"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt keinen Dritten Weg"
Wie die SED im Jahr 1965 beschloss, die Realität abzuschaffen und darüber ihren Nachwuchs verlor
Michael Lühmann
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Michael Lühmann über die Folgen des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED vom 15. bis 18. Dezember 1965 für die Kulturpolitik der DDR
Kahlschlag. Kaum ein Wort vermag das Jahr 1965 in der DDR besser zu beschreiben als jenes aus der Forstwirtschaft, welches laut Duden das Fällen sämtlicher Bäume auf einer bestimmten Fläche bezeichnet. Übertragen auf die DDR des Jahres 1965 lässt sich die bestimmte Fläche übersetzen als das Gebiet der Kulturpolitik, welche nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees (ZK) der SED vom 15. bis 18. Dezember kaum mehr wiederzuerkennen war. Die jüngeren und älteren Schösslinge sozialistischer Moderne, die sich nach dem Mauerbau 1961 erst zaghaft und dann immer deutlicher in den doch unteilbaren Himmel reckten und 1964 ein letztes Blütejahr erlebten, sie wurden 1965 nahezu sämtlich gefällt. Die sich um eine eigene innere Haltung zum real-existierenden Sozialismus bemühenden Pfade nach Utopia, sie wurden planiert vom sozialistischen "Strafgericht über die Moderne", die "Plenumsdruckwelle" hinterließ für lange Jahre eine Kulturlandschaft, deren optische Entsprechung die nahezu toten Waldhänge des deutsch-tschechischen Grenzgebietes in den achtziger Jahren am besten illustrieren vermögen.
Die "Hausherren von morgen"
Dabei schien 1965 noch offen zu sein, so Gunnar Decker in seinem Panorama des Jahres 1965 unter dem Titel "Der kurze Sommer der DDR", "wohin die Reise geht." Zumindest an der Oberfläche war nur bedingt zu spüren, dass am Ende dieses "Schicksalsjahres" der DDR das Experiment eines anderen, sozialistischen Deutschland (doch) nicht von den "Hausherren von morgen", den heranwachsenden ersten Kindern der DDR gestaltet werden sollte, dass dieses andere, sozialistische Deutschland aber auch nicht von allzu avantgardistischen, in den Worten Erich Honeckers, "skeptizistischen" Künstlern, Literaten, Bildhauern, Sängern, Regisseuren moduliert oder gar verhandelt werden sollte, sondern dass allein die Partei um den richtigen Weg wisse und deshalb am Ende des Jahres die Führungsrolle unmissverständlich und unverhandelbar wieder an sich riss. Zwar errang die Staats- und Parteiführung in einer konzertierten Aktion an der Oberfläche tatsächlich wieder die Deutungshoheit über Kunst und Kultur, über die Jugend und den von ihr zu wählenden Takt, aber der Preis war ein unvergleichlich hoher. Denn das 11. Plenum, ursprünglich als Abrechnung mit den Wirtschaftsreformen Ulbrichts geplant, brachte nicht nur Literaten und Künstler auf Distanz, zwang nicht nur die Deutsche Film AG (DEFA) zur künstlerischen Offenbarung, es brachte letztendlich jene Wohlgesonnenen auf Distanz, die doch eigentlich nicht abgeneigt waren, die DDR als Alternative zum bundesrepublikanischen Weg mitzuentwickeln, oder dieser Entwicklung wenigstens neutral gegenüberzustehen. Und die DDR verlor, nicht zuletzt, einen beträchtlichen Teil ihres Nachwuchses, jene vermeintlichen "Hausherren von morgen".
Jene Hausherren von morgen wie Wolfgang Wülff, der Ich-Erzähler aus Erich Loests Roman "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene". Wülff, Jahrgang 1949, und damit also eines jener ersten Kinder der DDR, in denen Loest in den siebziger Jahren nur mehr jene Generation erblickte, die von ihrer Zukunft jenseits geringer Wohlfahrtsstaatlichkeit nicht mehr allzu viel erwarten zu haben schien. Doch im Frühjahr 1965 war dies – zumindest an der Oberfläche – noch ganz anders, die Zeichen standen noch weitgehend auf Liberalisierung. Die VEB Deutsche Schallplatten veröffentlichte eine komplette Lizenz-LP der Beatles sowie zwei weitere LPs mit Titeln einheimischer Bands, BIG BEAT I und BIG BEAT II. Schließlich waren seit dem Jugendkommuniqué von 1963 und im Windschatten des "Deutschlandtreffens 1964" Bands wie Pilze aus dem Boden geschossen. Nach den rauen 1950er Jahren, nach reibungsvollen Jahren des Kampfes gegen den dekadenten Jazz und Rock’n’Roll, entdeckte die SED-Kulturpolitik denn doch noch den "Tanz als einen legitimen Ausdruck von Lebensfreude und Lebenslust", selbst "welchen Takt die Jugend wählt" blieb ihr anfangs überlassen, verbunden mit dem Zusatz: "Hauptsache sie bleibt taktvoll." Beseelt vom Wunsch, nun bald "in beiden deutschen Staaten zündende Schlager aus der DDR mit Texten, die unserem neuen Lebensgefühl entsprechen" geliefert zu bekommen, erteilten die zuständigen Behörden eine Vielzahl an Lizenzen für die sogenannten Laienmusikgruppen. Doch schon die Namen der Gruppen, etwa im Bezirk Leipzig, klangen so ganz und gar nicht nach Schlager und Hauptstadt der DDR, sondern sehr stark nach Beat und deren Hauptstadt Liverpool. "Wir wollten weit weg, in unser ganz eigenes Liverpool", so Klaus Renft, führender Kopf der Leipziger "Butlers" im Rückblick auf jenes Jahr 1965. Auch Wolfgang Wülff träumte von Liverpool, der Heimat der Beatles oder doch wenigstens von "einem Poster mit John Lennon" zwischen all den an die Wand genagelten Zigarettenschachteln, "nur WEST, aus dem Intershop". Und Wülff schwärmte, wie seine Freunde für die Old-Kings-Combo, Erich Loests Chiffrierung der Butlers, die gerade noch vom Neuen Deutschland ob ihrer Fähigkeit gelobt wurde, die Tanzfläche in ein "aufgewühltes Meer" zu verwandeln, auf dem der Rezensent sich ob seiner lang zurückliegenden Tanzausbildung nicht genug seemännisch bewandert sah und doch Freude verspürte, schließlich – und ganz im Sinne des Jugendkommuniqués – sei es "eine andere Generation, die hier tanzt, eine Generation mit einem anderen Rhythmus" und sich dabei "in einem Grenzgebiet mit der sportlichen Gymnastik befindlich" dennoch "ausgesprochen manierlich" verhielt. Jener Rezensent Stern verband diese Eloge mit einer klaren Ansage an die Kritiker der kulturellen Liberalisierung: Sie, die „‚klaren‘ und ‚prinzipiellen‘ Gegner moderner Tanzmusik [stiften] Verwirrung über die Jugendpolitik der Partei." Einer Jugendpolitik, die noch im März 1965 seitens der FDJ protegiert wurde, weil "Inhalt und Form des Gitarrenensemblespiels […] für die Tanzmusik in unserer Republik eine Bereicherung" sei.
"…nach mir hat gefälligst kein DDR-Hund zu schnappen"
Keine Frage, gerade die "Gitarrenensemblespieler" um Klaus Renft waren auf ihrem Höhepunkt angelangt – und doch nur wenige Monate später verboten. Denn die "Gitarrenbewegung" war aus der Sicht der Hardliner um Erich Honecker der Parteiführung und vor allem der FDJ entglitten, zugleich hatte sich auch der Wind "gedreht". Positionen, wie die aus dem Volkspolizeikreisamt Leipzig bereits aus dem März des Jahres 1965, wonach "die jetzige Spielweise der Kapellenmitglieder ein Ausdruck bzw. eine Erscheinungsform der poltisch-ideologischen Diversion" sei, rückten nun wieder in den Vordergrund. Und bald hieß es auch in der Leipziger Volkszeitung wieder ganz vertraut: "Mehrere Gitarrengruppen ahmen mit Vorliebe die Praktiken westlicher ‚Bands‘ nach. Bereits der amerikanisierte Name, den sie sich geben, weist darauf hin, wes Geistes Kind sie sind. […] Sie tragen lange, unordentliche, teilweise sogar vor Schmutz starrende Haare […] gebärden sich bei ihren ‚Darbietungen‘ wie die Affen, stoßen unartikulierte Laute aus, hocken auf dem Boden oder wälzen sich auf ihm herum, verrenken die Gliedmaßen auf unsittliche Art." Die Schlussfolgerung war klar: "Wer die Lust und Freude junger Menschen an Tanz und Musik mißbraucht, der muß damit rechnen, daß er in der sozialistischen Gesellschaft keinerlei Verständnis findet."
Am nächsten Tag erhielten die Butlers ein unbefristetes Spielverbot. Als zehn Tage später vor allem Lehrlinge und junge Arbeiter dann den Aufstand gegen das Verbot wagten, griffen die Einsatzkräfte bei der sogenannten "Beat-Demo" mit aller Härte durch. Dass "ausgerechnet die nachwachsende Arbeiterklasse […] auf die Straße [ging]", war ein Alarmsignal und eine besondere Niederlage für die SED, nachdem sie zumindest für einen kurzen Moment zugelassen hatte, dass die DDR-Jugend nicht ob ihres Musikgeschmacks, der Haarlänge oder der Kleidung sofort in die Ecke des "Nonkonformismus", der "Subversion" oder des "Imperialismus" gestellt wurde. Auch Erich Loests Romanheld Wolfgang Wülff tauchte auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz auf, erblickte dort das erste Mal in seinem Leben einen Wasserwerfer. "Das Lachen ist uns vergangen. Diese Art aufzuräumen ist uns tief zuwider", notiert Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch, eingeleitet von der Feststellung: "Die Zügel werden wieder straffer gezogen… […] Jetzt macht die Jugend Scherereien, Illusionen verfliegen, und den Gammlern geht‘s an die langen Haare." Auch für Loests Romanhelden Wülff verflogen an jenem Herbsttag des Jahres 1965 mit dem Biss eines Hundes der Volkspolizei während der Räumung alle Illusionen. Die ihm in den Mund gelegte Formulierung "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns; es gibt keinen Dritten Weg" ist wohl Loests literarische Entsprechung dessen, was sich wenige Wochen nach dem Beat-Aufstand mit dem Kahlschlag-Plenum manifestierte. Die folgende innere Aufkündigung der ersten Kinder der DDR im Jahr 1965, sie liest sich denn bei Erich Loests Wülff so: "Vor der Schlacht auf dem Leuschnerplatz war für mich die Welt sauber eingeteilt. Der Feind stand im Westen; die Amerikaner bombardierten Vietnam, Kiesinger war Faschist. […] Ich [aber] schmiß kein Napalm, nach mir hat gefälligst kein DDR-Hund zu schnappen."
"Sehr geehrter Herr Höpcke, Sie sind ein Arsch. Gruß – Manfred Krug"
Einen so lautenden Brief muss der Kulturredakteur des Neuen Deutschland, Klaus Höpcke, in Reaktion auf seine Schmähschrift gegen Wolf Biermann Anfang Dezember auf seinem Tisch vorgefunden haben. Es war hernach auch jener impulsive Krug, der in der Verfilmung des Erik-Neutsch-Opus "Spur der Steine" die Rolle des anarchistischen Brigadiers Balla übernommen hatte, der sich so unkonventionell über Plan und Partei, über Autoritäten und Gewissheiten hinwegsetzen konnte, wie es 1964 noch möglich gewesen sein mag, wie es im Frühjahr 1965 schon schwierig vermittelbar war, wie es im Herbst/Winter 1965 kaum noch darstellbar war, der in einer Szene einen Polizisten ins Wasser stößt und für diese Rolleninterpretation die Empörung der SED-Autoritäten auf sich zog. Doch noch ging es öffentlich nicht um jene Krug-Szene in "Spur der Steine", auch nicht um die Darstellung der Partei im gleichen Film. Noch ging es um andere Künstler, andere Bücher, andere Filme. Etwa um Frank Vogels "Denk bloß nicht, ich heule", dessen schrittweise öffentliche Verurteilung, so notiert es Brigitte Reimann in ihrem Tagebuch, bereits eine zunehmende "Progromstimmung" [sic !] aufwies, verbunden mit "Stürmer-Formulierungen".
Der Film "Denk bloß nicht, ich heule" ist einer jener auf dem Plenum verbotenen DEFA-Produktionen des Jahres, der, ursprünglich gelobt, schon im Vorfeld des Plenums immer wieder umgearbeitet werden musste, in "Testvorführungen" verrissen wurde. Mit der Geschichte des von der Oberschule verwiesenen achtzehnjährigen Oberschülers Peter Naumann, der inner- und außerhalb der Schule so etwas wie ein "Leben in Wahrheit" zu führen versuchte, der Sätze sagte wie "Ich lebe hier schon immer, und hier ist Sozialismus. Warum bin ich keiner?", scheitern Regisseur Frank Vogel und die Autoren Manfred Freitag und Joachim Nestler im Prinzip schon im Vorfeld des Plenums. Auf dem Plenum selbst wird den Autoren des Films von Horst Schumann, zu diesem Zeitpunkt Erster Sekretär der FDJ, das "Todesurteil" übermittelt, so die Autoren im Blick zurück. Originalton Schumann: "Da ist zum Beispiel der Film DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE. Wir Genossen im Sekretariat des Zentralrates haben uns diesen Film angesehen. Es ist ein Film gegen uns, gegen unsere Partei, gegen unsere Republik und gegen unsere Jugend."
Abseits dessen lieferte indes die Abrechnung mit Biermann den eigentlichen Auftakt zum 11. Plenum. Klaus Höpcke hatte am 5. Dezember 1965, schon ganz in Vorbereitung auf den folgenden kulturellen Kahlschlag und in Reaktion auf die Veröffentlichung von Biermanns Drahtharfe im West-Berliner Verlag von Klaus Wagenbach "einen Kübel Schmutz […] über Biermann ausgeschüttet", so Frank Beyer rückblickend während Brigitte Reimann am 7. Dezember notierte: "hier tobt das Kommando: ‚Fertigmachen den Mann!‘". Biermann sollte nicht der letzte und nicht der einzige sein, der quasi als Ouvertüre des Kahlschlag-Plenums, stellvertretend denunziert wurde. Aber der Tonfall Höpckes war es, der Reimann vermerken ließ, dass die Kurve der Auseinandersetzungen wieder steigt, dass "jeden Tag was Neues" käme: "Offene Briefe an Biermann, an Manfred Krug, der B[iermann]s Lyrik verteidigt hat." Schließlich hatte Krug nicht nur den ebenso scharfen wie kurzen Brief an Höpcke verfasst, sondern in einem Radiointerview Biermann verteidigt. Jenen Biermann, dessen Prolog am Anfang des Films Spur der Steine stehen sollte, jenen Biermann, dessen "Ballade vom Briefträger William L. Moore aus Baltimore" Manfred Krug im Rahmen der Reihe "Lyrik – Jazz –Prosa" vortrug, und welche Höpcke ursprünglich ausdrücklich gelobt hatte und die Krug in der aufgeheizten Stimmung am Jahresende 1965 dann doch nicht mehr vortragen sollte.
Längst ging es nicht mehr allein um Biermanns "Drahtharfe", nicht mehr nur um Bräunigs "Rummelplatz", nicht allen um Kurt Mätzigs "Das Kaninchen bin ich" oder Frank Vogels "Denk bloß nicht, ich heule", sondern ganz generell um die Rolle der Kunst im Verhältnis zur Partei, an dessen Ende nur Verlierer standen, an dessen Ende sich Literaten, Künstler und Filmschaffende erstmals, manche bereits endgültig, vom Experiment des Sozialismus verabschiedeten, von diesem desillusioniert abwendeten, wie es Loests Wülff auch getan hatte. Stellvertretend für andere Manfred Krug, der die DDR indes auch physisch verließ, nachdem diese Biermann 1976 vor die Tür gesetzt hatte: "Es war eine große Zeit. Man hatte wirklich den Eindruck es findet ein großer Versuch statt. [Aber] sehr viel von dem, was möglich gewesen wäre, zu entwickeln ist verspielt worden und sehr viel, fast alles von dem Elan, der damals vorlag, scheint mit zertrümmert zu sein. […] Der erste Hammer damals war das 11. Plenum […]."
"Das Plenum hat entschieden, die Realität wird abgeschafft."
So lautete der lakonische Einstiegskommentar zu dem Eintrag Christa Wolfs zu jenem 11. Plenum in ihr Tagebuch, welches sie 1965, im Angesicht der rigorosen und radikalen Tragweite und Endgültigkeit des Plenums-Furors zunächst als "die einzige Kunstform, in der man noch ehrlich bleiben […] kann" ausgab. Dabei war es jene Ehrlichkeit, die Wolf auf dem 11. Plenum mit ihrem Widerspruch wie keine Zweite zum Ausdruck gebracht hatte und die mit den hoffnungsvollen Worten schloss: "Ich finde, unsere einzige Aufgabe ist in der nächsten Zeit, daß wir durch gute Bücher zeigen, durch Filme usw., daß unsere Gesellschaftsordnung, unsere Weltanschauung es ist, die den Schriftstellern die größten und tiefsten Einblicke in die Gesellschaft gibt. Damit haben wir schon begonnen, und auf diesem Weg sollten wir weitergehen." Dazu sollte es bekanntermaßen nicht mehr kommen. Und so sollte für Christa Wolf das Jahr 1965 zur "Wasserscheide" werden, zu einem Jahr der Desillusionierung, dem weitere Desillusionierungen folgten – die Niederschlagung des für sie so hoffnungsverheißenden Prager Frühlings 1968 etwa oder die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 mit dem darauf folgenden Nachspiel. "Ein Vorhang ist hinter mir gefallen. Ein Zurück in das Land vor diesem Vorhang, ein harmloses Land, gibt es nicht mehr" notierte Wolf in ihr Tagebuch, woraus ihr Biograf Jörg Magenau die Schlussfolgerung zog: "Der Glaube, dass die sozialistische Gesellschaft notwendig zur Selbstverwirklichung des Menschen führen würde, ist nach dem 11. Plenum mit der offiziellen Politik nicht länger in Übereinstimmung zu bringen." Magenaus Urteil bestätigte Wolf, im Blick zurück, weitgehend. Und sie teilte dabei sowohl Anspruch als auch die Desillusionierungserfahrungen des Jahres 1965, das bessere Deutschland vorbehaltlos weiter mit aufzubauen, mit den bisher beschriebenen Personenkreisen: "Wir wollten die sozialistischen Ansätze so weit stärken, daß die DDR auch geistig ‚konkurrenzfähig‘ werden konnte. Und wir sahen uns mit Leuten in der Wirtschaft, in der Wissenschaft verbündet, die in die gleiche Richtung dachten und arbeiteten." Soweit die Ambitionen, die Christa Wolf in Ihrer Rede vor dem Plenum zum Ausdruck bringen wollte. Nach der Rede ging sie hinaus, begleitet von Anna Seghers, die ihr eine Wette anbot: "In einem Jahr ist ‚das‘ vorbei. Da habe ich gesagt: Nein, keinesfalls." Christa Wolf sollte Recht behalten, mit Anna Seghers sprach sie hingegen "nie wieder darüber."
Wie das sozialistische Experiment jegliche Impulse verlor…
Durchgesetzt hatte sich hingegen Erich Honecker, der auf dem 11. Plenum nochmals klargestellt hatte, dass nicht die "Schriftsteller und Wissenschaftler zur Führung der neuen Gesellschaft berufen seien", sondern allein die SED. So war es nur zwangsläufig, dass infolge der Beschlüsse des 11. Plenums des ZK der SED nahezu die gesamte Jahresfilmproduktion der DEFA verboten und Buchmanuskripte eingestampft wurden; Theaterstücke ebenso abgesetzt wurden wie Radio- und Fernsehsendungen. In letzter Konsequenz folgten schließlich auch Berufs- und Auftrittsverbote. Auf dem 11. Plenum wurde zwar nicht zum ersten Mal politisch in Kunst und Kultur eingegriffen. Neu aber war "der konzentrierte und exakt vorbereitete Angriff auf ganzer Linie. Diesmal handelte es sich nicht um isolierte Kampagnen, sondern um die gebündelte Konfrontation von Geist und Macht." "Es galt", so Wolfgang Engler weiter, "die Moderne von oben [die Rationalisierung von Wirtschaft und Verwaltung, die auf dem 11. Plenum einer korrigierenden Revision unterzogen wurde, M.L.] ein für allemal von dem störenden Dazwischenfunken einer Moderne von unten zu befreien."
Und so verlor die sozialistische Moderne schon 1965 jene Impulse, die sie so dringend benötigt hätte, jene positiv-kritischen Verhandlungen, die Künstler und Intellektuelle wie Christa Wolf, Frank Beyer, Kurt Mätzig, Wolf Biermann zu liefern bereit waren, die publikumsnahe Künstler wie etwa Manfred Krug noch vor 1965 übersetzten, die die ersten Kinder der DDR wie Loests Wolfgang Wülff bis 1965 noch bereit gewesen wären – gemeinsam – mitzutragen. Gerade jene ersten Kinder der DDR, denen Loest ein literarisches Denkmal gesetzt hat, sie verweigerten sich auf lange Sicht der Idee eines besseren Deutschland. Und so verlor die DDR mit dem Kahlschlagplenum nicht zuletzt die notwendige wirtschaftliche Reformkraft um dieses Experiment einer sozialistischen Moderne auf solide Füße zu stellen. Die Pfade nach Utopia, welche die DDR nach dem Mauerbau betreten wollte, sie wurden weggeschwemmt vom "kulturpolitisches Gewitter, das einen frostigen Dauerregen nach sich zog" und hinterließen eine gerodete Fläche, auf der Systemloyalität - gar der Glaube an einen anderen, besseren Sozialismus - nicht mehr gedeihen konnte und die in den siebziger Jahren nur noch durch die ruinöse Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik aufrechtzuerhalten war.
…und darüber auch den kritischen Rückhalt ganzer Generationen
Auch wenn die Systemloyalität in dieser Generation, nicht zuletzt durch die ab den 1970er Jahren versuchte, und über einige Jahre auch erfolgreiche, Befriedung der Bevölkerung durch die Nachahmung westlicher Konsumbefriedigung, stieg, so fällt doch für jene "erste FDJ-Generation", folgt man deren Karrierewegen, eine deutliche Diskrepanz zwischen Aufstieg in und Ausstieg aus der DDR-Gesellschaft auf. Sie schaffte nicht mehr den Aufstieg innerhalb der DDR, konnte nur extrem unterproportional hohe Führungspersönlichkeiten stellen, aber deutlich überproportional viele Oppositionelle. Sucht man prominente Köpfe dieser Generation im "Wer war Wer in der DDR", so findet man Systemgegner, Kulturschaffende oder Sportlerinnen und Sportler. Karrieren als hauptamtliche Mitarbeiter des MfS oder als Parteifunktionäre blieben hingegen eine Ausnahme. "Wäre 1964 die – durchaus mögliche – Vorgeschichte einer Demokratisierung der DDR gewesen, wie von Havemann formuliert, wie von Biermann besungen, wie von den Literaten, Bildhauern und Filmemachern des Jahres 1964 thematisiert, es wäre das Projekt dieser Generation gewesen." Aber 1965 wurde dieses Projekt jäh abgebrochen und die DDR verlor auf lange Sicht, hier stellvertretend vorgestellt, all jene Generationen, die der alten "KZ-Generation" um die Parteiführung hätten folgen können, jene "Aufbau-Generation", die wie keine andere anfänglich versucht hatte, die DDR intellektuell und literarisch zu begründen und zu fundieren, jene ihr folgende "Zwischengeneration", die vor allem als Künstlerinnen und Künstler den Transfer in die Bevölkerung vollziehen sollten und eben jene erste "FDJ-Generation", jene um 1949 geborenen Kinder der DDR, die im Wesentlichen in der "Revolution der Vierzigjährigen" (Stefan Wolle) als 68er des Ostens den Kern der Revolution von 1989 bildeten.
Die beschriebenen Protagonisten zogen sich langsam aus dem politischen Kampf für den Sozialismus zurück, veränderten ihre Rollen, ihre Themen, ihren Stil zu schreiben, drehten andere Filme und trafen sich dann doch größtenteils an einem Punkt wieder, der offensichtlich machte, das jene Zeit vor 1965 nie wiederkehren würde, dass der Kampf der SED gegen die Kulturschaffenden trotz immer wiederkehrender Zeitfenster des leichten Tauwetters endgültig entschieden war: im Jahr 1976, jenem Jahr, in dem die DDR Biermann ausbürgerte und sich die gemaßregelten Protagonisten von 1965 noch einmal trafen, als Unterzeichnende des offenen Briefes gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns – Christa Wolf, Manfred Krug, Frank Beyer und viele andere. 13 Jahre später brach die DDR zusammen. Wolfgang Wülff, jener eigentliche Prototyp des "Hausherren von morgen" wird es, nach langen Jahren des Rückzugs ins Private, begrüßt haben.
Zitierweise: Michael Lühmann, "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt keinen Dritten Weg", in: Deutschland Archiv, 7.12.2015, Link: www.bpb.de/216974
Michael Lühmann
M.A.; geb.1980, Studium der Politikwissenschaften und Mittleren und Neueren Geschichte an den Universitäten Leipzig und Göttingen; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Redakteur der Zeitschrift INDES; derzeit arbeitet Lühmann an einer Dissertation über die Grünen nach Joschka Fischer; weitere Arbeitsschwerpunkte sind das spannungsreiche Verhältnis von Ökologie und Moderne, deutsch-deutsche Generationengeschichte und ganz besonders die Geschichte der DDR.