Die innere Einheit
Ein Lehrstück aus dem ZDF nach dem Mauerfall. Eine persönliche Betrachtung von Wolfgang Herles
Wolfgang Herles
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Ging 1990 Patriotismus vor Journalismus? Und hat ein Hauptstadtstudioleiter das Recht auf eine eigene Meinung? Der ehemalige ZDF-Journalist Wolfgang Herles schildert in einem Buch, wie sehr im Zuge der Wiedervereinigung kritische Positionen zu Vorgehen und Tempo des Einheitsprozesses in seinem Sender auf Widerstände stießen. Aus seiner Sicht geschah das auch auf Druck des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl auf den seinerzeitigen ZDF-Intendanten. Nachfolgend Ausschnitte aus Herles‘ Diskussionsbeitrag.
I. Skepsis als Beruf
Es geht in diesem Beitrag nicht um die Abwicklung des DDR-Fernsehens, sondern um die Abwicklung journalistischer Grundsätze im Westen unter dem Vorwand, damit der »inneren Einheit zu dienen. So, wie ich das erlebt habe. Mein Erfahrungsbericht handelt von den Mechanismen des Niedergangs journalistischer Kultur. Die Erinnerung daran wäre nicht viel wert, ginge es nicht um die Deformation, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus meiner Sicht seither in eine existentielle Krise geführt hat. Ohne das Wissen um deren Ursachen ist Reform nicht möglich. Also handelt es sich aus meiner Sicht um ein Lehrstück auch im Umgang mit Andersdenkenden als Abweichler. Denn auch den Andersdenkenden eine Stimme zu geben, ist der wichtigste Auftrag der Medien in einer freien Gesellschaft (...).
II. Der Anschluss
Auch nach dem Fall der Berliner Mauer galten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen plötzlich nicht mehr die Maßstäbe unabhängiger Berichterstattung – auf die man in der Systemkonkurrenz zur DDR zuvor doch so stolz gewesen war. Es galt nur noch der vermeintlich patriotische Konsens.
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Welch ein Paradox: Während sich die DDR quasi auf Kommando zur offenen Gesellschaft wandeln sollte, wurde im Westen die Offenheit des Diskurses suspendiert. Alternativen zum schnellstmöglichen Beitritt der DDR sollten nicht einmal diskutiert werden dürfen. Kritik an der Beitrittspolitik war unerwünscht. Alles galt nur noch einem einzigen Ziel: der schnellstmöglichen »Wiedervereinigung« der Brüder und Schwestern hüben und drüben. Umarmung statt vorsichtige Annäherung. Es war nicht opportun, darauf hinzuweisen, dass das Umarmen mit Erdrücken enden könnte.
Damit begann die Krise des politischen Journalismus in Westdeutschland. Jedenfalls habe ich diesen Kollateralschaden der »friedlichen Revolution« so erlebt. Die historische Zäsur beobachtete ich damals buchstäblich aus nächster Nähe im Schatten des »Kanzlers der Einheit«, Helmut Kohl. Mich dort aufzuhalten war mein Job als Leiter des Bonner ZDF-Studios, Bonn war damals noch Sitz von Bundestag und Bundesregierung. Heute würde man dazu Hauptstadtstudio sagen. Aber in jenen goldenen Jahren der Bonner Republik gab es keine "Hauptstadt", und niemand vermisste sie.
Zu meinem Job ist zu sagen, dass es zwei Aufgaben waren, die sich nicht gut miteinander vereinbaren ließen. Die erste, wichtigere, wie ich in meinem jugendlichen Elan glaubte, bestand darin, die Politik der Regierung zu beobachten, zu beschreiben, einzuordnen und zu kommentieren, sowohl in den täglichen Nachrichtensendungen heute und heute-journal als auch im wöchentlichen Magazin „Bonn direkt“, das ich nach meinem Start in Bonn 1987 entwickelt hatte.
Die andere Aufgabe bestand darin, das ZDF "am Hofe des Herrn" zu vertreten. Mir war das zunächst nicht ganz klar. Mein Intendant, damals Dieter Stolte, den Eindruck musste ich damals gewinnen, hasste Bonn und verachtete in gewisser Weise Kanzler Kohl. Stolte (der am 10.12.2023 im Alter von 89 Jahren verstorben ist, Anm. der Redaktion) hatte scheinbar Angst vor ihm. Ich kann nicht behaupten, dass er mich nicht gewarnt hätte. Seine Ermahnungen waren für meine arglosen Ohren allerdings zu subtil. In meinen Tagebüchern hielt ich den folgenden und noch viele andere Sätze wörtlich fest: »Sie sind übrigens von keiner Partei vorgeschlagen worden.« Ich hielt das für ein Kompliment. Es war aber keines.
Im Klartext hieß das: Sie sind nicht die Regel, Sie stehen unter Verdacht. Am besten überzeugen Sie den Kanzler schnell von ihrer Zuverlässigkeit. Der Intendant fügte hinzu: »Sie sind für das ZDF so wichtig wie der Chefredakteur, nur schlechter bezahlt.« Für meine Zukunft schien also gesorgt. Falls ich das einigermaßen durchstand. Aber dann fiel die Mauer.
Zur Situation: Bundeskanzler Kohl war in diesem Moment noch nicht »Kanzler der Einheit« sondern »Birne«, wie sich damals Kritiker über ihn mokierten. Auch deshalb war Argwohn zu seiner zweiten Natur geworden. Er teilte Personen in seinem Gesichtsfeld offensichtlich in drei Kategorien ein: nützt mir, schadet mir, ist mir egal.
Die Schadet-mir-Schublade war voll von Leuten, die sich von ihm nicht als Servicepersonal benutzen ließen. Für die Nutzt-mir-Schublade vorgesehen, war ich schon vor dem Mauerfall in der Schadet-mir-Schublade gelandet. Kohl verstand nicht, dass sich ein doch eher liberal-konservativer Journalist nicht automatisch von ihm einspannen ließ und auf seine Gunst verzichten zu können glaubte. Das war er nicht gewöhnt. In der Debatte um die Parteinähe von Journalisten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt dieser Gesichtspunkt zu kurz. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Journalist gewisse Grundüberzeugungen teilt oder sich von einer Partei oder einem Politiker instrumentalisieren lässt. Kohl konnte das nicht auseinanderhalten, weil er wie viele Mächtige nicht zwischen sich und der Sache zu unterscheiden vermochte. Und mir wiederum mangelte es grundsätzlich an Verehrungskraft.
Damals im Sommer 1989 hatte Helmut Kohl, nach bald acht Jahren im Amt, regelrecht abgewirtschaftet. Auf dem Bremer Parteitag scheiterte sein Sturz, betrieben von einigen eigenständigen Köpfen in der CDU, wie es sie heute kaum noch gibt: Lothar Späth, Heiner Geißler, Rita Süssmuth, Kurt Biedenkopf, Ernst Albrecht. Als kurz danach die Mauer fiel, begriff der Kanzler sofort: Das war seine Rettung. Die nun rasant einsetzende, von ihm selbst entscheidend betriebene Entwicklung war nicht mehr zu bremsen, Kohl lenkte die Sturzflut der Ereignisse ungeniert auf seine machtpolitischen Mühlen. Er ergriff resolut den Zipfel des Mantels der Geschichte, wie man damals gern formulierte um noch zweimal, für insgesamt weitere acht Jahre, gewählt zu werden (...).
Offiziell geht die Geschichte so: Die Deutschen beider Staaten wünschten sich nichts sehnlicher als die Einheit. Einheit über alles, über alles in einer Welt, die endlich nicht mehr in zwei politische Hemisphären geteilt war. Das Unrecht der Teilung war beendet. Also Ende der Geschichte.
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Darüber hätte sich gut und gern streiten lassen. Aber dieser Streit fand nicht statt. Wer die Sache reflektieren, hinterfragen und wägen, sich gar nach dem Preis der Einheit erkundigen wollte, oder wer grundsätzlich anders dachte, und das waren im Westen nicht wenige, vor allem jüngere Bundesbürger, hielt besser den Mund. Einheitsskeptiker wurden damals schnell als links diffamiert (...).
III. Einheit statt Freiheit
In diesem Umfeld tanzten ich und die Kollegen meiner Redaktion aus der Reihe. Helmut Kohl im unerwarteten Höhenflug konnte erstens nicht begreifen, dass sich ausgerechnet in »seinem« Sender, auch noch im nicht ganz unwichtigen Bonner Studio, jemand erdreistete, die historische Wucht der Ereignisse kühl und kritisch zu betrachten.
Zweitens benötigte das Zweite einen neuen Staatsvertrag, weil absehbar die ostdeutschen Bundesländer hinzukamen. Dies war der medienpolitische Hebel, mit dem Helmut Kohl das ZDF unter Druck setzen konnte. Auch die neuen Bundesländer sollten dem Sender gewogen sein. Inständig bat der Intendant um »Berücksichtigung meiner repräsentativen Pflichten im medienpolitischen Kontext«. Einen Bonner Studioleiter, der sich vor allem als neutraler Berichterstatter und Kommentator verstand, konnte er jetzt nicht brauchen. Er verglich meine Verantwortung mit seiner eigenen. Er dürfe auch nicht alles sagen. Aber ich verstand mich nicht als Funktionär des Senders.
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Drittens befand sich das ganze Land in einem Gefühlsrausch. Nicht nur im Fernsehen, nicht nur im ZDF tobte ein Sturm nationaler Begeisterung, der Journalisten blind machte für Fragwürdigkeiten und Fehler der Vereinigungspolitik. Im ZDF galt außerdem das Mantra: Wir sind die einzige »nationale« Anstalt. Die Tatsache, dass das ZDF anders als die Rundfunkanstalten der einzelnen Länder eine bundesweite, zentrale Anstalt ist, wurde bewusst falsch interpretiert. Die Leitung der Anstalt leitete daraus fälschlich den Auftrag ab, der »nationalen Sache« dienen zu müssen.
Damit gab der Sender seine journalistischen Maßstäbe gewissermaßen an der Garderobe der Geschichte ab. Er wurde zum Propagandisten der sogenannten »inneren Einheit«. So kam es, dass neben der offiziellen, quasi regierungsamtlichen Version der historischen Ereignisse kaum eine andere erlaubt war. Schon gar nicht dem Chefkorrespondenten des staatsnahen Senders ZDF in Bonn (...).
Ein Beispiel: Als Ende 1989 der letzte DDR-Ministerpräsident aus den Reihen der SED, Hans Modrow, in Bonn von der Bundesrepublik die bedingungslose Übernahme sämtlicher DDR-Schulden verlangte, machte ich gegenüber meinem zufällig anwesenden Intendanten eine halbwegs kritische Bemerkung. Ich meinte, so einfach ginge es denn wohl nicht. Seine Antwort blieb mir unvergesslich: »Aber Herr Modrow ist doch ein deutscher Patriot!« Dieser Einwand wischte alle Sachargumente vom Tisch. Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete, lautet ein ukrainisches Sprichwort.
Nicht nur das ZDF, so gut wie alle westdeutschen Medien fielen in dieser entscheidenden Zeit zwischen Mauerfall und Beitritt als kritische Instanz nahezu komplett aus. Nur wenige Kollegen wie der damalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen gaben das später wenigstens zu.
"Es herrschte der Primat der »inneren« Einheit"
Über das Geschehen in den neuen Ländern, über die doch auch negativen Folgen der raschen Währungsunion, sollte nach meiner Wahrnehmung im ZDF nicht mehr mit der nötigen Akribie berichtet werden. Kritik an der Beitrittspolitik war unerwünscht. Das betraf auch die Neuordnung der Medienlandschaft nach der Maxime: Vereinheitlichung statt konkurrierende Vielfalt.
Es herrschte der Primat der »inneren« Einheit. Unterschiedliche Mentalitäten und Erfahrungen im Osten wie im Westen wurden ignoriert und unterschätzt. Es wurde den Bundesrepublikanern im Westen auch abverlangt, endlich einzusehen, dass sie bisher in einem bedauerlichen Rumpfstaat gelebt hatten. Dass die Bonner Republik kein Nationalstaat gewesen war, sollte nun ein Nachteil gewesen sein. Man wollte in der bislang erfolgreichsten Demokratie auf deutschem Boden nur noch ein bloßes Provisorium und Transitorium erkennen, das ebenfalls schnellstmöglich der Einheit geopfert werden sollte. »Verfassungspatrioten« waren nun plötzlich vaterlandslose Gesellen. Zumal wenn sie wie auch ich zu spüren glaubten, dass in gewisser Hinsicht Einheit mit Freiheit verrechnet werden sollte. Diese Tendenz hat sich bis heute fortgesetzt. Der gelenkte und dadurch verdorbene Diskurs bürgerte sich ein (...).
Es ist jedoch nicht Aufgabe von Journalisten, einer Harmoniesucht zu dienen. Ich verstand meine Aufgabe als Bonner Korrespondent grundsätzlich nicht darin, die Zuschauer und Zuschauerinnen von den Vorzügen der politischen Ordnung zu überzeugen. Das sah der Intendant anders. Nach seiner Auffassung unterschied sich meine Arbeit als Studioleiter am Regierungssitz grundsätzlich von der Arbeit der Korrespondenten großer Tages- und Wochenblätter. Im Gegensatz zu diesen sei ich nicht frei in der Beurteilung der Regierung, hätte Rücksicht zu nehmen auf die Interessen meines Senders. Anders als die Kollegen vom Spiegel und von der Süddeutschen Zeitung hätte ich auch die Interessen der Parteien zu berücksichtigen.
Meine Vorstellung von innerer Pressefreiheit war eine andere. Ich glaubte sogar, als Redakteur einer öffentlich-rechtlichen Anstalt wäre ich im Vorteil gegenüber den privatwirtschaftlichen Kollegen. Denn deren Verleger genossen Tendenzschutz, also das Recht, die politische Richtung ihrer Zeitung oder ihres Senders festzulegen und ihre Angestellten darauf zu verpflichten. Das wurde nur deshalb selten zum Problem, weil die sich in der Regel das Medium aussuchten, das zu ihnen passte.
In den den theoretisch überparteilichen, nichtstaatlichen öffentlich-rechtlichen Medien dagegen produzierten Journalisten unterschiedlicher Couleur ein insgesamt ausgewogenes Programm, welches das ganze Meinungsspektrum spiegelte. Es gab rechte und linke Journalisten und solche, die sich überhaupt nicht vorschreiben ließen, was sie zu denken hatten. Die Zusammensetzung der Redaktionen unterschied sich, je nachdem, ob der Sender zu einem schwarz oder rot regierten Land gehörten. Der Bayerische Rundfunk galt als schwarz, WDR und NDR als »Rotfunk«.
Vor der Wende war das Westfernsehen durchaus nicht mustergültig unabhängig. Die Parteien hatten sich ARD und ZDF ungeniert zur Beute gemacht. Trotzdem war die Lage eine andere als heute. Es gab linke und rechte Magazine und Dokumentationen, die provozierten und damit den Diskurs belebten. In den heroischen Zeiten des öffentlich-rechtlichen Monopols wurde zwar weit weniger Programm produziert, doch wesentlich mehr Meinungsvielfalt (...).
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Ganz und gar unpolitischer Opportunismus nahm zu. Stromlinienförmigkeit wurde belohnt. Trotz Quoten- dominanz verzichteten die Parteien keineswegs darauf, ihren Einfluss zu reduzieren. Sie bestimmten nach wie vor Intendanten, Programmdirektoren- und Chefredakteure. Parteinähe stand für Verlässlichkeit und blieb Bedingung für Karrieren.
Die Farbe der jeweiligen Landesregierung entscheidet nach wie vor über die Gewichtung im Proporz. Rundfunk ist Ländersache. Das macht das System zwar aufwendig, garantiert aber wenigstens Konkurrenz und damit ein Mindestmaß Verschiedenheit an Formaten, Themen und Meinungen. Auch das zentralistische ZDF ist eine Anstalt der Länder. Allerdings hat die Bundesregierung im Zweiten eine gewichtiges Wort mitzureden. Der jeweilige rheinland-pfälzische Ministerpräsident sitzt dem mächtigen Verwaltungsrat vor. Es war lange Helmut Kohl, der danach auch als Kanzler das ZDF für »seine« Anstalt hielt, so war mein Eindruck. Im Staatsvertrag des ZDF heißt es aber:
»In den Angeboten des ZDF soll ein objektiver Überblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit vermittelt werden. Die Angebote sollen eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung fördern.«
(...) Damals, im Zeichen der nationalen Euphorie, fing das an. Die Wiedervereinigung war sakrosankt. Auch in dieser Hinsicht gab es keine Parteien, nur noch Deutsche. Das »Glück der Geschichte« durfte nicht in Frage gestellt oder madig gemacht oder sich gar darüber lustig gemacht werden. Schon gar nicht durch das, was der Staatsvertrag »umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit« nannte. Dieses Bild wurde unter allen Umständen schöner gemalt als es war. Deindustrialisierung des Ostens durch die falsche Währungsunion zur falschen Zeit? Kein Thema. Die wahren Kosten der Einheit? Eine Schande, wer die Portokassenlüge des Kanzlers anprangerte. Ja zum Nationalstaat: was denn sonst! Die Bonner Republik? Ein abgeschlossenes Kapitel. Die sozialen, psychischen, materiellen Nebenkosten der Einheit? Ja, es gab eben auch Verlierer, gab es immer. Einstellungsunterschiede zwischen Ost und West? Nur eine Frage der Zeit, dann würden sie verschwinden.
Wehe, wer anders dachte, und das auch noch im ZDF sagte. Das umfassende Bild der deutschen Wirklichkeit war unerwünscht. Und wer darauf bestand, war es auch. Seit dem Fall der Mauer interessierte im ZDF fast nur noch, was sich in diesem Sinne in der DDR abspielte. Man mochte es für ausgleichende Gerechtigkeit halten. Endlich waren die Ostdeutschen nicht mehr nur Gegenstand von Sonntagsreden. Sie waren selbst präsent. Mit Journalismus aber hatte das wenig zu tun.
In einem Aufsatz für eine Publikation des ZDF beklagte ich mich: »Als Reporter vor dem Brandenburger Tor zu stehen, mag mehr Glamour haben, dort zaust einem der Windhauch der Geschichte das Haar. Vor dem Zaun des Kanzleramts zu stehen und zu berichten, bleibt mühsamer, ist aber nicht weniger wichtig als die Jubelberichte von der Revolution in der DDR.«
Der Intendant vertrat dezidiert der Auffassung, in dieser besonderen Zeit sei es unsere besondere Pflicht, im Osten »Signale der Hoffnung« zu verbreiten. Er hielt das für »Idealismus«. Er wollte noch mehr Sendungen über den Osten. Das ZDF dürfe kein »linksrheinischer Sender mehr sein«. Kein Wort davon, dass wir nicht für sechzehn, sondern für fast achtzig Millionen Menschen zu senden hatten. Die Westdeutschen waren mit ihrer Befindlichkeit plötzlich rigoros abgemeldet. Dafür führte die westdeutsche Politik im Osten das Kommando. Sechzig Millionen Westdeutsche wurden nicht gefragt, ob sie wiedervereinigt werden wollten. Denn dieses Ziel stand in der Verfassung. Siebzehn Millionen Ostdeutsche, so sehe ich das, wurden ebenfalls ungefragt mit Beitritt beglückt. Angeblich kannte die friedliche Revolution kein anderes Ziel.
Die aufmüpfigen Regimekritiker, die alles ins Rollen gebracht hatten, waren als politische Kraft schnell an den Rand gedrängt. Von »friedlicher Revolution« wurde nur noch geredet. Die DDR war bankrott, der west- deutsche Regierungschef hatte sie Gorbatschow abgekauft. Dem »Kanzler der Einheit« bedingungslos zu folgen, galt nun als Staatsräson.
Mit Journalismus, wie ich ihn verstehe, hatte das nicht viel zu tun. Als Hilfsorgan der Wiedervereinigung nach Kanzlerart wollte ich mich nicht missbrauchen lassen. Bonn direkt und etliche ZDF-Spezialsendungen, die ich verantwortete und moderierte, wurden bewusst gegen den Überschwang gesetzt. Es gab Streit in den Mainzer Redaktionsleitersitzungen zwischen denen, die forderten, der »Emotionalität der Ereignisse« nachzugeben, und einer kleinen Minderheit, die sich weigerte, die bewährten journalistischen Maßstäbe zu opfern (...).
IV. Bonn direkt
So viele Talkshows, die den öffentlichen Diskurs dominieren, gab es damals nicht. Umso mehr kam es auf andere Formate an. Auf "Bonn direkt" etwa; als "Berlin direkt" gibt es das wöchentliche Magazin noch immer. Was es nicht mehr gibt, ist der damalige Ton der Sendung. Sie nahm Abstand vom bis dahin üblichen Verlautbarungsjournalismus im Dienste der Regierenden und wagte eine gewisse Spritzigkeit. Sie arbeitete mit Mitteln der Ironie und der Satire, etwa mit Karikaturen. Die systematische Respektlosigkeit kam gut an. Sie war das Markenzeichen des Magazins.
Es dauert nicht lange bis der Intendant mir empfahl, das Lob der Kollegen für weniger bedeutungsvoll zu halten als die Gesprächsbereitschaft der Politiker. Es war eine versteckte Warnung und ein sicherer Hinweis darauf, dass er wegen Bonn direkt unter Druck stand.
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Zwar war nicht zu übersehen, dass sich das neue Format vor allem im Osten und unter jungen Leuten wachsender Beliebtheit erfreute. Bonn direkt erzielte mit 28 Prozent Marktanteil eine der höchsten Einschaltquoten des ZDF in den neuen Bundesländern. Gelegentlich erreichte die Sendung einen größeren Marktanteil als die Hauptnachrichtensendung heute unmittelbar davor. Die Gründe dafür waren eindeutig: Das Magazin widersetzte sich der Euphorie, erzählte »Ossis« wie »Wessis«, dass sie nicht alles glauben sollten, was aus Bonn zu hören war und war sehr direkt, wie es der Titel der Sendung versprach. Die Vermutung lag nahe, dass die zunehmende Attraktivität der Sendung mit ihrem zupackenden Ton und der Respektlosigkeit zu tun hatte. Das steigerte den Argwohn. Die Resonanz beim Publikum war eine ganz und gar andere als im Kanzleram
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Meine Kollegen und ich machten nicht für den Hauskanal des Raumschiffs Bonn Programm, sondern auch für Zuschauer, die an Politik kein gesteigertes Interesse hatten und anders dachten als Fernsehräte. Daraus entstand ein Interessenkonflikt. Der Intendant wollte auch Erfolg beim Publikum, doch zugleich Frieden mit der Politik zum Wohl seiner medienpolitischen Pläne. Beides zugleich konnte er nicht bekommen. Unabhängigkeit und Distanz waren unser journalistisches Kapital, nicht der Pakt mit der Politik. Offenbar entsprechend »informiert«, befürchtete der Intendant auch, dass mir der Zugang zum Kanzler versperrt werden könnte. Seine Sorge war berechtigt. So kam es am Ende auch.
Der Intendant fand, dass das Ansehen der Politiker im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geschützt werden müsste, gerade gegenüber der Jugend. Der Bundeskanzler, so seine Ansicht, sei ein Verfassungsorgan und dürfe deshalb nicht durch Karikaturen verunglimpft werden. Das war zwar eine geradezu obrigkeitsstaatliche Haltung, aber wenigstens von entwaffnender Deutlichkeit. Im Zweifel zählte für ihn nicht die Auffassung des Publikums, sondern die Empfindlichkeit des Kanzlers. Wer Ärger wolle, solle zum Spiegel gehen, empfahl er Volontären des ZDF.
Ich sah und sehe das grundsätzlich anders. Politischer Journalismus gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat die Aufgabe, das Interesse der Zuschauer für Politik zu wecken. Das kann nicht dadurch gelingen, dass sich Moderatoren und Reporter zum Sprachrohr der Politik machen und zur biederen Verbreitung von Regierungspropaganda hergeben.
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Zur Demokratie gehört zweifellos ein gewisses Grundvertrauen der Bürger. Dieses Vertrauen zu stärken, kann aber nicht Aufgabe lammfrommer Medien sein. Im Gegenteil: Das Vertrauen in die Demokratie kommt aus der Zuversicht der Bürger, dass diese Regierungsform zur ständigen Selbstüberprüfung und Korrektur fähig ist. Der Vorzug der Demokratie liegt bekanntlich nicht in Führung der fähigsten Politiker, sondern laut Karl Popper in der friedlichen Ablösung der Unfähigen. Kritische Medien dienen diesem Wechsel. Sie schaden mit ihrer Kritik nicht der Demokratie, sondern allenfalls bestimmten Politikern. Ohne ständige Kritik an den Regierenden ist Demokratie nichts wert (...).
Auf die Vorwürfe gegen "Bonn direkt" antwortete ich in einer Sitzung in Mainz: »Respektlosigkeit ist ein Prinzip der Sendung«. Dieser Satz landete unverzüglich im Bonner Kanzleramt. Die Kritik des Intendanten an den journalistischen Grundsätzen der neuen Sendung nahm beständig zu. Wahrscheinlich hoffte er, mich zu zermürben, denn der Mensch versucht, Ärger instinktiv zu vermeiden. Dieser natürliche Reflex funktionierte bei mir nicht:
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»Die Aufgabe des ZDF, im vereinten Deutschland integrativ zu wirken, darf doch nicht bedeuten, die Probleme des Beitritts zu verharmlosen oder gar zu tabuisieren«, verteidigte ich mich. »So schafft man nur falsche Hoffnungen und neue Probleme.« Aber darum ging es gar nicht. Mit der Parole von der »Vollendung der deutschen Einheit« sollten offensichtlich die Unterschiede zwischen West und Ost verdrängt werden.
V. »Nationalrausch«
»Man sieht Kohl sein Glück auch noch an. Er lässt es sich ungeniert ansehen. Geradezu vergnügt ist er. Begegnet man so der Geschichte? Wo hat er den Schlüssel zur deutschen Frage hingesteckt? Genscher jedenfalls hat den Schlüssel nicht; er steht direkt hinter Kohl im Mittelgang der Luftwaffen-Boeing 707. In der blauen Strickjacke, die der Kanzler in dieser historischen Stunde tragen zu müssen glaubt, kann doch wohl der Schlüssel nicht sein.
Kohls rechte Hand umfasst ein Glas mit gelber Flüssigkeit, die als Krimsekt ausgegeben wird. ›Haben Sie alle was zu trinken‹, fragt der Kanzler. Und dann hebt er an zu goldenen, gleichwohl seltsam gestammelten Worten. ›Also, ich wollt Ihnen nur zutrinken. Ich denke, das ist ein Tag auf einem Rückflug aus Moskau, der uns allen gedenkt. Für mich und hoffentlich für Sie auch ein guter Tag. Auf Deutschland!‹«
Dies ist ein Absatz aus meinem Buch »Nationalrausch. Szenen aus dem gesamtdeutschen Machtkampf«, das im September 1990 erschien. Es enthielt meine Beobachtungen in jener irren, wirren, turbulenten Zeit, in der ich den Kanzler und andere Protagonisten von der »friedlichen Revolution« bis zur Einheit begleitete. Meine Tagebuchnotizen folgten allerdings nicht der anschwellenden Euphorie, sondern konterkarierten sie. Das Buch mündete in der Vorhersage, dass die deutsche Einheit die Nation auf ganz neue Weise teilen werde. Es lehnte die Ereignisse in der DDR keineswegs ab, plädierte aber für einen Prozess, der die Risiken des Beitritts nüchtern wägte.
Das aber wurde als Provokation verstanden und stieß im ZDF auf nahezu geschlossene Ablehnung. Es galt als respektlos, den historischen Moment im Flugzeug am 10. Februar 1990 zurück aus Moskau wie eine Comedy-Szene zu schildern.
Ich war als einziger Fernsehjournalist mit Team an Bord, und der Kanzler gab mir exklusiv ein Interview, in dem er eine neue Verfassung nicht ausschloss. Selbst das Grundgesetz, also das Fundament der Bonner Republik, stand für ihn in diesem Glücksmoment – Gorbatschow hatte gerade der Wiedervereinigung zugestimmt – zur Disposition. »Ich bin dafür, dass das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen vierzig Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.« Daran wollte sich der Kanzler später nicht mehr erinnern. Es war dann nur noch von Beitritt zum Grundgesetz die Rede. Ich hielt in meinem Buch dagegen:
»Hieß es nicht immer Freiheit vor Einheit? Die deutsche Einheit ist Mittel zum Zweck, eines von mehreren möglichen. Der Zweck: Die Menschen in der DDR sollen die gleichen Lebenschancen bekommen wie die Bürger Österreichs, Frankreichs oder der Bundesrepublik. Dazu müsste sich die DDR radikal ändern – aber nicht zwangsläufig aufgeben. Die Verengung dieses nicht einfachen Prozesses auf die staatliche Vereinigung der Nation, das wahnwitzige Tempo, mit dem er sich vollzieht und vollzogen wird, erschweren ihn, statt ihn zu entkrampfen. Das wissen heute alle, die nicht trunken sind von der ›Wiedervereinigung‹ oder beschwipst von ihrer eigenen historischen Mission.«
Ich fügte hinzu: »Die Vereinigung wird die Bundesrepublik nicht nur vergrößern, sondern ihre Gesellschaft fundamental verändern. Die daraus resultierenden Gefahren lassen sich nicht auf materielle Aspekte verkürzen. Der Preis der Einheit ist nicht in Milliarden Mark zu beziffern. Wer sich aber an der Euphorie nicht beteiligt, wird von den Patentoptimisten des Kleinmuts und des Problematisierens beschuldigt. Das geschieht mit wachsender Intoleranz, einem klassischen Symptom des Nationalismus.«
Ich würde das heute genauso formulieren. Wesentlich ausführlicher und deutlicher als auf dem Bildschirm konnte ich solche Überlegungen im Buch ausführen. Der Intendant ließ es sich vom Verlag per Eilboten schicken. Bereits zwei Tage später wollte er mich sprechen. Auf seinem Tisch lag es bereits aufgeschlagen, an einer Stelle so stark unterstrichen, dass die Seiten eingeritzt waren. Sie lautete: »Mit den Menschen in Dresden und Halle fühle ich mich weniger verwandt als mit den Nachbarn in Zürich und Straßburg.«
Darüber regte sich Stolte maßlos auf. Ein Studioleiter ohne Nationalgefühl! Wo gibt’s denn sowas! Er sagte sinngemäß, Straßburg verstünde er ja noch, aber Zürich! (...)
Ich antwortete, dass dort, wo ich zuhause sei, am Bodensee, die nächstgelegene große Stadt eben Zürich heiße, während ich leider noch nie in Dresden gewesen wäre. Aber meine Lebenserfahrung und das bundesrepublikanische Grundgefühl meiner Generation zählten nicht. Ich hätte mich, behauptete der Intendant, »aus dem geistig-kulturellen-geschichtlichen Prozess abgekoppelt und verabschiedet«. Das empfand er als »eine Zumutung mir und dem ZDF gegenüber«. Was in seinen Augen dasselbe war. Meine journalistische Beurteilung der Politik Kohls bezeichnete er als »privatistisch« und beschimpfte sie als »eitel und selbstgerecht«. Dann kam erneut sein zentraler Vorwurf, ich hätte mich zu Pflichten in einer Hierarchie entschieden. Das sollte heißen: Als Studioleiter (Hierarch) durfte ich kein kritischer Journalist sein, jedenfalls nicht in dieser Frage von historischer Bedeutung.
Seine persönliche Betroffenheit und Enttäuschung war nur das eine. Ihn quälte offenbar auch, was er den Politikern antworten sollte, die sich über mich aufregten. Es blieb nicht bei Empörung. Offenbar hatte ich mir mit dem Buch einen Strick gedreht, an dem man mich nun hängen konnte.
Auch der Chefredakteur las das Buch. Auch er konstatierte, es stünde gegen den »allgemeinen Strom, außerhalb der Gemeinschaft«. Ein interessanter Vorwurf. Offenbar hielt er ausdrücklich den »allgemeinen Strom« für die vorgeschriebene Aufenthaltszone für einen Chefkorrespondenten. Das war damals noch neu, jedenfalls mir (...).
Dann rückte der Chefredakteur mit einem weiteren Motiv für seinen vergifteten Vorschlag heraus. Es ginge nicht nur um mich, sondern auch um ihn, um seinen Ruf als reformfreudiger Chefredakteur. Der gehe verloren, wenn sein »Musterschüler« scheiterte. Ich sollte ihm den Gefallen tun, aus eigener Einsicht zu gehen, damit er mich nicht feuern und seinen liberalen Ruf gefährden müsste. »Ich kann Ihnen das Problem nicht ersparen«, antwortete ich. Das ZDF müsste offen sagen, wieviel Meinungsfreiheit möglich sei.
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Genau dies war ja eine These meines Buchs: die Spielräume des gesellschaftlichen Disputs wurden vom grassierenden Nationalrausch gerade eingeschränkt.
Es gab nicht nur das Kohl-Lager. Manche Politiker, die mein Buch gelesen hatten, rieten mir, nicht zu weichen: Bundespräsident von Weizsäcker, der Baden- Württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Heiner Geißler von der CDU, allesamt Gegner Kohls, Oskar Lafontaine von der SPD, Antje Vollmer von den Grünen. Es war keine Frage von rechts oder links. Aber aller Zuspruch sollte mir nichts nützen.
VI. Die Hauptstadtfrage
Anstatt über die wirklich entscheidenden Fragen des Beitritts der DDR zu streiten, entzündete sich der Diskurs ersatzweise besonders heftig an der Wahl der Hauptstadt. Es war die einzige Debatte, die im Zusammenhang mit der Abwicklung eines ganzen Staates und seines Gesellschaftssystems anscheinend offen geführt wurde. Dieser Streit wäre ohnehin nicht zu verhindern gewesen, und er lenkte ab von tieferen ökonomischen, sozialen und politischen Konflikten. Die Entscheidung Berlin oder Bonn ließ sich zudem wunderbar emotionalisieren. Die Gedanken waren allerdings auch hier nicht frei. Offiziell wurde der Fraktionszwang ausgesetzt. Doch mehrere Abgeordnete der CDU berichteten, dass ihnen mit dem Verlust des Mandats gedroht wurde, falls sie für den Verbleib der Regierung in Bonn stimmen sollten.
Die Hauptstadtfrage wurde politisch aufgeladen. »Wenn Sie für Bonn sind, wollen Sie die Einheit nicht!«, schleuderte mir der Berliner SPD-Politiker Wolfgang Thierse ins Gesicht. Das war natürlich Unsinn, aber dieser Unsinn war auch im ZDF quasi offizielle Position. Der Intendant regte sich ja schon darüber auf, dass ich das Bonner Studiofest ironisch unter das Motto »Ja zu Bonn direkt« gestellt hatte. Der Streit wurde im Wesentlichen mit drei Argumenten geführt. Erstens sollte die DDR möglichst geräuschlos an die Bonner Republik angeschlossen werden. Dennoch sollte es unter keinen Umständen wie ein Anschluss aussehen. Um das zu vertuschen, wurde auf Bonn verzichtet und Parlament und Regierung in die einstmals geteilte Stadt im Osten ziehen. Es war im Grunde das einzige Opfer, das Westdeutschland zu leisten bereit war (...).
Das Berliner Revolverblatt Bild und die bildungsbürgerliche Frankfurter Allgemeine stellten mich in Kommentaren als provinziellen Deppen dar. Das wurde auch auf dem Mainzer Lerchenberg mit Interesse gelesen. Der Intendant fauchte mich an: »Sie sind ein Repräsentant dieses Senders!« Das sollte wiederum heißen: Nur, wer für Berlin plädiert, stand auf dem Boden der im ZDF allein zulässigen Meinung. Denn die Hauptstadt Berlin galt als Inbegriff dessen, was für die »Vollendung der Einheit« gehalten wurde.
Das sah dann beispielsweise so aus: Der frühere Chefredakteur Reinhard Appel, ein Berliner, veranstaltete eine Talkrunde zum Thema, lud die beiden Berliner Oberbürgermeister ein und dazu noch fünf Berliner Journalisten. Als ihm die Unausgewogenheit kurz vor der Sendung doch noch auffiel, bat er mich als Feigenblatt dazu. Dummerweise sagte ich zu und kam aus der Nummer nicht mehr heraus. Entweder ging ich unter – oder es kam zum Eklat. Ich entschied mich für Letzteres. Als ich mit den beiden Bürgermeistern aneinandergeriet, ergriff der Moderator für sie Partei und versuchte mich zu bremsen. Ich fuhr ihn, meinen früheren Chef, in der Livesendung an: »Moderieren Sie, oder sind Sie Partei?«
Danach brodelte es im Sender. Der seinerzeitige Chefredakteur, Klaus Bresser, auch er ein Berliner, klagte mich an: »Sie können sich beim ZDF nicht alles erlauben. Lassen Sie es bitte, bitte, nicht zur Zuspitzung kommen!« Auf der Chefetage war zu hören, ich hätte durch mein Auftreten und meine Haltung in der Hauptstadtfrage dem ZDF medienpolitisch geschadet.
Ein einziger Kollege verteidigte mich, Joachim Jauer, Leiter des Magazins Interner Link: Kennzeichen D, fand: »Die eigentliche Provokation ist die Besetzung der Runde gewesen.« Mein »Ausflippen« wurde wochenlang zum Thema. Jahrelang war das Hofieren von Politikern in dieser Sendung üblich gewesen. Gegen diese goldene ZDF-Regel hatte ich verstoßen.
Als die Entscheidung dann äußerst knapp für Berlin gefallen war, hörte ich aus Mainz, ich solle die demokratische Entscheidung endlich akzeptieren. Wenn das eine Regel sein sollte, dürften die Folgen demokratischer Entscheidungen generell nicht mehr reflektiert und hinterfragt werden. Es wäre das Ende des freien Journalismus. Der Intendant wurde in meiner Erinnerung geradezu ordinär laut: »Erbärmlich und verachtenswert« – er wiederholte es dreimal – seien die Abgeordneten, die für »dieses Kaff« gestimmt hätten (...).
Am 20. Februar 1991 traf ein Brief des Intendanten an alle Redaktions- und Studioleiter ein. Es ist ein entwaffnendes Dokument, das es auch heute noch verdient, in voller Länge veröffentlicht zu werden. In seiner vorgetäuschten Objektivität ist es ein Dokument der Zeitgeschichte, symptomatisch für die damalige Stimmung nicht nur im ZDF. Es handelte sich eindeutig nicht um den besorgten Beitrag des Intendanten zur Debatte, sondern um ein dienstliches Schreiben, um eine verbindliche Anweisung, sonst hätte er sich an seine Kolleginnen und Kollegen gewandt. Er aber schrieb:
„Liebe Mitarbeiterinnen, liebe Mitarbeiter, in den vergangenen Monaten habe ich aus dienstlichen Gründen die neuen Bundesländer bereist und dabei viele Gespräche mit Vertretern aus dem Bereich der Politik, aber auch – meist zufallsbedingt – mit einfachen Bürgern geführt. Während in den ersten Wochen die Freude überwog, dass wir wieder in einem Land vereint sind und mit den vor uns liegenden Schwierigkeiten schon gemeinsam fertig werden, begegne ich in letzter Zeit immer häufiger Äußerungen der Enttäuschung, Verärgerung und Resignation. Niemand wird übersehen und bestreiten können, dass es für diesen sich anbahnenden Stimmungswandel Gründe gibt, die sich aus negativen Veränderungen der Lebensumstände ergeben, die die einen schon konkret erfahren haben und die anderen für ihre Zukunft erst befürchten. In einer solchen Situation kommt den Massenmedien – hier vor allem dem Fernsehen – eine besondere Verantwortung zu. Wir können zwar keine unmittelbar anstehenden Probleme lösen, wir können aber durch ein verantwortungsvolles Informationsklima dazu beitragen, dass sich nicht Hoffnungslosigkeit oder Aggression aufbaut und verbreitet. Und zwar in beiden Richtungen!
Was ist notwendig? Ungeschminkte Informationen, emotionslose Analysen, vorurteilsfreie Kommentare. Aber auch positive Erfahrungen und ermutigende Beispiele beziehungsweise Entwicklungen dürfen nicht übersehen und verschwiegen werden. Es reicht nicht aus, objektiv und wahrhaftig zu sein, unsere Programmbeiträge müssen auch einfühlsam und verständnisvoll sein. Das betrifft nicht auch zuletzt die Wahl der Worte.
Die Programme des ZDF genießen bei den Zuschauern in der ehemaligen DDR ein hohes Ansehen. Sie waren insbesondere in der Zeit der Teilung unseres Vaterlandes ein unverzichtbarer Lebensunterhalt. Ich bitte Sie, in der Gegenwart daran zu denken, dass wir auch im geeinten Deutschland eine fortwährende Verpflichtung haben. Ich weiß, dass Sie mein Brief viel- leicht ein wenig pastoral anmutet. Er kommt jedoch aus der Sorge, wir könnten unseren Auftrag verfehlen, die Deutschen in Deutschland zusammen zu bringen. Das war es, was uns der ZDF-Staatsvertrag aufgegeben hatte und was auch über den 3. Oktober 1990 hinaus seine Gültigkeit behält.
Mit freundlichen Grüßen Prof. Dieter Stolte"
Auf den ersten Blick mutete dieses Sendschreiben seltsam hausbacken an. Wozu diese Mahnung? Auch dem Intendanten war aufgefallen, dass sich die Stimmung knapp eineinhalb Jahre nach dem Beitritt der DDR geändert hatte. Das fand er bedenklich, und es war sein gutes Recht, es bedenklich zu finden. Aber musste er das gleich allen leitenden Mitarbeitern so ge spreizt vortragen? Die Zeilen klangen harmlos, aber das waren sie nicht. Denn der Intendant versuchte den Journalisten in seinem Haus eine politische Agenda aufzuoktroyieren. Es war aber nicht Aufgabe eines unabhängigen Mediums, Stimmungen zu beeinflussen – letztlich Propaganda zu betreiben. Dieses hässliche Wort wäre Professor Stolte in diesem Zusammenhang nie in den Sinn gekommen; er nannte es »verantwortungsvolles Informationsklima«. Tat er doch scheinbar nur das, was in Deutschland inzwischen allgemein üblich geworden ist: Er erklärte seine Haltung zur einzig zulässigen Position und zwar aus moralischen Gründen. Er sah deshalb eine Verpflichtung, einen Auftrag darin, das Meinungsklima zu beeinflussen.
Seine Aufforderung an alle leitenden Redakteure war aus meiner Sicht ein klarer Verstoß gegen die Unabhängigkeit des Mediums. Zwar betonte er das Selbstverständliche – ungeschminkt, vorurteilsfrei, emotionslos sollte das ZDF berichten –, um direkt danach das schiere Gegenteil zu fordern.
Noch einmal: »Es reicht nicht aus, objektiv und wahrhaftig zu sein, unsere Programmbeiträge müssen auch einfühlsam und verständnisvoll sein. Das betrifft nicht zuletzt auch die Wahl der Worte.«
Mit einem Wort: Kritischer Journalismus über das, was sich in den neuen Bundesländern abspielte, war nicht gerade das, was er in erster Linie erwartete. Er wollte vielmehr auf seinem Sender klare Bekenntnisse zur Wiedervereinigung sehen. Kritische Berichterstattung aber ist frei von Bekenntnissen. Die Ermahnung war nichts anderes als die Aufforderung, das nationale Hochgefühl als Schere im Kopf einzusetzen. Es war die Aufforderung zur Selbstzensur.
Der Intendant wies nicht nur stolz darauf hin, dass sein Programm im ganzen Land, im Westen wie im Osten, gern gesehen wurde, sondern leitete auch aus der nationalen Verbreitung des Programms einen politischen Auftrag ab. Ein national ausgestrahltes Programm hatte nach seiner Überzeugung der Nation, sprich der nationalen Einheit, zu dienen.
Ich empfinde das Schriftstück auch heute noch als skandalös. Es gab jedoch damals im Kollegenkreis nicht die geringste Debatte darüber, geschweige denn Kritik dieses unverhohlenen Eingriffs in die Pressefreiheit und das journalistische Ethos. Das Maß an Duckmäusertum, das ich wahrgenommen habe, war nicht mehr zu steigern.
Im Hintergrund standen auch handfeste medienpolitische Interessen des ZDF. Der Intendant wusste, weshalb sich der Sender »Ecken und Kanten« gerade nicht leisten konnte. Er stellte fest, eine Ära ginge mit den Beitritt der neuen Länder, es waren jetzt insgesamt sechzehn, zu Ende. Schluss also mit der alten »Konsensmethode«, wie er sie nannte. Diese Zeiten waren medienpolitisch vorbei, das sah er ganz richtig.
Das ZDF hoffte dank Wiedervereinigung künftig wie die ARD auch Hörfunkprogramme veranstalten zu dürfen. Die Hoffnungen scheiterten. Auch darauf beruhte der Vorwurf, ich hätte dem ZDF durch meine journalistische Hartnäckigkeit geschadet (...).
VIII. Die Abmahnung
Die Kosten des Beitritts wurden in der politischen Debatte teils schön geredet, teils verschwiegen. Dies war jedoch die Achillesverse von Helmut Kohls Politik. Selbst der wohl gesonnene Spiegel titelte nun: »Katzenjammer«. Der Stern druckte eine Melkkuh auf’s Cover: »Der Preis der Freiheit«. Nur im Kanzleramt tat man noch immer so, als sei aus der Privatisierung der DDR-Wirtschaft ein sattes Plus zu erwarten.
Für einen Teil der Kosten wurden die Sozialkassen geplündert. Es sollte nur keiner merken, dass sie als Nebenhaushalt, heute sagt man dazu »Sondervermögen«, missbraucht wurden. Noch im Januar 1991 beschloss das Kabinett durch eine Verkürzung des Gebührentakts beim Telefonieren um einige Sekunden, das nötige Kleingeld einzusammeln. Die Regierung verbreitete also die Illusion, der Beitritt sei mit Pfennigbeträgen zu finanzieren. Als Steuererhöhungen nicht mehr zu umgehen waren, musste als Begründung für die neue Solidaritätsabgabe der erste Golfkrieg herhalten. Erst ein paar Jahre später galt der "Soli" offiziell der Finanzierung der deutschen Einheit – und das noch fast drei weitere Jahrzehnte lang. Wer Klarheit und Wahrheit forderte, dem wurde ein Mangel an Patriotismus attestiert.
Von Beginn an kritisierte "Bonn direkt" diese Politik. Der Intendant kritisierte einen Beitrag über die Kosten der Einheit. »Sie erwecken den Eindruck, Kohl werfe mit den Milliarden nur so um sich, um die Einheit zu kaufen.« Aber war es nicht so auch? Kohl tat es, meine Kollegen und ich warfen es ihm vor. Nun spitzte sich der Konflikt zu. Ich zitierte in "Bonn direkt" am 3. März 1991 in diesem Zusammenhang Bertolt Brecht: »Wer die Wahrheit nicht kennt, ist ein Dummkopf, wer sie kennt und verschweigt, ist ein Verbrecher.«
Unter den Zuschauern am Sonntagabend war wie üblich Kanzler Kohl. Er ließ sich meiner Kenntnis nach sofort mit dem Intendanten verbinden. Der zitierte mich sofort nach Mainz, las mir eine Stellungnahme des Justitiars vor und erklärte, »hiermit erteile ich Ihnen eine Rüge. Es ist die absolut letzte Warnung, bei der nächsten Entgleisungist mir der öffentliche Lärm um Ihren Abschuss egal.«
Zwei Tage später erhielt ich nicht etwa die angekündigte Rüge schriftlich, sondern eine hochoffizielle Abmahnung (...). Das Brechtzitat war ein an den Haaren herbei gezerrter Grund. Aber das funktionierte nicht. Das Zitat nämlich war an diesem Tag nicht einmal auf meinem eigenen Mist gewachsen. Vielmehr hatte es der CDU-Politiker Heiner Geißler im Zusammenhang mit der Steuerpolitik der Bundesregierung selbst aufgegriffen. Das war dem Intendanten entgangen.
Es war also Unsinn, das Zitat als »Unwerturteil eines Klassikers für einen Sachverhalt, der erkennbar anders gelagert ist«, und als »grobe journalistische Fehlleistung« zu interpretieren. Ich wollte es jetzt genau wissen und schrieb zurück: »Eine Beschränkung auf direkte, aktuelle Sachverhaltsbezüge würde jedes historische Zitat verbieten und damit eine nicht vertretbare Einschränkung journalistischer Darstellungsformen bedeuten.« Außerdem betonte ich: »Ich sehe es als meine Aufgabe zugunsten des ZDF an den Zuschauern die Gewissheit zu vermitteln, ohne Rücksicht auf die Interessen von Parteien zu berichten und zu kommentieren.« Ich erinnerte meinen Arbeitgeber daran:
»Bonn direkt ist heute die besteingeschaltete politische Magazinsendung des ZDF. Es kann nicht ausbleiben, dass die kritisch begleiteten Parteien und ihre Vertreter diese publizistische Wirkung erkennen und entsprechend sensibel reagieren. Doch auch dies trägt letztlich zur Profilierung des ZDF auch als Informationssender bei«(...).
Auf dieses Argument bekam ich keine Antwort. Die Details dieser mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzung waren im Grunde unbedeutend. Aber sie sind bezeichnend für den politischen Stil jener Tage. Erstens fand keine Debatte statt, wie sie in einem der Demokratie und der offenen Gesellschaft verpflichteten Medium selbstverständlich gewesen sein müsste. Vielmehr wurde eine politische Linie vorgegeben, der sich die Journalisten des Hauses quasi zu unterwerfen hatten, und Verstöße gegen diese Linie wurden von oben abgestraft. Notwendig wäre gewesen, den im Fadenkreuz der Politik stehenden Bonner Studioleiter zu verteidigen; doch das ZDF schlug sich auf die Seite der parteipolitisch motivierten Angreifer, vor allem des Bundeskanzlers. Damit machte es sich zum Instrument der Politik (...).
Und der Kette meiner Verfehlungen wurde in der Mainzer Chefetage ein neues Glied angefügt. Am liebsten hätte man mir alle satirischen Elemente in der Sendung verboten. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits gefeuert worden, nur eben nicht fristlos genug.
IX. Der Abschuss
Das geschah bereits am 20. Juni 1991. Das Datum auf dem Brief aus Mainz war bemerkenswert und womöglich kein Zufall. Just an jenem Tag fiel die Entscheidung des deutschen Bundestags, mit Parlament und Regierung in die alte, neue »Hauptstadt« Berlin zu ziehen. Zwei Tage zuvor schon fuchtelte der Intendant noch mit einem Brief des Justitiars vor meinen Augen herum, der ihm empfahl, meinen Vertrag sofort aufzulösen. Ich sollte mich deshalb diskret und ohne weiteren Schaden anzurichten, auf eine »neue Aufgabe« im Sender »noch vor Auslaufen Ihrer Beauftragung als Bonner Studioleiter« einlassen. Es folgte eine unverhohlene Drohung: »Sollten unsere gemeinsamen Überlegungen nicht in angemessener Frist ein auch realisierbares Ergebnis erkennen lassen, behalte ich mir vor, auf eine schriftliche Würdigung des Vorgangs noch im einzelnen zurückzukommen.«
Ein beinahe schon literarischer Satz. Das Wort »Absetzung« wurde kunstvoll vermieden, es hieß statt dessen »schriftliche Würdigung«. Geräuschlos wäre es dem Intendanten am liebsten gewesen. Sich an mir die Finger schmutzig machen zu müssen, hielt er für »unwürdig«. Das waren die feinen Unterschiede zwischen einer autoritären und einer vermeintlich rechtsstaatlich einwandfreien Säuberung. Ich war bereits gefeuert, sollte aber so tun, als ginge ich freiwillig. Jahre später schrieb der Intendant in seinen Erinnerungen (Dieter Stolte: Mein Leben mit dem ZDF, Berlin 2012, auf S. 134): Herles stand als »erster Journalist des ZDF in Bonn im Widerspruch zur offiziellen Position des Hauses.«
Stolte bestätigte damit, dass es eine "offizielle Position" gegeben hatte, die es niemals hätte geben dürfen. »Ich entband ihn« von der Leitung des Studios Bonn. Denn: »Als Intendant lasse ich mir weder von außerhalb noch von innen auf der Nase herumtanzen.« Mit diesem Satz legte der Intendant Wert auf die Tatsache, dass er mich aus eigenem Antrieb entfernt haben wollte, nicht etwa auf dringendes Anraten des Kanzlers. Im mächtigen Verwaltungsrat gab es allerdings unerwartet Widerstand. Der Intendant legte dem Vernehmen nach die Pistole auf den Tisch und machte meinen Fall zur Vertrauensfrage. Er oder ich. So besteht für mich kein Zweifel, dass er unter enormem Druck des Kanzlers stand. Helmut Kohl brüstete sich später in einem Gespräch mit den Journalisten Heribert Schwan und Tilman Jens, er habe "betrieben, dass er [Herles] verschwindet", so zitierte es der Spiegel 2016 aus einem Tonbandprotokoll. Zwei Mächtige stritten sich darum, wer mich abgesägt hatte.
Mein Fall beziehungsweise Sturz war und ist symptomatisch. Die Zeit brachte meine Todsünde auf den Punkt: »Er erfüllte die mit seinem Unionsticket verbundenen Erwartungen nicht, sondern entpuppte sich als richtiger Journalist« (...). Auch die internationale Presse griff den »High Kick« auf. Ich sei »more independently minded than most German TV-Journalists«, schrieb die britische Financial Times. Der Intendant erregte sich nach meinen Aufzeichnungen auf einer Personalversammlung über »31 Presseartikel« über den Fall, alle gegen ihn. Sorgfältig gesammelt lagen sie vor ihm, doch keine einzige tauchte im Pressespiegel des ZDF auf.
Die Stuttgarter Zeitungzitierte den zynischen Kommentar eines hochrangigen Kanzlerberaters: »Wer an exponierter Stelle in Bonn arbeiten wolle, müsse sich halt mit den Regierenden auf guten Fuß stellen« (...).
Dreißig Jahre später weiß ich, dass mein ungutes Gefühl nicht getrogen hatte. Das Meinungsklima in der Berliner Republik hat sich verändert, verschlechtert. Die demokratischen Spielregeln begannen zu erodieren, langsam, leise, ohne dass jemand dagegen aufmuckte. Aus Erfahrung am empfindlichsten sind in dieser Hinsicht ehemalige Bürger der DDR. Die »Vollendung der Einheit«, die »innere« Einheit oder wie die verstiegenen Erwartungen auch immer lauteten, haben sich nicht erfüllt. Nur 47 Prozent der Westdeutschen, weniger als die Hälfte, und 56 Prozent der Ostdeutschen hielten laut einer repräsentativen Insa-Umfrage von Bild und Welt vom Herbst 2022 die »Wiedervereinigung« für geglückt (...).
Zwei Staaten gingen in derselben Sekunde zu Grunde. Trotz der in mehr als drei Jahrzehnten ausgeprägten Individualisierung in den neuen Bundesländern, sind die Milieus und Mentalitäten noch immer anders verteilt als im Westen. Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Russland und seinen neuen Zaren Putin sind dafür nur ein Beispiel. Viele Medien bilden die deutsch-deutschen Verschiedenheiten nicht hinreichend ab, weil es ihnen ebenfalls an Vielfalt fehlt. Werden Marktwirtschaft und Parteiendemokratie im Osten tatsächlich weniger akzeptiert als im Westen, wie es Umfragen nahe legen? Oder sind im Osten nur Skepsis und Misstrauen größer? Die Debatte darüber dürfte niemals nachlassen. Doch wird sie, wenn überhaupt, nur verschämt geführt und weitgehend verengt auf die Empörung über »Dunkeldeutschland«. Ursache und Wirkung werden sträflich verwechselt.
Zitat
Am »Erfolg« der AfD im Osten haben daher Medien aus meiner Sicht einen gehörigen Anteil, weil sie den Diskurs verweigern. Ausgrenzung allein ist kein Mittel. Konsenssehnsüchte schlagen um ins Gegenteil. Das Resultat wird oftmals stark vergröbernd und vereinfachend »Hass« genannt, auf beiden Seiten. Aber damals fing das an. Als großer Fehler im Wiedervereinigungsprozess erwies sich die Vorstellung, es müsste nur möglichst rasch, am besten von oben verordnet, die »innere Einheit« hergestellt werden, koste es, was es wolle. Einheit wurde im Sinne von Einheitlichkeit definiert und missverstanden. Auf die zunehmenden Einschränkungen der Debatte reagieren viele Ostdeutsche empfindlicher. Diktaturgeschädigt, aber doch nicht demokratieunfähig, schimpfen sie mehr und anders (...).
Medienbuch Herles
Das Buch, aus dem der nebenstehende Text in Ausschnitten entnommen ist: "Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens", Berlin 2023. Im Vorwort schreibt die Publizistin Daniela Dahn: "Auch wenn in diesem Buch davon ausgegangen wird, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Programmauftrag nicht erfüllen, ist es kein Plädoyer zu ihrer Abschaffung, sondern im Gegenteil eine nachdrückliche Abmahnung im Namen der eigentlich anhänglichen Zuschauer".
Das Buch, aus dem der nebenstehende Text in Ausschnitten entnommen ist: "Der aufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens", Berlin 2023. Im Vorwort schreibt die Publizistin Daniela Dahn: "Auch wenn in diesem Buch davon ausgegangen wird, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihren Programmauftrag nicht erfüllen, ist es kein Plädoyer zu ihrer Abschaffung, sondern im Gegenteil eine nachdrückliche Abmahnung im Namen der eigentlich anhänglichen Zuschauer".
So erscheint auch die Verwestlichung der ostdeutschen Medienlandschaft in neuem Licht. Sie hat das Gegenteil dessen bewirkt, was intendiert war. Statt mehr Vielfalt gab es mehr Einheit in Einfalt. Und auch die gegenwärtige Krise der öffentlich-rechtlichen Anstalten steht in diesem Zusammenhang. Durchgesetzt hat sich seit der Wende ein auf Quote getrimmter Populismus. Und in der gegenwärtigen Debatte um Gebühren und Strukturen kommen journalistischer Auftrag und Qualität zu kurz.
Abschließend noch ein paar goldene Sätze zum journalistischen Ethos:
➤ Die Ja-Sager haben im Journalismus den Beruf verfehlt. Wenn das Fernsehen gelegentlich zahm erscheint, liegt es nicht am Druck von außen, sondern am mangelnden Mut und der professionellen Unzulänglichkeit von Journalisten.
➤ Je tiefer man sich bückt, desto besser kann man getreten werden. Wenn man aber Widerständen trotzt, spürt man, dass man mit jedem Widerstehen mehr Freiheit gewinnt und mehr Souveränität.
➤ Ich finde die Larmoyanz, die da in Sendern um sich greift, über den Druck der Politik und über die Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten grässlich. Es besteht kein Anlass zur Weinerlichkeit. Man muss ein- fach machen, kämpfen, sich durchsetzen, sich engagieren.
➤ Die größte Gefahr für den politischen Journalismus ist die Komplizenschaft mit Politikern. Diese Sätze sind nicht von mir, ich machte sie mir aber damals zu eigen, notierte sie, als mein der SPD nahestehender Chefredakteur sie in eine seiner Sonntagsreden einbaute. Er stellte sich meinem Rausschmiss nicht entgegen. Aber seine Merksätze sind nicht zu bestreiten. Sie gefallen mir noch immer.
Zitierweise: Wolfgang Herles, „Die innere Einheit. Ein Lehrstück aus dem ZDF nach dem Mauerfall", in: Deutschland Archiv, 13.12.2023 (aktualisierte Fassung), Link: www.bpb.de/541568. Die Erstveröffentlichung erfolgte in einer ausführlicheren Version im Sommer 2023 im Buch: L.Herden, W.Herles, L.Jochimsen, M.Schmidt, "Der unaufhaltsame Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens", erschienen in der Berliner "edition ost". Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Der TV-Journalist und Publizist Wolfgang Herles (Jahrgang 1950) wuchs in einem katholischen Lehrerhaushalt in Lindau am Bodensee auf, besuchte nach dem Abitur die Deutsche Journalistenschule in München, studierte und promovierte. Ab 1980 arbeitete er als Redakteur für die ARD, 1984 wechselte er zum ZDF. 1991 wurde er als Leiter des ZDF-Studios in Bonn unter anderem wegen Kritik an Kanzler Kohl abberufen. Von 2000 bis 2015 war er Redaktionsleiter und Moderator der ZDF-Kultursendung »aspekte«.