!
Das Studium am Sprachenkonvikt war also nicht einfach eine Berufsausbildung zum Erlernen des Pfarrerberufs. Es galt, die Fragen des Glaubens zu ergründen und in einer atheistischen Welt und Gesellschaft sprachfähig zu werden, Gott und das Evangelium zu bezeugen. Der gesellschaftliche und ideologische Kontext, in dem wir in der DDR lebten, war dabei immer im Blick. Bei höchstens 150 Studenten und Studentinnen kannten die Dozenten jeden Studierenden, und so war ein persönlicher Kontakt und oft auch die Begleitung im Gespräch in einem Maße Realität, wie das woanders kaum möglich war.
Besonders für die Studenten und Studentinnen, die auch im Konvikt wohnten – und das waren die meisten –, war die Gemeinschaft im Haus ein hohes Gut. Diese wurde durch die Mitarbeiter und ihre Persönlichkeit jeweils spezifisch geprägt. Die gemeinsamen Andachten, das Mittagessen und besonders natürlich die legendären Feste spielten hier eine besondere und prägende Rolle. Der große Zusammenhalt unter uns angehenden Theologen führte als Nebenwirkung auch dazu, den Stasi-Einfluss gering zu halten. Sicherlich hatte zu DDR-Zeiten auch die Geheimpolizei Stasi immer wieder durch Perspektiv-IMs versucht, unter den verhassten Theologen Einfluss zu gewinnen und besonders couragierte unter ihnen auszubremsen. Doch im Sprachenkonvikt scheiterten sie regelmäßig an der gemeinsamen Ethik, den gelebten demokratischen Prinzipien und einem unermüdlichen Gemeinschaftsgeist von Studierenden und Lehrenden, die zum Teil auch auf dem Schulgelände lebten. So biss sich der SED-Staat an der Theologie die Zähne aus. Mit Folgen. Die IMs in den Ende 1989 neu gegründeten Parteien, die anfangs zum Teil von Pfarrern angeführt wurden, stammten dann auch eher aus anderen Studiengängen, wie zum Beispiel Jura, wo es für das MfS offensichtlich einfacher war, anzudocken. Der kritische und widerständige Geist in der Tradition vieler Absolventinnen und Absolventen der Kirchlichen Hochschulen in der DDR hatte aber auch noch andere Wurzeln:
Im Geist von 1968
In den 1970er Jahren waren wir davon überzeugt, dass Freiheit und Selbstbestimmung auch die Strukturen des Studienbetriebs prägen sollten. Man kann sagen, der 68er-Geist schwappte auch zu uns herüber, aus dem Westen über die Mauer, oder auch aus Prag. Jedenfalls bemühten wir uns um eine Studienreform, welche eine Mitbestimmung der Studierenden ermöglichen sollte. Hinzu kam die Einrichtung einer auch von Studierenden getragenen Studienberatung, die dabei helfen sollte, sich in dieser für die DDR völlig ungewöhnlichen Freiheit zurechtzufinden. Das gelang auch, und es stellte sich als ausgesprochen wichtig heraus. Denn so gab es einen Ort, an dem auch schwierige Konflikte ausgetragen werden konnten.
Wie schon im Neuen Testament nachzulesen ist, gibt es in der christlichen Gemeinde immer wieder auch Konflikte – und so auch bei uns. Von einem will ich erzählen: 1974 feierte ein Studentenpaar seine Hochzeit in wunderbaren alten, barocken Kostümen, die vom Theater ausgeliehen worden waren. Sie wandelten vom Konvikt bis zum Alexanderplatz, stahlen Unter den Linden dem Wachwechsel an der Alten Wache die Show und bekamen dann beim Standesamt ein Problem, als die dortigen Mitarbeiter sie „in diesem Aufzug“ nicht trauen wollten. Ein wortreicher Streit entfachte sich, aber es half nichts – das Paar musste sich umziehen und sich von Gästen ohne Kostüm schlecht sitzende Kleidung leihen, die dann als würdig angesehen wurde.
Dieser Vorfall wurde im nächsten Gespräch zwischen den staatlichen Stellen und der Konviktsleitung als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ ausgelegt. Der Druck des Staates wurde vom damaligen Rektor und dem Kollegium an die Studenten weitergegeben, und schließlich sollten die beiden – sie galten als Wiederholungstäter, denn sie hatten schon einmal einen „Kerzenmarsch“ durch die Stadt durchgeführt – exmatrikuliert werden: Matthias Reichelt, der 15 Jahre später Sekretär des Zentralen Runden Tisches werden sollte, und seine spätere Frau Gisela. Ich war damals Vorsitzender der Studentenvertretung, und wir waren in der Studentenschaft nicht gewillt, das zu akzeptieren. Es gab eine denkwürdige und sehr sachliche, aber in der Sache höchst kontroverse Vollversammlung mit den Dozenten, in deren Verlauf wir schließlich einen Streik androhten. Einen Tag vor Streikbeginn wurde durch das Dozentenkollegium die Exmatrikulation der beiden Delinquenten in eine Zwangsverschickung in ein Gemeindepraktikum umgewandelt, und wir sagten den Streik ab. Das fanden wir schon bemerkenswert: Die Dozierenden, Theologen und Theologinnen also, verstanden ein Gemeindepraktikum als Strafe!
Ich selbst erhielt noch einen „Verweis“, was immer das bedeutet, weil ich mit dem Streik ein Mittel in den Streit eingebracht hätte (so die Begründung), das „dem gesellschaftlichen Umfeld nicht entsprach“. Im Vorfeld hatte ich – vermittelt durch meinen Vater – das Gespräch mit Manfred Stolpe gesucht, um auch die gesellschaftlich-politische Lage besser einschätzen zu können. Der wiederum wusste, dass ich schon in Hermannswerder einmal bei einer Streikorganisation beteiligt war, doch er verriet es dem Kollegium nicht – denn das hätte mich dann wohl den Kopf gekostet. Später gab es dann trotzdem einen Brief des Rektors des Sprachenkonvikts an das Konsistorium, in welchem mir die Befähigung zum Pfarramt abgesprochen wurde – was dann wiederum dazu führte, dass die Landeskirche mich trotz gutem Examen nicht in den kirchlichen Dienst und ins Vikariat übernahm. So ging ich ins Exil ins lutherische Mecklenburg, wo der frühere Rektor von Hermannswerder, Walter Schulz, Ausbildungsreferent war und Heinrich Rathke als Bischof das Risiko mit mir einzugehen bereit war.
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Andere Konflikte wurden eher im persönlichen Gespräch ausgetragen – etwa solche, bei denen es ums „Gehen oder Bleiben“, also um die Ausreise in den Westen ging. Hier folgte das Sprachenkonvikt dem allgemeinen Trend der evangelischen Kirchen und lehnte einen solchen Weg rundweg ab. Ein zusätzliches Argument war, dass angesichts der unklaren rechtlichen Situation des Konvikts ein Ausreiseantrag eines Studierenden als Gefährdung des Konvikts angesehen wurde.
Ich weiß dies etwa von Christhard Neubert, meinem Nachfolger als Vorsitzenden der Studentenvertretung, der nach seinem Ausreiseantrag sofort exmatrikuliert wurde. Immerhin konnte er noch für einige Stunden als Gasthörer am Lehrbetrieb teilnehmen. In Westberlin musste er lange warten, bis die Kirchenleitung ihn in die Liste der Theologiestudenten aufnahm.
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In diesen Konflikten wurde deutlich, dass Angst und Sorge angesichts der rechtlich ungesicherten Existenz des Hauses ständig präsent waren. So war die erlebte Freiheit in diesem Staat voller Repression immer auch angefochten.
Die konkreten Lebensbedingungen erforderten zur Schaffung der Lebensgrundlagen auch immer Ausflüge in die Illegalität. Das galt vor allem für die Bibliothek. Die Beschaffung der Bücher aus dem Westen – Grundlage für ein ordentliches Studium – erfolgte nicht immer auf legalen Wegen. Noch schwieriger war das Bauen – doch gelang es dem Ephorus Lorenz zum Beispiel, dass für den Palast der Republik bestimmte Materialien bei uns verbaut wurden. Im großen Saal sind sie noch heute zu besichtigen. Doch so etwas konnte auch tüchtig schief gehen – so wurde Lorenz eines Tages wegen solcher „Geschäfte“ in Handschellen aus dem Haus geführt. Ein Schock für alle, die es erlebten.
Die Wurzeln politischen Engagements
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Die Lebenswirklichkeit in der DDR als Diktatur war am Konvikt ständig präsent – wurde aber nicht als solche thematisiert. Das hätte die Existenz des Hauses zweifellos unmittelbar gefährdet. Doch konnten hier Kompetenzen erworben und Grundhaltungen entwickelt werden, die eine Grundlage schufen, sich auch explizit mit der politischen und gesellschaftlichen Lage in der DDR auseinanderzusetzen.
In den Zeiten des Umbruchs, in der Friedlichen Revolution 1989 und im Prozess der deutschen Einheit 1990, wurden viele „Sprachenkonviktler“ unmittelbar politisch aktiv. Der Kirchengeschichtler Wolfgang Ullmann etwa gehörte zu den zentralen Figuren der Bürgerrechtsbewegung „Demokratie Jetzt“. Besonders stark war die Beteiligung bei der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, die Martin Gutzeit und ich 1989 initiierten und auf den Weg brachten.
Im Gemeinderaum der Golgatha-Gemeinde im Hinterhof veranstalteten wir (das heißt, ein Philosophiekreis um Peter Hilsberg, den damaligen Pfarrer dieser Gemeinde) am 25./26. August 1989 ein Menschenrechtsseminar zum 200. Jahrestag der Bürger- und Menschenrechte der Französischen Revolution. Richard Schröder, Martin Gutzeit, ich selbst und andere hielten Vorträge. Im Abschlussplenum trug ich dann den von Martin und mir verfassten Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR vor. Das schlug ein wie eine Bombe – war es doch die erste Initiative einer Organisation der Opposition außerhalb der Kirche.
Unter kirchlichen Dächern: Die Gründung der SDP
Arndt Noack, auch ein ehemaliger Student des Konvikts und damals Studentenpfarrer in Greifswald, wurde zum Dritten im Bunde. Konrad Elmer, Steffen Reiche und Interner Link: Thomas Krüger gehörten schon vor der formellen Gründung am 7. Oktober 1989 zum Vorbereitungskreis. Mein Bruder Hans-Martin wurde in den Ostberliner Vorstand des SDP-Bezirksverbandes gewählt. Richard Schröder ging im Dezember für uns in den Verfassungsausschuss des Runden Tisches, trat dann der Partei bei und arbeitete an den Programmen mit, ebenso Jörg Milbradt, der einen wichtigen Anteil an der Formulierung des Grundsatzprogrammes hatte.
Das Wahlprogramm entwickelten wir Anfang 1990 im Haus von Richard Schröder in Blankenfelde. Nach der Wahl der Volkskammer wurde er Fraktionsvorsitzender der Ost-SPD, wir führten gemeinsam die Koalitionsgespräche, und dann hatte er einen wesentlichen Anteil am Meinungsbildungsprozess zur deutschen Einheit. Der langjährige Freund und Mitstreiter Interner Link: Hans Misselwitz wurde Staatssekretär bei mir im Außenministerium. Ich suchte dringend vertrauenswürdige Personen mit Auslandserfahrung, und solche waren in der DDR schwer zu finden, es sei denn solche mit ökumenischen Erfahrungen. So wurde Stephan Steinlein Botschafter der DDR in Frankreich – diesen Posten bekleidet er heute, am Ende seiner Berufskarriere, wieder – jetzt für die Bundesrepublik Deutschland.
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Nun haben wir alle nicht am Sprachenkonvikt studiert, um Politik zu machen. Und doch befähigte dieses Studium in seiner großen geistigen Freiheit und Spannbreite dazu, auch solche Aufgaben und Herausforderungen an- und wahrnehmen zu können.
Ich kenne keine Zahlen, wie viele Pfarrer in der DDR vom Sprachenkonvikt und den anderen Kirchlichen Hochschulen kamen. Bis heute aber treffe ich sie immer wieder und erlebe hoch kompetente Personen, die in schwierigen Zeiten Gottes Wort verkündeten und den Menschen in der Diktatur und später in den Zeiten schwieriger Umbrüche zur Seite standen.
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Trotz breiter Entkirchlichung der Gesellschaft – ein Erfolg der atheistischen Politik und der Repression über Jahrzehnte – hatten die Kirchen offensichtlich doch eine so große Glaubwürdigkeit, dass die Ende 1989 gebildeten Runden Tische landauf, landab weitgehend von Pfarrern moderiert wurden. Ihnen traute man es offensichtlich von beiden Seiten zu, faire Verhandlungen zu moderieren.
Wie es nach 1990 weiterging
Das Sprachenkonvikt vereinigte sich nach der deutschen Vereinigung mit der Theologischen Fakultät, und auch die Kirchliche Hochschule kam dazu – ihrer aller Geschichte ist heute in der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität vereinigt. Es ist gut, dass dies dort im Haus bewusst ist und als geschichtsträchtiges Erbe gepflegt wird. Das ist gewissermaßen ein Signal gegen den Trend.
Ohne es sich wirklich bewusst zu machen, wird heute oft die Ansicht vertreten, die deutsche Geschichte verlaufe gemeinsam bis 1945 und dann wieder ab 1990 – und dazwischen habe sich deutsche Geschichte nur im Westen Deutschlands ereignet. Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und die DDR werden als eine Art „Sondergeschichte“ betrachtet, die nur von Interesse für Betroffene und Experten ist. Kaum jemand, kaum eine Institution hat es in ihr Erbe und ihre Geschichte aufgenommen, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte eine geteilte Nachkriegsgeschichte war – in der beide Teile nicht wirklich verstanden werden können ohne ihren Bezug auf den jeweils anderen. Das gilt bis heute leider weitgehend auch auf kirchlicher Ebene.
Die Erfahrungen der Kirche in der DDR – und dazu gehört das Sprachenkonvikt! – gehören zur Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und damit auch in die Verantwortung der gesamten Evangelischen Kirche Deutschlands, der EKD. Weit früher als im Westen haben die Kirchen in der DDR die Erfahrung gemacht, in der Gesellschaft zu einer Minderheit geworden zu sein. Die Auseinandersetzung mit Atheismus und Säkularisierung gehörte zu ihren Lebensbedingungen. So ist es kein Zufall, dass die Auseinandersetzung mit Dietrich Bonhoeffer am Sprachenkonvikt eine wichtige Rolle gespielt hat.
Der Bund der evangelischen Kirchen und die landeskirchliche Union evangelischer Kirchen (EKU) haben in verschiedenen Hinsichten versucht, sich diesen Herausforderungen zu stellen und ihnen zu begegnen, etwa durch neue Ausbildungsformen und neue Aufgabenverteilungen in der kirchlichen Mitarbeiterschaft. Könnte es nicht sein, dass es hier etwas zu entdecken gibt, das vielleicht auch für die Zukunft der Kirche in Deutschland von Bedeutung ist?
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Die Geschichte des Sprachenkonvikts als Ort geistiger Freiheit und christlicher Existenz im atheistischen Umfeld wahrzunehmen, gehört zu dieser Aufgabe, und ich bin froh, dass das Theologische Konvikt in der ehemals Ostberliner Borsigstraße hierfür zu einem Vorbild geworden ist. Gewissermaßen war dies durch die Prägungen derer, die hier wohnten und studierten, eine der Keimzellen besonnenen politischen Engagements in der DDR, ohne die deren Demokratisierung 1989/90 wahrscheinlich ganz anders verlaufen wäre.
QuellentextEine Schule der Freiheit. Von Wolf Krötke.
"...Mir hat immer vor Augen gestanden, dass wir die, die wir für ein Pfarramt in der DDR ausbildeten, in einen schwierigen, ja anfechtenden Beruf hinaus schickten. Denn die DDR hat – „Kirche im Sozialismus“ hin und her – niemals aufgehört, unserer Kirche schwer zuzusetzen und die Gemeinden gezielt und systematisch zu dezimieren. Ganze Berufsgruppen wurden genötigt, aus der Kirche auszutreten. Wer Pfarrerin und Pfarrer wurde, musste lernen, mit Anfeindungen und Misserfolgen zu leben. Er musste ertragen können, dass die Kinder durch den Ausschluss von der Oberschule diskriminiert wurden. Er hatte sich damit abfinden, sozial auf sehr schwachen Füßen zu stehen. Um sich von dieser unabsehbaren Situation durch die Jahre hindurch nicht gefangen nehmen zu lassen und schließlich zu resignieren, bedurfte es eines freien Verhältnisses zu sich selbst, zu der eine theologische Existenz mit ihrem lebendigen geistigen Horizont Wesentliches beizutragen hat.
Weil es um diese Freiheit ging, darf man sich das Studieren und Leben am Sprachenkonvikt auch beileibe nicht wie ein verbiestertes Eingraben in die Theologie inmitten einer mit Macht ausgerüsteten Umgebung vorstellen, die das Kollegium und die Studierenden als Zentrum „reaktionärer Kräfte und feindlicher Ideologie“ geortet hatte. Trotz aller Angst und aller Feigheit, die es auch gegeben hat, und trotz wirklich schlimmer Erfahrungen ist uns das Lachen niemals vergangen. Meine Erinnerung an das Sprachenkonvikt ist auch ein „zwitscherndes Vogelnest“ von Geschichten voller Lachen mit ganz freien Menschen unter den Kollegen und Studierenden und einer unbeschwerten Fröhlichkeit, die ich später an der Universität in dieser Weise nicht wieder erlebt habe.
Nach Hegel ist die Komödie ja ein Kunstwerk, das den Niedergang einer Gesellschaft durch ihr Verlachen ankündigt. Daran ist im Blick auf die Alltagskomödien in der DDR, die in besonderen Witzen ihren Ausdruck fanden, sicherlich viel Wahres. Es ist kein Zufall, dass dergleichen Witze mit dem Ende der DDR aufgehört haben. Aber als das Lachen, das sie auslösten, noch heraus platzte, war es ein Ereignis der Freiheit. Ich erinnere mich an einen Vormittag, da war der Hof des Sprachenkonvikts erfüllt von großem Gekicher und Gelächter. Es war der 4. November 1989. Da wurden von einer großen Studentenzahl spritzige und witzige Plakate und Transparente gemalt, um mit ihnen auf den Alexanderplatz zu ziehen. Es war ein Zug, der sich in den Herbsttagen dieses Jahres in eine Vielzahl von schon länger andauernden politischen Aktionen mancherlei Art am Sprachenkonvikt einreihte. Auch das gehörte zur „selbständigen Theologenausbildung“ an dieser besonderen Kirchlichen Hochschule in der DDR.
In der Öffentlichkeit sind die Impulse, die von hier für eine demokratische Erneuerung der DDR-Gesellschaft ausgegangen sind, heute häufig vor allem von Interesse. So ist in der Erinnerung an den Mauerfall vor Jahren sogar der Vorschlag gemacht worden, in der Borsigstraße eine Erinnerungsstätte an „Opposition und Widerstand in der DDR“ einzurichten. Doch die eigentliche Bedeutung der von der Kirche verantworteten Hochschulausbildung in der DDR ist auf einer anderen Ebene zu suchen. Einrichtungen wie das Sprachenkonvikt haben dafür gesorgt, dass in der DDR-Zeit Theologinnen und Theologen in die Pfarrämter kamen, die wesentlich dazu beigetragen haben, den Kirchen in der DDR ihre ureigenste Freiheit zu erhalten."
Wolf Krötke, 2010
Fußnoten
Aus: Wolf Krötke, Das Profil des Berliner Sprachenkonvikts für die selbständige Theologenausbildung in der DDR, Vortragsmanuskript 2010. Der im Juni 2023 verstorbene Berliner Theologe Wolf Krötke war von 1973 bis 1991 Dozent für Systematische Theologie am Sprachenkonvikt. Dessen Bedeutung für ihn selbst beschrieb er so: „Ich habe mich als Dozent des Kirchlichen Lehramtes am Sprachenkonvikt als ein freier Mensch in der DDR gefühlt.“ (Vgl. auch https://www.theologischeskonvikt.de/willkommen/konvikt-wuerdigt-wolf-kroetke-1938-2023.html, letzter Zugriff 15.10.2023).
Zitierweise: Markus Meckel, "Eine Keimzelle politischen Engagements. Das Sprachenkonvikt der Evangelischen Kirche in Ostberlin als Ort geistiger Freiheit", in: Deutschland Archiv, 25.10.2023, Link: www.bpb.de/542063. Alle Beiträge auf www.deutschlandarchiv.de sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Theologe Markus Meckel aus Brandenburg war Mitinitiator der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR 1989 und wurde nach der ersten freien Wahl vom 18. März 1990 vom 12. April bis zum 20. August 1990 Außenminister der DDR in der Großen Koalition. Bis 2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an und leitete von 2013 bis 2016 den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.. Von 1992 bis 1994 war er Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der von ihm initiierten Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Im März 2020 erschien sein Buch über den Prozess der deutschen Einheit "Zu wandeln die Zeiten" in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.