Was riskieren wir?
Julian Nida-Rümelin, Gerd Koenen, Gerald Knaus, im Interview mit Svenja Flaßpöhler über Russlands Ukrainekrieg - und uns.
Svenja Flaßpöhler
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Ein Jahr dauert nun Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine - und die Hilflosigkeit vieler Regierungen, darauf zu reagieren. Auch in Deutschland hält die Debatte über die Folgen dieses Krieges und von Einmischung oder Nichtstun an. Geht es primär darum aktiv zu helfen, in der Ukraine Menschenleben zu retten - oder nur hierzulande das Wohlstandsniveau? Und muss ein Atomkrieg befürchtet werden? Oder drohen weitere Feldzüge gegen Demokratien? Auf dem Philosophie-Festival "phil.cologne 2022" diskutierten darüber drei namhafte Wissenschaftler - der Soziologe Gerald Knaus, der Historiker Gerd Koenen und der Philosoph und Risikoforscher Julian Nida-Rümelin. Die Zeitschrift "Philosophie Magazin“ hat den nachlesenswerten Dialog protokolliert, als ein "Gespräch über Fragen, die unsere Zukunft entscheiden":
Svenja Flaßpöhler: Die Deutschen, so besagt der Ausdruck german angst, sind neurotisch, befürchten immer das Allerschrecklichste. Deshalb seien wir auch bei Kriegseinsätzen zurückhaltend. Für den Philosophen Martin Heidegger ist die Angst etwas ganz anderes: nämlich eine Grundbefindlichkeit, die uns den Weg zur Eigentlichkeit weist und aus dem Konformismus befreit. Halten Sie die Angst in der Situation, in der wir uns seit dem 24. Februar 2022 befinden, für einen guten Ratgeber?
Gerd Koenen: In der Psychoanalyse unterscheidet man neurotische Angst und Realangst. Heidegger ist ein interessantes Beispiel dafür, wie neurotische Ängste die Wahrnehmung deformieren können und man in der Sorge um seine „Eigentlichkeit“ beim Irrealsten und Brutalsten anlangt, hier im Umfeld des Nationalsozialismus. Hitler spielte mit dem hysterischen Grundgefühl vieler Deutscher, die sich durch das Versailler Diktat überfremdet, in ihrer „Eigentlichkeit“ ausgelöscht sahen. Er sprach zum Beispiel von einem „Syphilisfrieden“, was die Ansteckung durch einen fremden, zersetzenden Geist suggerierte, der ausgemerzt werden müsse. In ganz ähnlicher Weise suggeriert Putin heute der russischen Gesellschaft, dass der Zusammenbruch der „im Felde unbesiegten“ Sowjetunion im Jahr 1991 durch fremde, korrumpierende, westliche Kräfte und Einflüsse herbeigeführt worden sei, die es auszumerzen gelte. Einige, darunter ich, haben früh schon von einem „russischen Versailles-Komplex“ gesprochen. Um diese „geopolitische Katastrophe“ rückgängig zu machen, will Putin nun, nachdem er im Innern aufgeräumt hat, die abgesprengten Volks- und Landesteile wieder „heim ins Reich“ führen, neben Weißrussland vor allem die Ukraine, und danach … wer weiß.
Ungewiss, wie weit er gehen wird …?
Koenen: Die Ukrainer, die sich dieser Invasion entgegenstellen, wissen, worum es geht. Wenn sie sich unterwerfen, droht ihnen nicht nur die Vernichtung ihres Staates, ihrer demokratischen Institutionen und Freiheiten. Sondern man will sie „entukrainisieren“, was in perverser Verkehrung mit „Entnazifizierung“ gleichgesetzt wird. Pervers, weil dieses Denken aus deutsch-völkischen Theorien bekannt ist, wie sie im „Generalgouvernement“, in Polen nach 1939 und in der Ukraine nach 1941, umgesetzt wurden. Die Nazis nannten das: „Umvolkung“ – per „Eindeutschung“, Kinderraub, Ausrottung der Eliten und Helotisierung der Masse. Der Kampf der Ukrainer gegen den völkischen Vernichtungskrieg Putins ist ein Beispiel hellsichtiger Realangst. Davon bräuchten wir selbst mehr!
Julian Nida-Rümelin: Im angelsächsischen Raum gibt es neben der german angst noch einen anderen interessanten Begriff: precautionary principle. Das ist eine Übersetzung aus dem Deutschen und meint: Vorsorgeprinzip. Die Risikopraxis in den USA ist noch weit von diesem Prinzip entfernt, findet aber langsam dort Eingang. Mit Blick auf den Umgang mit digitalen Medien hat man dort früher gesagt: Die Deutschen sind so überängstlich! Was wollen die mit einer Datenschutzgrundverordnung? Inzwischen sieht man: Aha. Ein bisschen vorsichtiger zu sein, ist gar nicht so schlecht. Und um auf Krieg und Frieden zu sprechen zu kommen: Die US-amerikanischen Militärstrategen haben ja den schönen Ausdruck theatre nuclear forces entwickelt. Was ist das? Das sind Nuklearwaffen, die so zum Einsatz gebracht werden, dass sie nicht US-amerikanisches Territorium erreichen, sondern auf das europäische theatre beschränkt bleiben. Und in der Zeit des Kalten Krieges ging man davon aus, dass ein Krieg sehr wahrscheinlich am Anfang auf deutschem Boden ausgetragen worden wäre. Das heißt: Die besondere Sorgfalt der Deutschen, was die atomare Bedrohung angeht, hat durchaus seine geopolitischen Hintergründe.
Gerald Knaus: Auch Gangster setzen Angst ein, um ihre Ziele zu erreichen. Die entscheidende Frage lautet dann: Wie reagieren die, die das primäre Ziel solcher Aktionen und tatsächlich mit einer realen Gefahr konfrontiert sind? Ich denke da an die 1,7 Millionen Ukrainer, vor allem Ukrainerinnen, die von Februar bis Ende Mai aus Polen wieder in die Ukraine zurückgekehrt sind, obwohl der Krieg nicht vorbei ist und ihre Städte, auch Kiew, weiter bombardiert werden. Ich denke an russische Dissidenten wie Wladimir Kara-Mursa, der eben erst in Westeuropa war, vor Putin gewarnt hat und dann nach Moskau zurückgereist ist, obwohl er schon zweimal Opfer eines Giftgasattentats wurde. Er wurde wieder verhaftet und angeklagt. Er wusste, was ihn erwartet. Das sind gute Gründe, Angst zu haben. Aber Angst hat ihn nicht gelähmt, darf auch uns nicht lähmen. Ich denke auch an Freunde in Moldau, der ärmsten Republik Europas wenige Kilometer von Odessa entfernt, wo binnen weniger Monate trotz der ständigen Gefahr eines Ausgreifens des Krieges pro Kopf die größte Zahl von Flüchtlingen aufgenommen wurde. Und natürlich denke ich an die Balten und Polen. Sehr viele Menschen in Europa haben heute berechtigterweise Angst. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier nicht eine rein deutsche Debatte über Angst führen. Dass sich die westlichen Interessen dennoch nicht eins zu eins aus den ukrainischen Interessen ableiten lassen, zeigt sich darin, dass der Westen – bei aller Unterstützung, die er leistet, damit die Ukrainer sich verteidigen können – primär eine Eskalation des Krieges verhindern will.
In seinem Buch Das Prinzip Verantwortung bringt der Philosoph Hans Jonas mit Blick auf Technologien, die in der Lage sind, der gesamten Menschheit schweren Schaden zuzufügen, die „Heuristik der Furcht“ ins Spiel. Meint: Wir müssen angesichts einer solchen Menschheitsgefahr notwendigerweise vom Schlimmsten ausgehen. Was bedeutet das für die Verantwortung des Westens?
Koenen: Ich sehe gar nicht, dass in dem Krieg, um den es hier geht, komplizierte Technologien eingesetzt werden. Wir haben es vielmehr mit einer Kriegsführung zu tun, in der massenhaft Artillerie, Panzer, ungerichtete Geschosse zum Einsatz kommen, die ganze Städte einebnen und alle Versorgungssysteme (von Wasserwerken bis Schulen) gezielt ausschalten. Also brauchen die Ukrainer Waffen, die geeignet sind, um diesem Vernichtungskrieg entgegentreten zu können. Dass sie sich erfolgreich wehren können, haben sie gezeigt. Indem wir ihnen diese Waffen verweigern, verlängern wir diesen Krieg und steigern die Eskalationsgefahr.
Nida-Rümelin: Ich bin kein Militärexperte. Mein Arbeitsfeld ist die Rationalität der Entscheidung in komplexen Situationen. In der Coronakrise verfügten wir über wissenschaftliche Einschätzungen, was Wahrscheinlichkeiten angeht. Wie wahrscheinlich ist es, dass man stirbt, wenn man sich infiziert? Und so weiter. Das war kein reines Stochern im Nebel. Jetzt, im Ukrainekrieg, ist die Situation ganz anders. Anders als Viren sind menschliche Akteure nicht berechenbar. Menschen haben die Möglichkeit, unter ähnlichen oder sogar denselben Umständen unterschiedlich zu entscheiden. Das heißt in der Sprache der Entscheidungstheorie, dass wir uns hier nicht in einer Risikosituation befinden. Risikosituationen sind nämlich dadurch charakterisiert, dass man Wahrscheinlichkeiten hat für mögliche Ereignisse, mögliche Weltzustände der Zukunft. Und man reagiert darauf, indem man diejenige Strategie wählt, die unter bestimmten Umständen als günstigste erscheint. Wenn die Freiheit des Menschen ins Spiel kommt, ist genau das aber nicht möglich. In der Sprache der Entscheidungstheorie befinden wir uns dann in einer Situation der Unsicherheit. Und in Situationen der Unsicherheit gilt es als rational, das ist weitgehend Konsens, risikoavers zu reagieren. Es geht darum, den größtmöglichen Schaden zu vermeiden. Auf jeder Stufe des Konflikts kann Russland noch mehr eskalieren. Es gibt keine Generalmobilmachung bislang. Das bedeutet, dass die Vorstellung, die Ukraine müsse siegen über Russland, nicht das empirische Fundament hat, das sie haben müsste. Und es bedeutet auch, dass der Westen die immense Verantwortung trägt, eine Eskalation zum europäischen oder gar zum Weltkrieg zu verhindern.
Knaus: Wir müssen diesen Krieg in einen größeren Kontext stellen. Ein amerikanischer Philosoph, der sich als Neopragmatiker bezeichnet, Richard Rorty, hat oft betont, dass es auch hätte sein können, dass Europa heute ein Kontinent ist, in dem es keine Menschenrechtskonvention gibt, keine Gerichte, keine Demokratien. Dass eine Welt, wie sie George Orwell in seinem Buch 1984 beschrieben hat – in der es keine Hoffnung gibt, in der die wenigen Dissidenten am Ende von Mächtigeren besiegt werden –, auch in Europa hätte entstehen können, hätte Hitler den Zweiten Weltkrieg oder Stalin den Kalten Krieg gewonnen. Jetzt haben wir ein Europa, das historisch ziemlich einzigartig ist. Wir denken heute nicht nach über einen Krieg zwischen den Niederlanden und Deutschland, zwischen Litauen und Polen, zwischen Ungarn und Rumänien. Allerdings gibt es ein anderes Europa, wo ich in den letzten drei Jahrzehnten viel Zeit verbracht habe, in dem seit 1990 20 Kriege oder bürgerkriegsähnliche, gewalttätige Konflikte stattgefunden haben. 20! Von Transnistrien über die Tschetschenienkriege, die Gewalt in Südostanatolien, Kroatien, Bosnien, Kosovo, Ossetien, Abchasien, Karabach … ein Europa der Kriege. Es war nur im Westen friedlich, weil es hier gelang, die Prinzipien der Charta von Paris für ein neues Europa, die alle Staaten 1990 unterschrieben haben, zu respektieren. Das gelang durch Institutionen: die Europäische Union, den Europarat, die NATO. Doch noch in den 1950er-Jahren haben Niederländer, Franzosen und Engländer auch Kolonialkriege geführt. In Indonesien, Indochina, Malaysia. Am Ende haben die Kolonialmächte erkennen müssen, dass die Ära des Imperialismus vorbei war. Putin und seine Elite hingegen sagen seit Jahren offen: Wir akzeptieren den Verlust unserer Kolonien nicht. Und führen Krieg.
Koenen: Ich gebe Ihnen an sich recht. Aber der Ukrainekrieg ist ja ein Krieg gegen einen völkerrechtlich auch von Russland anerkannten unabhängigen Staat, der seit 30 Jahren existiert. Es geht Putin um mehr als nur darum, die Verträge über die Unabhängigkeit von 1991 zu annullieren. Sondern die Ukraine soll eher eine Art Generalgouvernement werden, in dem eine eingeschmolzene, russifizierte, homogenisierte Bevölkerung dem großen Imperium angegliedert würde. Der Einsatz von Atomwaffen wäre dafür völlig dysfunktional, sondern diese offene Drohung zielt allein auf uns, auf unsere neurotische Angst. Nuklearwaffen sind noch nie militärisch eingesetzt worden, sie machen als Gefechtsfeldwaffen keinen Sinn, ebenso wenig wie Gaswaffen. Auch Hiroshima und Nagasaki waren keine militärischen Aktionen, sondern ein rein politisches, demonstratives Signal, das weniger auf das vor der Kapitulation stehende Japan als auf die Sowjetunion zielte.
Nida-Rümelin: Dazu habe ich ein paar Anmerkungen. Lassen Sie mich mit einem vielleicht ganz erhellenden Beispiel beginnen. Wer darauf hinweist, dass der Versailler Vertrag eine wichtige Rolle dafür spielte, dass die NSDAP am Ende erfolgreich war und die NS-Diktatur ganz Europa mit einem Angriffskrieg und einem Terrorregime überzogen hat, der entschuldigt natürlich nicht Hitler. Es war unklug, nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Weise einen Vertrag zu schließen, der eine massive Demütigung Deutschlands beinhaltete. Und das hat sich politisch sehr rasch gezeigt. So ähnlich verhält es sich auch jetzt: Vielleicht erinnern sich einige noch an Obamas Abwertung Russlands als bloßer Regionalmacht. Man muss doch die Frage stellen, welche Rolle der Westen in der Vorgeschichte zu diesem Krieg gespielt hat. Vertreter der realistischen Theorie internationaler Beziehungen – von John Mearsheimer bis zu Henry Kissinger – haben die Entwicklung, die seit 2007/2008 eingeschlagen wurde, als hochgefährlich angesehen. Ende der 1990er-Jahre hatte Biden davor gewarnt, die NATO bis an die Grenze Russlands auszudehnen. 2007/2008 hatten die USA dennoch Georgien und der Ukraine angeboten, in die NATO aufgenommen zu werden. Merkel hatte damals die Situation vorübergehend dadurch beruhigt, dass sie in Abstimmung mit dem französischen Präsidenten einer Aufnahme der Ukraine und Georgiens eine Absage erteilte. Und natürlich muss man, wie es auch der Vizepräsident der Europäischen Union, Verheugen, gemacht hat, die Einmischung des Westens in die innerukrainischen Angelegenheiten im Jahr 2014 problematisieren. Der damalige Präsident Janukowytsch war immerhin demokratisch gewählt worden. Außenminister Westerwelle hatte eine Rede gehalten auf dem Maidan! Man überlege mal, was es bedeuten würde, wenn Lawrow in Berlin eine Rede hielte, während es Unruhen und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften gibt. Das alles war ein unnötiges Zündeln. Kurz gesagt: Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wurde versäumt, das window of opportunity zu nutzen und eine neue, stabile Sicherheitsarchitektur aufzubauen. Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.
Knaus: Als ich 1993/1994 im ukrainischen Czernowitz, an der Grenze zu Rumänien, lebte, machte das Land keine Anstalten, sich Richtung Westen zu bewegen. Auch ein Konflikt mit Russland schien undenkbar. Die Ukraine gab 1994 ihre Atomwaffen auf, dafür gab es einen Vertrag mit Sicherheitsgarantien. Die Ukraine war damals ein kaputter Staat, die Wirtschaft befand sich im freien Fall, mein Monatsgehalt an der Universität waren 10 Euro, dazu Inflation. Dann aber geschahen in Rumänien und Polen dramatische Umwälzungen, die Länder holten auf einmal auf, Straßen und Krankenhäuser wurden gebaut, in Rumänien kamen Bürgermeister, dann ein Premierminister wegen Korruption ins Gefängnis. Diese Veränderungen führten bei jungen Ukrainern dazu, dass immer mehr sagten: Das wollen wir auch. Bei dem Maidan-Protest 2014 ging es daher um Europa – und nicht um die NATO.
Nida-Rümelin: Ja, das ist doch klar.
Knaus: Das Problem von Putin war: Das konnte er nicht akzeptieren. Als Janukowytsch floh, waren in Kiew bereits 100 Menschen von Scharfschützen erschossen worden. Ich kannte viele Ukrainer, die damals gesagt haben: Jetzt geht es um unsere Zukunft. Doch nach der Jahrtausendwende sagte Putin immer klarer und immer öffentlicher: Dieses Europa hat keinen Bestand. Bestand haben nur Großmächte, alles andere wären Vasallen. Die Europäische Union gebe es nur, weil sie ein geheimes Zentrum habe: Amerika. Und wenn Amerika sich zurückziehe, zerfalle auch endlich die Europäische Union. Dann werde Russland als dominierende Macht den Respekt bekommen, den es verdiene. Menschenrechte wären nur Heuchelei. Internationale Organisationen seien eine Fata Morgana. In Wirklichkeit bestimmen Großmächte, wie China und Amerika und Russland, vielleicht noch Indien. Es gab in den 1990er-Jahren auf dem Balkan ein ähnliches Narrativ. Miloševic´ sagte damals: Wir gehen zurück ins 19. Jahrhundert. Macht und Waffen schufen damals Nationalstaaten mit Gewalt. Doch nach vielen Kriegen scheiterte er, auch aufgrund von NATO-Interventionen. Wird Putin auch scheitern? Ob ein demokratisches Europa eine Zukunft hat, wird heute auch in der Ukraine entschieden.
Nida-Rümelin: Der kantische Friede besagt: Wenn wir eine Welt von Republiken haben und wenn Menschenwürde und Menschenrechte die Grundlage dieser Republiken sind, dann brauchen wir keine Weltstaatskonstruktion. Dann brauchen wir kein Gewaltmonopol auf globaler Ebene. Dann lässt sich der Frieden sichern. Und tatsächlich sollte Kant recht behalten: Es gab noch nie einen Krieg zwischen zwei genuinen Demokratien. Der kantische Friede ist also immer noch eine plausible Vision; und dazu gehört das Zurückdrängen des ethnischen, nationalistischen Denkens. Völlig d’accord. Was wir aber an dieser Stelle brauchen, ist Realismus! Wir leben in einer Welt, in der ethnisches, nationalistisches Denken leider immer noch sehr präsent ist. Wir haben einen indischen Hindunationalismus, über den man kaum redet. Der ist sehr stark. Narendra Modi ist Chef einer hindunationalistischen Partei. Das ist nach Einwohnerzahlen der zweitgrößte Staat auf der Welt und wahrscheinlich eine Supermacht der Zukunft. Wir haben in China eine hanchinesische, ethnozentrische Nationalitätskonzeption. Alle Han-Chinesen auf der Welt, ob sie in Taiwan leben oder woanders, werden nach dieser ethnozentrischen Sicht von der Volksrepublik China vertreten. China ist bereits eine Supermacht. Die USA sind abhängig von chinesischen Importen, weil sie nämlich nur durch billige Waren ihre sozial zerklüftete Gesellschaft halbwegs aufrechterhalten können. Wir müssen uns also in einer Welt zurechtfinden, die auf absehbare Zeit erst einmal von zahlreichen teilweise großen und mächtigen Nichtdemokratien, Autokratien, Diktaturen, totalitären Staaten bestimmt sein wird. Wenn uns das nicht gelingt, stolpern wir in eine neue bipolare Welt hinein: Der eine Pol bestünde aus USA und EU. Der andere Pol aus Russland und China. Und dann gibt es viele Staaten auf der Welt, die versuchen werden zu lavieren. Indien hat sich so schon geäußert. Südafrika hat sich so schon geäußert. Eventuell gesellt sich Brasilien dazu. Alles keine kleinen, unbedeutenden Staaten.
Wenn ich Sie recht verstehe, heißt das, Sie würden, um die Blockbildung zu vermeiden, auch weiter Handel treiben mit autokratischen, diktatorischen Staaten.
Nida-Rümelin: Das Narrativ ist ja weit verbreitet: Wir müssen uns unabhängig machen nicht nur von Russland, sondern auch von China, Pakistan oder Saudi-Arabien! Das hieße dann: Deglobalisierung. Mit massiven sozialen Problemen und einem massiven Anstieg von Hunger und Elend im globalen Süden. Wir haben jetzt schon sehr viel Elend auf diesen Teil der Welt gebracht durch die Coronamaßnahmen. Ich plädiere für zweierlei: Erstens für ein klares demokratisches Bewusstsein. Wir dürfen uns nicht faszinieren lassen von Diktaturen, Nationalismen, Ideologien. Auf der anderen Seite müssen wir hinreichend viel Realismus aufbringen, um eine Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die einen dritten Weltkrieg und massives Elend ausschließt.
Knaus: Wir müssen die Vision von 1990 weiterführen. Kant sprach von einer freiwilligen Kooperation zwischen freien Staaten. Diese versprach auch die Satzung des Europarats und die Charta von Paris der OSZE. Diese Vision zu verteidigen, bedeutet allen Demokratien in Europa ein Angebot zu Kooperation zu machen. Ich hoffe, dass wir jetzt Moldau, einer jungen Demokratie mit 2,6 Millionen Einwohnern und einer Reformregierung, der Ukraine und auch den Balkandemokratien anbieten, schon in den nächsten Jahren Teil des europäischen Wirtschaftsraums zu werden. Selenskyj weiß, dass die Ukraine jetzt nicht in die NATO kommt. Er will in die Europäische Union. Wir müssten ein Signal geben, dass das möglich ist. Auch ein Signal Richtung Russland. Dazu gehört militärische Abschreckung wie im Kalten Krieg. Doch eine russische Demokratie muss in Europa willkommen sein. Viele europäische Länder haben diesen Übergang von Diktatur zu Demokratie geschafft, allen Erwartungen zum Trotz: Spanien, Griechenland, Deutschland, Italien, Portugal, die mitteleuropäischen ehemaligen Volksdemokratien. Für mich ist die Zeitenwende ein Weckruf, unsere Werte und Ideale von 1990 nicht Gangstern zu opfern. Die Gangster sind Lukaschenko und Putin. Niemand will einen Krieg mit ihnen. Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Aber wir dürfen uns auch nicht einschüchtern lassen.
Koenen: Es geht meines Erachtens nicht nur und nicht einmal in erster Linie um politische Systeme, demokratische Werte, ethische Prinzipien, sondern um reale, evolutionäre geschichtliche Prozesse. Dazu gehört mit an erster Stelle, dass das Leben in großen Reichen über die längste Zeit die Normalform für einen Großteil der Menschheit gewesen ist. Diese Reiche sind im 20. Jahrhundert in einer Kette von imperialistischen Kriegen oder durch Befreiungskriege sukzessive zusammengebrochen. Das heutige Europa besteht mehrheitlich aus den kleinen Ausgangs- oder Reststaaten kollabierter Imperien. Dieser Tendenz einer steten Devolution – für die es sehr gute Gründe gibt – stemmen die beiden großen ehemaligen roten Reiche sich mit allen Mitteln entgegen, nämlich Russland und China. Was übrigens ein bezeichnendes Licht zurück auf die tiefere realgeschichtliche Logik des Agierens kommunistischer Parteien im 20. Jahrhundert wirft; mein Thema. In Wirklichkeit stammt das auf die NATO fixierte „Sicherheitsinteresse“ Russlands aber vor allem aus einer realen, hausgemachten inneren Schwäche. Warum, um Gottes willen, konzentriert Russland sich nicht auf seine eigenen großartigen Potenziale, die natürlichen und die menschlichen! Warum schafft es Russland nicht, um sich herum Freunde zu finden – außer Autokraten wie Lukaschenko, die sich gegen ihr eigenes Volk an die Macht krallen? Die Europäische Union zieht trotz hoher Hürden noch immer Zutrittswillige an. Und auch die NATO tut das – aber vor allem wegen Russland, von dem ihre Mitglieder sich zu Recht bedroht fühlen, während es selbst von niemandem ernsthaft bedroht wird.
Dem Philosophen Walter Benjamin zufolge gibt es in der Geschichte messianische Momente, in denen sich alles ganz plötzlich radikal ändern kann, zum Schlechten wie zum Guten. Üben wir uns am Ende des Gesprächs in Zuversicht. Was könnte so ein Moment sein, jetzt, in diesem Krieg, in dem sich der Verlauf zum Guten wendet?
Knaus: 2022 ist der Moment, in dem die EU klarmachen kann, dass sie die Tür für alle Demokratien offen hält. Wann es zu Beitritten kommen wird, ist unklar, dafür muss sich auch die EU noch verändern, aber das Ziel sollte jetzt schon verfolgt werden. Was sofort möglich wäre, ist das, was der Römische Vertrag von 1957 versprach: Friede durch das Beseitigen der „Europa trennenden Schranken“. Dazu die Stärkung des Europarats, der die Menschenrechtskonvention verteidigen soll. Solidarität zwischen Demokratien, auch im Widerstand gegen ein revanchistisches Russland. Es darf keinen Rückfall in Europa in imperialistisches Denken geben. Ob der seit 1950 in Westeuropa bestehende Friede ewig währen wird, wissen wird zwar nicht, aber er währt schon ziemlich lange. Darauf aufbauen, Kant ernst nehmen, aber mit Rortys Pragmatismus, Schritt für Schritt. Damit dies der letzte große Krieg in Europa in unserer Lebenszeit ist und nicht der Beginn eines neuen dunklen Zeitalters der Unterdrückung.
Nida-Rümelin: Ein baldiger Waffenstillstand und Beginn von Verhandlungen unter Führung der Vereinten Nationen, Referenden unter internationaler Aufsicht in den umstrittenen Territorien, EU-Integrationsperspektive für die Ukraine, keine weitere Ausdehnung der NATO, Aufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur in internationalen Verhandlungen mit dem Ziel konventioneller Nicht-Angriffsfähigkeit in der europäischen Staatenwelt.
Koenen: Ich setze, insoweit eher mit Marx als mit Benjamin, der ja doch wohl ein hoffnungslos Verzweifelnder war, auf den realen geschichtlichen Prozess, in dem Menschen gerade auch in und aus Kriegen und Katastrophen lernen. Dazu müssen wir neurotische in Realangst verwandeln und den intellektuellen und notfalls auch physischen Mut entwickeln, den realen Bedrohungen ins Auge zu schauen und rettende Auswege zu finden. Diesen völlig anachronistischen, für Russland selbst ruinösen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine eklatant scheitern zu lassen, und zwar mit allen dafür nötigen Mitteln, über die wir als Bund freier und entwickelter Staaten durchaus verfügen, würde die gesamte weltpolitische Lage entscheidend verbessern. Und es würde den Raum der Zukunft wieder nach vorne hin öffnen – dort, wo der Klimawandel und andere Weltprobleme uns gerade noch ein window of opportunity offenhalten.
Die Gesprächspartner:
Gerald Knaus ist Soziologe und Gründungsdirektor der European Stability Initiative in Berlin. Er unterrichtete in den USA, der Ukraine und am NATO Defense College in Rom. Gemeinsam mit Rory Stewart schrieb er das Buch „Can Intervention Work?“ (2012) sowie 2020 „Welche Grenzen brauchen wir?“.
Julian Nida-Rümelin ist Philosoph. Er lehrt praktische Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Humboldt-Universität Berlin. Er war Staatsminister für Kultur und Medien im ersten Kabinett von Gerhard Schröder und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Sein Buch „Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren“ (gemeinsam mit Nathalie Weidenfeld) erschien 2021.
Gerd Koenen ist Historiker und Publizist. Seine Forschungsschwerpunkte sind die russisch-deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert und die Geschichte des Kommunismus. Sein Buch zum Thema: „Der Russland-Komplex“ (2005). Zuletzt erschien von ihm „Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ (2017).
Zitierweise: Julian Nida-Rümelin, Gerd Koenen, Gerald Knaus, im Interview mit Svenja Flaßpöhler: „Was riskieren wir?“, in: Deutschland Archiv, 1.1.2023, Link: www.bpb.de/513095. Der Dialog fand auf der phil.cologne 2022 statt. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 7.7.2022 unter dem Link www.philomag.de/artikel/was-riskieren-wir sowie im Philosophie Magazin 05/2022.
Svenja Flaßpöhler ist Philosophin, Journalistin und Autorin. Seit 2018 leitet sie das "Philosophie Magazin" und ist Mitbegründerin des PEN Berlin 2022.
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