Der Mann aus dem inneren Zirkel
Zwei Begegnungen mit Hans Modrow. Ein kritischer Nachruf von Stefan Wolle
Stefan Wolle
/ 18 Minuten zu lesen
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Am 11. Februar 2023 starb in Berlin im Alter von 95 Jahren der langjährige SED-Parteifunktionär Hans Modrow, der während der Friedlichen Revolution 1989 kurzzeitig DDR-Ministerpräsident wurde. Medien hatten ihn damals zeitweise zu einem "Hoffnungsträger" der DDR gekürt, der ein Reformer im Stil des seinerzeitigen sowjetischen Partei- und Staatschefs Michael Gorbatschow sein könnte. Ein Irrtum, revidiert der Historiker Stefan Wolle in einem Nachruf Modrows Bild.
Zum ersten Mal kreuzten sich unsere Wege im Herbst 1980. Hans Modrow war damals SED-Bezirkschef von Dresden, umgeben von der Aura und den Attributen der Macht eines hohen SED-Funktionärs. Ich war gerade dem Studentenalter entwachsen und eine Art besserer Laufbursche für eine sowjetische Historikerdelegation, die den Bezirk Dresden bereiste.
Zum letzten Mal traf ich Hans Modrow laut meinen Tagebucheinträgen am 3. Juli 2018 während einer Veranstaltung im DDR-Museum Berlin. Er meldete sich aus dem Publikum, ich saß als Moderator auf der Bühne. Es ging um Vorgänge aus dem Jahr 1958, die er als damaliger FDJ-Chef von Groß-Berlin mit zu verantworten hatte. Ich komme darauf später noch einmal zu sprechen, vorab nur das: Es ging um eine konzertierte Aktion der Parteiführung gegen unliebsame LehrerInnen und SchülerInnen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den damals Betroffenen nun die Hand zur Versöhnung zu reichen. Er tat dies nicht, sondern sprang in den Schützengraben längst vergangener Schlachten. Ich würdigte seine Courage, sich ohne Not der Diskussion zu stellen und war – ohne dies auszusprechen – doch entsetzt über seine Unfähigkeit, seine damalige Handlungsweise als SED-Funktionär kritisch zu reflektieren.
Sympathien hatte ich nie für Hans Modrow, obwohl er von allen „führenden Persönlichkeiten aus Staat und Partei“ mit Sicherheit am ehesten Sympathie erweckte. Doch er war und blieb in das diktatorische System verstrickt, dem ich nie eine Träne nachgeweint habe. Das kann und soll hier nicht beschönigt werden. Der hehre Grundsatz De mortuis nihil nisi bene kann bei Personen der Zeitgeschichte nur bedingt gelten.
Abendessen im Schloss Wackerbarths Ruh‘
Im Herbst 1980 reisten nach einer Konferenz zum 35. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Hitlerdeutschland die Mitglieder einer sowjetischen Delegation mit dem Bus durch Sachsen. An der Spitze der Delegation stand jener sowjetische General, der am 9. Mai 1945 die Befreiung von Prag geleitet hatte. Wir besuchten gemeinsam ein Konzert im Kulturpalast in Dresden, das Elbsandsteingebirge und die Festung Königstein. Der Busfahrer und ich waren für die praktischen Angelegenheiten zuständig: Wir organisierten die Schlüsselausgabe im Hotel Newa, besorgten die Eintrittskarten, bestellten für den Nachmittag Kaffee und Kuchen und begleiteten schließlich die Reisegruppe zum Abendempfang bei Hans Modrow, dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden. Das Essen fand auf Schloss Wackerbarts Ruh‘ in den Weinbergen oberhalb von Radebeul statt. Das 1710 gebaute Barockschloss war damals ein Gästehaus der SED-Bezirksleitung. Ich wurde mit hineingebeten, der Kraftfahrer sollte draußen bleiben.
Ich murrte gegenüber dem zuständigen Protokollchef: Ein schöner Arbeiterstaat sei das, wo der einzige Arbeiter vor der Tür warten müsse, während die Herrschaften speisten. Die Bemerkung wurde an den gerade mit seiner Entourage eintreffenden Hans Modrow weitergegeben. Er blickte einen Moment interessiert zu mir, dann ordnete er an, der Kraftfahrer solle mit den Mitarbeitern des Hauses in der Küche essen. Auf der Heimfahrt gestand mir der Busfahrer, er hätte nicht nur die gleichen Köstlichkeiten vorgesetzt bekommen wie die hohen Gäste, sondern auch sehr angeregt mit dem Servicepersonal geflirtet. Im Übrigen sei auch die Opernsängerin, die der Sowjetdelegation eine Gesangseinlage dargeboten hatte, mit dem Personal verköstigt worden. Am nächsten Tag murmelte ein Referent von Modrow einige verlegene Worte zu dem Thema, die in der Bemerkung gipfelten, dass dies „nun mal so üblich“ sei.
Ein Sohn der Arbeiterklasse
Nun gab es sicher wichtigere Dinge als die Teilnahme an einem Abendessen. Und sicherlich hatte es auch seinen Sinn, dass sich die Kraftfahrer nicht einfach unter die geladenen Gäste mischten. Doch die feudalen Allüren der SED-Oberschicht waren ein heikler Punkt zu jener Zeit, zumal im Herbst 1980 die Krise in Polen ihrem Höhepunkt entgegensteuerte. Die polnischen Arbeiter standen kurz davor, die herrschende Arbeiter- und Bauernmacht zum Teufel zu jagen. So weit waren ihre Klassenbrüder in der DDR keineswegs, doch auch dort war das Missverhältnis zwischen Theorie und Praxis offenbar. Die Arbeiterklasse wurde mythisch verklärt, die realen Arbeiter hingegen hatten weniger als nichts zu melden. Die Fiktion von der führenden Rolle der werktätigen Schichten wurde dennoch emsig gepflegt. Die lupenreine proletarische Herkunft war wichtig, und wo sie nicht ganz stimmte, bog man sie sich zurecht.
Hans Modrow stammte nicht gerade aus der Arbeiterklasse, aber doch aus einfachen Verhältnissen. Er wurde am 27. Januar 1928 im damals vorpommerischen und heute zu Polen gehörenden Dorf Jasenitz (poln. Jasienica) unweit des Oderhaffs als Sohn eines Seemanns geboren. Später hing sein Vater die Seefahrt an den Nagel und wurde Bäcker. Während der Weltwirtschaftskrise ging die Bäckerei in Konkurs, und der Vater wurde Bote in einer Stettiner Fabrik. Vielleicht war dies der Anlass, bereits 1932 der NSDAP beizutreten. Von Hitler erhofften sich damals viele Deutsche die Erlösung aus dem Elend. Was sonst von der Familie zu berichten ist, entspricht dem Durchschnitt der unteren Mittelschicht im provinziellen Milieu.
Modrow schreibt in seinen Erinnerungen sehr ehrlich: „Die in der Familie anerzogenen Tugenden, fleißig zu sein, ältere Bürger zu achten, allzeit höflich und hilfsbereit aufzutreten“, prägten ihn. „Unsereins ging an keinem Erwachsenen vorüber, ohne einen guten Tag zu wünschen.“ In der Tat hat sich Modrow bis ins hohe Alter dieses Auftreten des ehrlichen und fleißigen Jungen bewahrt. Vielleicht war es sogar sein Erfolgsgeheimnis. Sein späterer Aufstieg in höchste Ämter verlief ja bemerkenswert bruchlos, was selbst in der kleinbürgerlich verspießerten Funktionärsschicht der SED nicht selbstverständlich war.
Alles, was nun kam, war ein Teil des Schicksals seiner Generation. Nach der Volksschule und der Lehre als Maschinenschlosser folgten die Einberufung zur Wehrmacht, Krieg und sowjetische Gefangenschaft. Dort erfolgte auch die Weichenstellung für sein künftiges Leben: Im Spätsommer 1947 wurde er gefragt, ob er eine Antifa-Schule besuchen wolle. Die Schilderung, die Modrow dazu ein halbes Jahrhundert später zu Papier brachte, schwankt zwischen dem in der DDR üblichen Freundschaftskitsch und klaren Einsichten.
Natürlich entging es ihm nicht, dass es bei der Schulung bessere Unterkünfte, neue Kleidung und gutes Essen gab, zumal der eifrige „Kursant“ bald schon zum Seminarleiter aufstieg. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft im Januar 1949 erfolgte die Einladung zum „Kadergespräch“ bei der Partei. Er weigerte sich, sofort die Funktionärslaufbahn anzutreten und begann als Maschinenschlosser im VEB Lokomotivbau/Elektrochemische Werke (LEW) in Hennigsdorf nördlich von Berlin. Doch trat er sofort der FDJ und der SED bei, und bald schon wurde er mit Funktionen und Verantwortung überhäuft.
„Unser Zeichen ist die Sonne“
Über die sogenannte Aufbaugeneration der DDR ist viel geredet und geschrieben worden. Viele junge Menschen waren aus dem Krieg und der Gefangenschaft mit dem Willen heimgekehrt, etwas gänzlich Neues zu schaffen: einen friedliebenden und antifaschistischen Staat ohne Kriegstreiber, Konzernherren und Junker. Wo alle Produktionsmittel dem Volke gehören, kann es auch keine Ausbeutung mehr geben. Wenn das Profitstreben der Rüstungskonzerne verschwunden ist, kann es der Logik zufolge auch keine Aufrüstung und keinen Krieg mehr geben. So einfach war das, wenn man es glauben wollte:
„Wir sangen vom neuen Leben, das anders werden sollte. Wir hatten ein Ziel vor den Augen. Als junger Antifaschist anerkannt zu werden, mit dabei zu sein, wenn ein wahrlich neues Deutschland aus der Asche und den Trümmern stieg – das genau wollte ich; das genau mußte sich, auf möglichst geradlinigem Wege, erfüllen. In Erinnerung habe ich eine große Aufbruchsstimmung.“
Diese Gefühlslage haben viele andere Zeitgenossen so oder so ähnlich geschildert, auch Menschen, die sich später radikal von der DDR abgewandt haben wie zum Beispiel Erich Loest.
Für Hans Modrow und viele seiner Altersgenossen war der Fackelzug Unter den Linden in Berlin am 11. Oktober 1949, vier Tage nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, ein bewegendes Erlebnis. Werner Bräunig schilderte in seinem in den sechziger Jahren geschriebenen, aber erst 2007 vollständig veröffentlichten Roman „Rummelplatz“ die widersprüchlichen Gefühle eines Demonstrationsteilnehmers namens Nickel, der als Delegierter der Sowjetischen Aktiengesellschaft Wismut an dem Marsch teilnahm:
„Die Reihen strafften sich. Trommelschläge dröhnten. Wann wir schreiten Seit an Seit. Viele marschierten jetzt im Gleichschritt. Nickel sang mit, er musste singen, was alle sangen. Das Stalinporträt schwankte nach links und gab den Blick zur Tribüne frei; Nickel sah den Präsidenten. Hochrufe kamen herübergeweht. Fanfarenstöße hallten. Tausende drängten nach, aber vorn ging es nicht weiter. Die Menge dröhnte, die Menschen schienen mit aller Kraft bemüht, eine unsichtbare über ihnen liegende Last hochzuheben. Alles Einzelne schwieg. Alle Stimmen hoben sich auf. Nickel stand eingekeilt, die Gesichter verschwammen. Der Lärm brodelte über den Köpfen und schwoll an, ebbte ab, hallte wider; Fahnen wurden geschwenkt, Lautsprecher krächzten. Nickel hatte keine Vorstellung mehr vom Ausmaß dieser Demonstration. Er sah weder Anfang noch Ende. Er sah Menschen, wohin er auch sah: auf Mauersimsen und Laternenmasten, an Eisenzäune gepresst, die Absperrungen hatten nicht standgehalten.“
Hans Modrow schrieb 1996 im Rückblick an den Aufmarsch von 1949:
„… als mir die Ehre zuteil wurde, das Landesbanner der FDJ beim Fackelzug zu tragen, erfüllte mich schon eine tiefe innere Bewegung. Ich schwenkte die Fahne und hoffte, daß Wilhelm Pieck auch einen Blick auf uns, die Brandenburger FDJler, werfen würde. Mit solchen Gefühlen war erreicht, worum es den Politikern der DDR in diesen Stunden ging. Unter den Linden marschierten nicht nur die Funktionäre der SED. Alle Parteien waren in der Regierung vertreten, und die FDJ galt als überparteiliche, unabhängige, einheitliche Jugendorganisation.“
An anderer Stelle liest sich das bei Hans Modrow viel distanzierter:
„Mit Abstand betrachtet, konnte diese Demonstration ihr Ziel, die gesamte Jugend zu überzeugen oder für die gesamte Jugend zu sprechen, nicht erfüllen. Der von ‚oben‘ angeordnete Zug für Freiheit und Demokratie blieb ein ideologischer Kraftakt, der denen abseits des FDJ-Aktivs, die er erreichen wollte, seinen agitatorischen Auftrag allzu grob verriet. Bei den Teilnehmern an der Demonstration handelte es sich nicht, wie wir glaubten, um die Abgesandten von Millionen Jugendlichen mit gleichem Mut und gleichem Sinn. (…)Diese marschierende Jugend, sieht man sich heute die Pressefotos an, dokumentierten an einigen Stellen bereits die altersgraue Abhängigkeit von der Partei. Den Fehler, den wir in all den Jahren mit uns herumschleppten, präsentierten wir schon früh, gleichsam in voller Montur und bei Festbeleuchtung.“
Die Aufbaugeneration
Hans Modrow ist ein geradezu idealtypischer Vertreter der sogenannten Aufbaugeneration unter den Funktionären der SED. In den biografischen Handbüchern und Interneteinträgen folgt nun Funktion auf Funktion. Immer ging es aufwärts. Die Teilnahme an Massenaufmärschen, Jugendtreffen und Festivals erfolgte bald schon aus der Perspektive der Organisationskomitees. Die Reisen trat er als Mitglied offizieller Delegationen an, zunächst ins sozialistische Ausland, was in den frühen fünfziger Jahren auch noch Seltenheitswert hatte, später in alle Welt, was einem winzigen Kreis von bevorzugten Reisekadern vorbehalten war. Die Studienabschlüsse und akademischen Titel sind beeindruckend, was konkret dahintersteckte, ist schwer zu beurteilen.
Noch 1949 wurde Hans Modrow Abteilungsleiter und Sekretär des FDJ-Landesvorstands erst in Brandenburg, anschließend in Mecklenburg. 1952 wurde er Mitglied des Zentralrats der FDJ und stieg nach seiner Rückkehr von einem Studienaufenthalt in Moskau 1953 zum Ersten Sekretär der Bezirksleitung der FDJ Berlin auf. In dieser Funktion war er auch für Westberlin zuständig, wo die FDJ über eine Organisationsstruktur verfügte. Wie aus damaligen Zeitungsberichten hervorgeht, trat er ständig im Westteil der Stadt als Redner auf. 1961 erfolgte der Übergang in den Parteiapparat, zu dem er als Mitglied der Bezirksleitung der SED bereits seit 1954 gehörte. Er wurde nun Erster Sekretär der Kreisleitung der SED Berlin-Köpenick, 1958 auch Mitglied des ZK der SED. 1967 bis 1971 war er Sekretär für Agitation und Propaganda der SED-Bezirksleitung Berlin und von 1971 bis 1973 Leiter der entsprechenden ZK-Abteilung.
Von 1953 bis 1973 gehörte er also zum inneren Zirkel der Macht im SED-Staat. Es waren die Jahre des Mauerbaus, der Errichtung der tödlichen Grenze in Berlin, der Reglementierung kritischer Schriftsteller und Filmemacher im Dezember 1965, des Einmarsches der Interventionstruppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968, der Unterdrückung jeglicher Opposition und so weiter. Was auch immer er im Rückblick über jene Jahre geschrieben hat, nirgendwo in den Akten taucht ein Hinweis auf Widerspruch oder gar Widerstand gegen die Entscheidungen der SED-Führung auf.
In den diversen Erinnerungen, die Hans Modrow nach 1990 schrieb, fällt auf, dass sie mit jedem Jahr des Aufstiegs unpersönlicher werden. Das gleiche gilt auch für andere ehemalige Führungspersönlichkeiten der DDR, die selbstständig oder unterstützt von Journalisten Memoirenwerke ans Licht der Öffentlichkeit brachten, so auch für den ersten Band der Erinnerungen von Egon Krenz. Während die Schilderung der Kindheit nicht gerade hochliterarisch, so doch lebendig ist, gibt es vom Eintritt in die Funktionärslaufbahn an eigentlich nur noch Beschreibungen politischer Vorgänge auf der sogenannten „Königsebene“, die an anderer Stelle meist schon viel genauer von Historikern geschildert wurden. Es vollzieht sich im Leben der Funktionäre, so scheint es, ein Verlust von gelebtem Leben. Auch der Alltag der einfachen Leute kommt kaum noch vor, mag die Familie Modrow in einer Dreizimmerwohnung gewohnt haben oder wie seine Genossen in der Waldsiedlung Wandlitz. Er kannte das Leben nur noch aus den Berichten der Partei und der Staatssicherheit. Vielleicht ist das in jedem System der Preis der Macht. Doch dies ändert nichts an der Tatsache.
Bei Hans Modrow, wie auch bei anderen Protagonisten des SED-Staates, gibt es eine permanente Ambivalenz zwischen „damaliger Sicht“ und „heutiger Sicht“. Auch das hat seine Berechtigung. Jeder Mensch ändert sich und hat neue Einsichten. Doch nach dem politischen Scheitern haben solche Einsichten immer den Anschein von Opportunismus. Modrow geht in diesem Punkt mit seinen ehemaligen Genossen hart ins Gericht:
„Politischen Pragmatikern verzeiht man vieles; aber Leute, die jetzt mit auffällig klugen Worten abrechnen, müssen sich eher als andere die Frage gefallen lassen, wo denn diese Klugheit früher war und warum sie diese so lange und so sorglich verheimlicht haben. Heutige Klugheit wird zum Bumerang, wenn sie enthüllt, daß man früher, als es um Posten und Präsenz ging, vor allem eines war: schlau.“
Das ist treffend formuliert, doch der Vorwurf könnte genau wie der hier beschworene Bumerang auch seinen Urheber treffen.
Dresdener Jahre
Am 3. Oktober 1973 wurde Hans Modrow in die SED-Bezirksleitung Dresden kooptiert und zu deren Erstem Sekretär gewählt. Natürlich fiel diese Entscheidung nicht in Dresden, sondern wurde von höchster Stelle getroffen, konkret im Politbüro des ZK der SED, jenem kleinen Kreis von alten Männern, in deren Händen sich alle Macht konzentrierte. In Dresden aber war Modrow eine Art Bezirksfürst, dem alle anderen Instanzen, auch die formal gewählten legislativen Gremien, untergeordnet waren. Auch die Organe des Ministeriums des Inneren und des Ministeriums für Staatssicherheit waren ihm unterstellt. Allerdings mischte sich die Zentrale, also das ZK der SED, ständig in die Entscheidungen der Bezirke ein. Daraus ergaben sich gelegentlich Spannungen, von denen Hans Modrow in seinen Büchern ausführlich berichtet.
Beispielsweise bemühte er sich – wenn man seiner eigenen Schilderungen glauben darf – um den Wiederaufbau des Dresdener Königsschlosses, das bei dem anglo-amerikanischen Bombenangriff im Februar 1945 vernichtet worden war und bis zur Wende als Ruine die Stadt verunzierte. Das Bauvorhaben wurde aus Kostengründen gestrichen. Alle Mittel wurden für die Förderung der Hauptstadt Berlin gebraucht. Berlin sollte zum 750. Jahrestag der Stadtgründung zum Schaufenster der blühenden Republik ausgestaltet werden. Überhaupt stiegen in den letzten Jahren der DDR sowohl ein regionales Selbstbewusstsein als auch Ressentiments gegenüber Berlin. Die Bezirksfürsten konnten sich diesem Trend nicht gänzlich verschließen. Hans Modrow hat daraus eine bescheidene Popularität gewonnen. Immerhin galt sein persönlicher Lebenswandel als bescheiden. Als er erklärte, er könne zu den dienstlichen Terminen nach Berlin mit der Eisenbahn fahren, wie jeder andere Bürger auch, wurde ihm dies untersagt. Er hatte mit der schwarzen Dienstlimousine zu fahren, begleitet von einer Motorradeskorte und Personenschutz. So zumindest wurde es in Dresden damals erzählt.
Hoffnungsträger oder Betonkopf
Wie Hans Modrow zum inoffiziellen Titel des „Hoffnungsträgers“ gekommen ist, bleibt unergründlich. Sicher ist allein, dass er von den Westmedien dazu stilisiert wurde, was seine Position im Machtgefüge der SED nicht gerade stärkte.
Seit 1985 wehte aus dem Osten ein frischer Wind, der die Illusion weckte, man könne den Sozialismus demokratisch reformieren und der DDR eine echte Zukunft geben. Die Führung der SED unter Erich Honecker sah dies nicht so. Und sie hatte damit historisch natürlich recht. Doch gerade SED-Mitglieder suchten Alternativen und verfielen dabei auf Hans Modrow, der eigentlich nichts getan hatte, diese Hoffnungen zu rechtfertigen.
Von Journalisten wurde eine regelrechte Verschwörungsgeschichte erfunden. Mitte Juni 1987 hatte der Chef der Auslandsaufklärung des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Wladimir Krjutschkow, den Technikpionier Manfred von Ardenne in Dresden besucht, um dessen Sicht auf die Situation der DDR kennenzulernen. Am Rande dieses Besuchs trafen sich angeblich Markus Wolf, der sowjetische Geheimdienstmann, von Ardenne und Hans Modrow zu einem Gespräch, um über die Ablösung von Erich Honecker zu beraten. Dazu und zu anderen Verschwörungslegenden schrieb Hans Modrow später:
„Diese geistige Welt der Unterstellungen und intriganten Hysterie ist nie die meine gewesen, leider hat sich das Politbüro durch eine geradezu mystische Misstrauenskultur immer wieder selbst blockiert, schon in den Zeiten Walter Ulbrichts. Stets ging es um Personen, nicht an Inhalten der Erneuerung wurde gearbeitet, sondern krampfhaft und verbissen darüber nachgedacht, wie man sich selbst zum Erneuerer schlagen kann und an der Macht bleiben kann“.
Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, dass gerade Dresden zum Schauplatz der einzigen größeren gewalttätigen Auseinandersetzung im Verlauf der Friedlichen Revolution wurde. Ausgerechnet Hans Modrow, der Held des Übergangs, setzte in den ersten Oktobertagen 1989 die bewaffnete Macht ein, um Demonstranten auseinander zu prügeln, die die nächtliche Durchfahrt der DDR-Flüchtlingszüge aus Prag zum Anlass nehmen wollten, ebenfalls Ausreisefreiheit zu erreichen. Allerdings kamen danach aus Dresden auch die ersten Signale eines Entgegenkommens der Staatsmacht gegenüber der Protestbewegung, möglicherweise wurde dies in den beiden Folgewochen zu einer Weichenstellung für die ganze Republik.
Seit diesen Tagen ist die Biografie Hans Modrows identisch mit der Geschichte der sterbenden DDR. Am 13. November 1989 wählte ihn die Volkskammer zum Ministerpräsidenten. Mit versteinerten Gesichtern hörten sich die Abgeordneten, die alle von der SED eingesetzt worden waren, die Regierungserklärung Modrows an. Darin war viel von Vertrauen, Dialog und Erneuerung die Rede, aber auch von einem sozialistischen Staat, den es zu bewahren gilt. Doch wer wollte ihm auf diesem Weg noch folgen? Gorbatschow zeigte ihm die kalte Schulter, Helmut Kohl ließ ihn mit seinen Wünschen nach Wirtschaftshilfe abblitzen; François Mitterand und Margaret Thatcher, die den Trend zur Wiedervereinigung skeptisch sahen, konnten oder wollten ihm ebenfalls nicht helfen, obschon Externer Link: Mitterand ihn im Dezember 1989 immerhin besuchte.
Und die eigene Bevölkerung? Sie wollte in der großen Mehrheit so schnell wie möglich den Anschluss an die Bundesrepublik. Modrow wirkte zusehends vom Wind der Geschichte zerzaust – so wie vom eisigen Winterwind, als er am 19. Dezember 1989 neben Helmut Kohl vor einer Menge stand, die im Sprechchor „Helmut, Helmut“ skandierte. Gerade in Dresden, der langjährigen Stätte seines Wirkens, wurde Hans Modrow tief gedemütigt.
Immerhin die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 wurde für ihn aber zu einem Achtungserfolg. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), deren Ehrenvorsitzender er bis zuletzt war, erhielt 16,4 Prozent der Stimmen, und Hans Modrow zog als Abgeordneter in die letzte Volkskammer ein. Später vertrat er seine Partei zeitweise im Bundestag und im Europaparlament. Doch vor allem war er nun eine Person der Zeitgeschichte. Er schrieb mehrere Bücher, trat auf Podien auf, gehörte bis 2022 zum Ältestenrat der Linkspartei und war, solange es sein Gesundheitszustand zuließ, immer wieder auch zu Gast in Fernsehgesprächsrunden.
„Klostergeist wird ausgetrieben“
Zwischen meiner ersten und der letzten persönlichen Begegnung mit Hans Modrow lagen 38 Jahre. In dieser Zeit ist viel passiert. Oft habe ich seine Auftritte im Fernsehen verfolgt und habe alles Mögliche von ihm und über ihn gelesen. Einige Male habe ich ihn persönlich erlebt. Einmal hat er mir fast Achtung abverlangt, als er am 15. Januar 1990 in Berlin-Lichtenberg vor einer tobenden und hasserfüllten Menge stand, geschützt allein von der Autorität einiger Bürgerrechtler, die mit ihm aus Berlin-Pankow von der Sitzung des Runden Tisches zur Stasi-Zentrale geeilt waren. Die Demonstranten waren auf das Gelände vorgedrungen und niemand wusste, wie das enden würde. Doch auch in jener Nacht mochte ich in ihm keinen Hoffnungsträger und Reformer erkennen, war doch dem Sturm auf das Stasi-Hauptquartier sein Versuch vorausgegangen, die Stasi als neuen Verfassungsschutz und Amt für Nationale Sicherheit zu etablieren.
Schließlich kam es am 3. Juli 2018 zur anfangs bereits erwähnten Veranstaltung bei uns im DDR-Museum Berlin. Diese hatte zunächst gar nichts mit Hans Modrow zu tun, sondern allein mit dem „Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster“, dessen Bibliothek und Archiv von der Streitschen Stiftung in den Räumlichkeiten der Zentral- und Landesbibliothek Berlin aufbewahrt wird. Die Stiftung trat an das DDR-Museum mit dem Vorschlag heran, zum 60. Jahrestag der Tilgung des Traditionsnamens der Schule durch die SED-Instanzen eine Veranstaltung mit ehemaligen Schülern und Lehrern durchzuführen. Da ich, wenn auch sieben Jahre nach den Ereignissen, selbst diese Schule besuchte hatte, sagte ich sofort zu.
So belanglos die Neubenennung einer Schule heute erscheint, so politisch brisant war sie im Jahr 1958. Die SED-Führung begann an allen Fronten einen ideologischen Feldzug gegen bürgerliche Relikte in der sozialistischen Gesellschaft. Die Partei hatte insbesondere die Schulen und Universitäten im Auge, wo sich angeblich Reste eines liberalen Geistes erhalten hatten. Allein schon der Name „Graues Kloster“ war der Partei ein Dorn im Auge.
Den Auftakt für die Kampagne gegen das traditionsreiche Gymnasium machte Walter Ulbricht persönlich. Am 10. Juni 1958 erklärte er auf dem 36. Plenum des ZK der SED: „Es gibt in Berlin eine Oberschule, das ‚Graue Kloster‘, von der 27 Prozent der Schulabgänger nach Westberlin und Westdeutschland gehen.“ Das Donnergrollen vom Olymp der Staatspartei konnte niemand überhören. Die Lehranstalt im Herzen des historischen Berlin, in der seit 1574 Latein und Griechisch unterrichtet wurde, war als Hort der Reaktion ausgemacht. Die Hetzjagd auf unliebsame Lehrer und Schüler begann.
Im Archiv tauchte ein Rundfunkbeitrag von Hans Modrow auf, der eilfertig in den Chorus einstimmt. In diesem Beitrag wird behauptet, dass für einen der strafversetzten Lehrer demonstrativ für ein Abschiedsgeschenk gesammelt worden sei und die Überreichung desselben auch in diesem Sinne interpretiert wurde. Weiterhin beklagt Modrow die wenig würdige Art, in der der Tag der Nationalen Volksarmee begangen worden sei sowie die passive Einstellung der Schüler zur „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST), der die Mitgliedschaft in einem Ruderklub vorgezogen werde.
Der Name der Schule wurde schließlich getilgt, Lehrer und Schüler ideologisch diszipliniert oder von der Schule gejagt. „Die Schule wird ihr Gesicht radikal ändern. Anstelle von 30 Prozent Arbeiterkindern werden im kommenden Herbst erstmalig 75 Prozent der Neuaufgenommen Kinder von Arbeitereltern sein. Sechs Lehrer werden die Schule verlassen und an ihre Stelle junge, kämpferische Kräfte treten“, schrieb die „Berliner Zeitung“, das SED-Bezirksorgan am 28. Juni 1958. Überflüssig zu betonen, dass sich hinter den angeblichen Arbeiterkindern zum erheblichen Teil die Sprösslinge von hauptamtlichen Funktionären verbargen, die im Klassenbuch ein A wie Arbeiter hatten.
Die Junge Welt, die Tageszeitung der FDJ, jubelte angesichts des Sieges über den inneren Feind: „Klostergeist wird ausgetrieben.“ Wieder hatte der Sozialismus eine Schlacht gewonnen und viele junge Menschen verloren. Die Schule wurde umbenannt und erhielt den prosaischen Namen „2. EOS“. Die Abkürzung stand für Erweiterte Oberschule. Die Pflege der alten Sprachen war das einzige Relikt, das in den kommenden Jahren geduldet wurde. Hans Modrow wurde zu jener Veranstaltung eingeladen. Es gab ein Vorgespräch, und es war ihm klar, dass er an diesem Abend keine Heldenrolle spielen würde. Er wich nicht aus, sondern wollte sogar auf dem Podium sitzen, was die Veranstalter aber als unpassend empfanden. Neben anderen Beiträgen wurde auch das Tondokument aus dem Rundfunkarchiv vorgespielt. Die Vergangenheit schien dem Grabe entstiegen zu sein. Dann stand Modrow auf, fand aber kein einziges Wort zur Sache, sondern beklagte sich ausführlich darüber, dass ihm Akten des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes zu seiner Person nicht umgehend ausgehändigt würden. Auch in vielen Externer Link: rückblickenden Texten, die er in den letzten Jahren noch verfasste, räumte er diesem Umstand mitunter mehr Raum als der Selbstkritik ein.
So war es auch in der Diskussion über das Graue Kloster. Beim Vorgespräch auf der Kaffeehausterrasse am Spreeufer, unweit des Museums, hatte er sehr sachlich über die damaligen Auseinandersetzungen berichtet. Sobald er aber dem Auditorium gegenüberstand, wirkte er wieder wie der Agitator von einst.
Am Ende eines Nachrufes sollte ein versöhnlicher Schluss stehen. Einen „Helden des Rückzugs“ hat Christoph Dieckmann Hans Modrow in der Zeit genannt. Er wurde zum Nachlassverwalter eines gescheiterten Systems, genauer gesagt: seines Systems. In seinen Schriften und Auftritten schwankte er zwischen Trotz und Klarsicht. Das allein mag schon ausreichend sein, seiner mit Nachsicht zu gedenken, wie es Bertolt Brecht in seinem berühmten Gedicht an die Nachgeborenen gefordert hat.
Zitierweise: Stefan Wolle, „Der Mann aus dem inneren Zirkel“, in: Deutschland Archiv, 09.03.2023, Link: www.bpb.de/518940.
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