Die Beobachtung des westdeutschen Verlagswesens durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR
Das Beispiel des Suhrkamp-Verlags
Berthold Petzinna
/ 27 Minuten zu lesen
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Die Arbeit des MfS galt auch der Abwehr der "Politisch-Ideologischen Diversion". Westverlage mit eher linkem Profil wie Suhrkamp gerieten ins Visier des MfS, das eine gesteuerte Kampagne argwöhnte. Politische und ökonomische Motive lagen auf diesem Feld in Konflikt.
I
Unter den bundesdeutschen Verlagen waren – sieht man einmal von politisch an DDR-Positionen angelehnten oder von dort unterstützten Unternehmen wie Pahl-Rugenstein in Köln ab – neben Luchterhand die Verbindungen des Suhrkamp-Verlags in die DDR besonders eng. Diese Kontakte wurzelten in dem nahen Verhältnis, das den Verlagsgründer Peter Suhrkamp mit Bertolt Brecht verband. Dieses Vertrauensverhältnis bewog Brecht, der im Ostteil Berlins lebte, Suhrkamps 1950 in Frankfurt am Main gegründetem Unternehmen die Rechte an seinem Werk einzuräumen, das für die DDR bei Aufbau erschien. Bedenkt man die Rolle, die Brechts Erbe im Selbstverständnis der DDR einnahm, so nimmt es nicht wunder, dass diese Konstruktion Spannungen erzeugte, die politischer Natur waren. Bereits diese Konstellation hätte ein Interesse des Ministeriums für Staatssicherheit an dem Westverlag motivieren können.
Siegfried Unseld, der Nachfolger des 1959 verstorbenen Verlegers Suhrkamp, – und mit ihm der Suhrkamp-Verlag – gerieten jedoch am Rande einer anders gerichteten, groß angelegten Spähaktion ins Blickfeld des MfS. Zu den vielen nach der Machtübernahme durch die NSDAP 1933 emigrierten bzw. vertriebenen deutschen Intellektuellen gehörte auch der Philosoph Ernst Bloch. Und gleich manch anderen fiel Blochs Wahl nach 1945 auf die sowjetische Besatzungszone (SBZ), später DDR. Doch Bloch, Professor für Philosophie an der Leipziger Universität, geriet recht bald in Konflikt mit der politischen Linie der SED, der überdies auch die philosophische Orientierung dieses Denkers der Utopie suspekt war. In der Folge 1957 zwangsemeritiert, sah er sich zunehmend isoliert.
Schwierigkeiten mit seinem Hausverlag – Aufbau im Ostteil Berlins – ließen Bloch anderwärts – im Westen – nach einem Verleger Ausschau halten. Blochs Bemühungen entgingen auch seinen Überwachern aus dem MfS nicht. Zunächst erwog der ins Abseits gedrängte Philosoph den Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch, der Interesse an dem Hauptwerk "Das Prinzp Hoffnung" gezeigt hatte, so berichtete es ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Es waren politische Gründe, die Bloch die Verbindung mit dem bekannten Kalten Krieger Joseph Caspar Witsch scheuen ließen. Ebenfalls aus politischen Gründen, die diesmal vom Aufbau-Verlag ausgingen, kam der angesehene Verlag von Günther Neske nicht zum Zuge – er verlegte mit Martin Heidegger einen nationalsozialistisch belasteten Kollegen Blochs. Blochs letztliche Entscheidung für den keine zehn Jahre alten Verlag von Peter Suhrkamp hatte auch einen politischen Hintergrund, und wieder berichtete ein IM darüber: "Dieser Verleger sei einer der fortschrittlichsten Westdeutschlands und habe auch die Verlagsrechte für Bert Brecht. Wenn der Aufbau-Verlag die Lizenz für Suhrkamp nicht gibt, will Bloch seinen Vertrag mit dem Aufbau-Verlag kündigen und alle Rechte Suhrkamp übertragen."
In dem Frankfurter Verlag hatte noch sein im März 1959 verstorbener Gründer beabsichtigt, Auszüge aus Blochs Werk "Spuren" in der Bundesrepublik zu veröffentlichen. Sein Nachfolger Siegfried Unseld, der
Ernst Bloch 1958 bereits kennen gelernt hatte, entschied sich nun für das dreibändige Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung". Den Bloch-Überwachern des MfS war er bereits vor der Publikation kein Unbekannter mehr. Die engmaschige Überwachung Blochs, die neben dem Einsatz von IM auch eine Verwanzung von dessen Wohnung einschloss, hatte auch bezüglich der Produktion des "Prinzips Hoffnung" in Frankfurt und Unselds Rolle sowie seines Verhältnisses zu dem Leipziger Emeritus manche Erkenntnisse erbracht. Eine herausgehobene Gelegenheit ergab sich im Sommer 1960 – Ernst Bloch beging am achten Juli in Leipzig seinen 75. Geburtstag. Auch über diesen Besuch des Verlegers existieren detaillierte Berichte.
Siegfried Unseld blieb in dem umfangreichen Vorgang zu Ernst Bloch und dessen Leipziger Umfeld weiterhin in den Akten des MfS präsent. Die Kontakte, die Unseld und der Verlag mit Jürgen Teller, Blochs in der DDR drangsaliertem Schüler, unterhielten, ließen über die Jahre hin weiteres Überwachungsmaterial anfallen. In Teller und Unseld sah man bedeutsame Akteure für die "Organisierung einer feindlichen Tätigkeit in der DDR", wobei 1968 das Bonner Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen des SPD-Ministers Herbert Wehner als Steuerungsorgan angenommen wurde.
Der Fall Ernst Bloch bildete den Auftakt, doch nicht den ganzen Umfang der Beobachtung des Suhrkamp-Verlags und seines Leiters durch das MfS. Unseld wurde seitens des Ministeriums durch die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin (Abteilung XX) "operativ bearbeitet". Zumindest in den Jahren 1963–1965 wurden seine Einreisen in die DDR registriert.
II
Gleichsam den Rahmen dieser Überwachung bildete dabei ein Kernanliegen im Tätigkeitsprofil dieses Geheimdienstes – die Verhinderung bzw. Kontrolle der sogenannten "Politisch-ideologischen Diversion" (PID) sowie ihrer vermeintlichen Träger und Instrumente, insbesondere der häufig geargwöhnten "Kontaktpolitk". Diese Bedrohungsvorstellung steigerte sich im Zuge des proklamierten "Wandels durch Annäherung" und im Verlauf der Neuen Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung – von DDR-Außenminister Otto Winzer als "Aggression auf Filzlatschen" bezeichnet – und der anschließenden Vertragspolitik noch.
Das MfS definierte die PID, die in den späten 1950er-Jahren für das Ministerium eine Rolle zu spielen begann, in einem für den Hausgebrauch bestimmten "Wörterbuch der politisch operativen Arbeit" in einem Bandwurmsatz mit Verweiszeichen auf einen benachbarten festgelegten Begriff: "Mit der politisch-ideologischen Diversion strebt der Feind in einem langfristig angelegten, mehrstufigen Prozeß subversive Ziele an. Sie bestehen in der Zersetzung des sozialistischen Bewußtseins bzw. der Störung und Verhinderung seiner Herausbildung, in der Untergrabung des Vertrauens breiter Bevölkerungskreise zur Politik der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Staaten, in der Inspirierung antisozialistischer Verhaltensweisen bis hin zur Begehung von Staatsverbrechen, in der Mobilisierung feindlich-negativer Kräfte in den sozialistischen Staaten, in der Entwicklung einer feindlichen, ideologischen, personellen Basis in den sozialistischen Staaten zur Inspirierung politischer → Untergrundtätigkeit sowie im Hervorrufen von Unzufriedenheit, Unruhe, Passivität und politischer Unsicherheit unter breiten Bevölkerungskreisen."
Unter "Kontaktpolitik" wiederum verstand man ein Vehikel zu diesem Zweck und zur generellen Behinderung der erwünschten sozialistischen Entwicklung: "Zur Durchsetzung dieser Ziele werden durch Zentren der politisch-ideologischen Diversion, Massenmedien, Geheimdienste, staatliche und private Einrichtungen, Parteien und gesellschaftliche Organisationen, wissenschaftliche Institute, wirtschaftsleitende Organe, Konzerne, Betriebe und andere Einrichtungen des imperialistischen Herrschaftssystems zielgerichtete Kontakte aufgenommen und mißbraucht." Kontakte auch rein beruflicher Art standen dabei tendenziell unter dem Generalverdacht, zumindest das Vorspiel eines solchen "Mißbrauchs" zu sein. Grundsätzlich ging man im MfS bis in die letzten Jahre der DDR davon aus, dass es sich bei der PID um einen gesteuerten und konzertierten Angriff handelte. Dementsprechend neigte man dazu, die Westmedien als zentral dirigiert anzusehen. Dies schloss auch Buchverlage aus der Bundesrepublik ein. Generell räumte das MfS im Zusammenhang der PID-Konzeption ästhetisch-kulturellen Faktoren einen hohen Stellenwert ein, weswegen Schriftsteller und Angehörige des Verlagssystems im Rahmen der Beobachtung bzw. Behinderung der sogenannten "Kontaktpolitik" gleichfalls in einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit standen.
Eine Dienstanweisung des Ministers Erich Mielke aus dem Jahr 1969 beleuchtet in Teilen diesen Zusammenhang. Ausgehend von der Annahme einer Intensivierung der PID und der ihr zugeordneten Kontaktpolitik heißt es grundsätzlich, die Beobachtung des schriftstellerischen, des buchhändlerischen und des Verlagsbereichs bildeten einen Schwerpunkt der MfS-Arbeit. Als konkrete Zielsetzung wird unter anderem bestimmt: "Durch den Einsatz des inoffiziellen Netzes und anderer operativer Maßnahmen ist das Auftreten von Kulturschaffenden und Mitarbeitern der Massenkommunikationsmittel aus Westdeutschland, Westberlin und dem nichtsozialistischen Ausland in der DDR ständig zu überwachen und zu analysieren. Versuche feindlichen Auftretens sind vorher aufzuklären und zu verhindern. Bestrebungen von Personen, feindliche Ideologie zu verbreiten, müssen in Zusammenarbeit mit der Partei und anderen gesellschaftlichen und staatlichen Organen durch geeignete operative Maßnahmen unterbunden werden." Darüber hinaus sollten durch IM "die kulturellen Einrichtungen und Massenkommunikationsmittel in Westdeutschland und Westberlin, die in besonderem Maße in das System der politisch-ideologischen Diversion einbezogen sind, nach ihrer Zielstellung, Wirkungsweise und ihrer Stellung im System der politisch-ideologischen Diversion" ausgeforscht werden. Ausdrücklich hieß es: "Dabei hat sich die Aufklärungstätigkeit neben den Geheimdiensten, staatlichen Organen und volksfeindlichen Organisationen in Westdeutschland und Westberlin auf Verlage, Verlagsgruppierungen und Einrichtungen der Massenkommunikationsmittel zu konzentrieren, deren Angriffe sich besonders gegen die kulturpolitische Entwicklung der DDR richten." – Eine spätere Überschau aus dem Jahr 1983 macht deutlich, dass im MfS die Publikationspolitik von liberalen bis linken Verlagen – genannt werden imter anderen Luchterhand, Suhrkamp, Wagenbach und Rotbuch – sowie deren Kontakte zu DDR-Autoren als besonders bedrohlich gewertet wurde.
III
Mielkes Direktive von 1969 begründete keine neue Praxis, auch nicht gegenüber dem Suhrkamp-Verlag. Bereits im Vorjahr hatte die mit der Beobachtung des Kulturbereichs befasste Hauptabteilung (HA) XX des MfS mit Blick auf die Leipziger Buchmesse darauf verwiesen, das Frankfurter Unternehmen, namentlich der Verleger Siegfried Unseld und der Cheflektor Walter Boehlich, bildeten seit Jahren "einen Schwerpunkt in der Bearbeitung der Kontaktpolitik gegenüber den Verlagen und Schriftstellern der DDR. Von den genannten leitenden Mitarbeitern und auch von den namhaften Autoren des Verlages wie [Hans Magnus] ENZENSBERGER, [Herbert] MARCUSE, [Martin] WALSER, BLOCH und Peter WEISS geht eine aktive Unterstützung der politisch-ideologischen Diversion des Gegners gegen die künstlerische Intelligenz der DDR aus."
Der Suhrkamp-Verlag hatte 1965 erstmals mit einem Stand an der Leipziger Buchmesse teilgenommen, womit er im westdeutschen Verlagswesen eine Vorreiterrolle einnahm. Diese auch im Sinne einer Entkrampfung des innerdeutschen Verhältnisses erfolgte Initiative nahm sich in der Optik des MfS ganz anders aus.
Der Stand des Verlags wurde als Publikumsmagnet und Ort lebhafter Diskussionen auffällig, zur Leipziger Buchmesse 1967 merkte man an: "Obwohl bereits bei Eingang des Messegutes durch die Zollorgane der DDR, Vertretern des Buchexportes, dem Ministerium für Kultur, Hetzschriften ausgesondert wurden, ergab die Überprüfung am 2.9.67 weitere 10 Titel übler Hetzschriften gegen unseren Staatsratsvorsitzenden, unsere Partei und unseren Staat. Die Titel wurden sichergestellt und den Zollorganen übergeben." (Ein weiteres Indiz für die von diesem Unternehmen ausgehende Gefährdung mag das MfS überdies im Klauverhalten der DDR-Messebesucher gesehen haben, die die Gelegenheit – unter faktischer Duldung durch die Westverlage – nutzten, um sich in den Besitz für sie sonst schwer oder gar nicht zugänglicher Literatur zu setzen. Für 1975 notierten die Überwacher 20 Einzelfälle, und setzten hinzu: "Vorrangig betrafen die Diebstähle die Verlage Suhrkamp (7) und S. Fischer (5).")
Bereits in einer vom Frühjahr 1966 datierenden "Analyse über die politisch-operative Situation im Verlagswesen" hieß es zum deutlicheren Profil westdeutscher Verlage in der DDR schlussfolgernd: "Die plötzliche und massive Aktivität des westdeutschen Verlagswesens für das Zustandekommen von Verbindungen zum Verlagswesen der DDR und die jetzt einsetzenden Versuche der ideologischen Unterwanderung lassen erkennen, daß es sich hierbei um einen Teil der ideologischen Kriegsführung der Bonner Regierung handelt. Man nutzt die Geschäftsinteressen der westdeutschen Verlage geschickt aus, um sie in den direkten ideologischen Kampf gegen die DDR einzubeziehen." Diese, für die Zeit der Bonner Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger wegweisende Analyse wurde auch durch einen für die westdeutsche Verlagsszene optimal platzierten Zuträger gestützt. Im Mai 1967 heißt es in einem Treffbericht zur Quelle "Kant" über diesen Geheimen Informator (GI): "Der Bericht des GI bestätigt die bereits aus anderen Informationen bekannten Tatsachen, daß der Formierungsprozeß im westdeutschen Verlagswesen jede progressive Literaturpolitik unmöglich" mache. Über die westdeutschen Verleger wurde berichtet: "Ihre Solidarisierung mit Kießinger [sic!] und dessen angeblicher Initiative zur Entspannung und Wiedervereinigung Deutschlands macht eine Herausgabe progressiver, die westdeutschen Verhältnisse entlarvender Literatur und eine echte kommerzielle Zusammenarbeit mit Verlagen aus der DDR unmöglich." – Bei "Kant" handelte es sich um Fritz-Georg Voigt, seit 1952 Lektor im Aufbau-Verlag, der 1966 zum Leiter des renommierten Unternehmens aufstieg.
Durch "Kant" hatte das MfS auch einen Mann auf den Buchmessen in Frankfurt am Main. Auch in diesen Berichten war – neben gehaltvollen Beobachtungen etwa hinsichtlich der Konzentrationstendenzen im westdeutschen Verlagswesen – die Vorstellung einer aus dem politischen System der Bundesrepublik gesteuerten Literaturverbreitung gegenwärtig, so zum Beispiel hinsichtlich der Publikation der Schriften Mao Tse Tungs in der linksoppositionellen Studentenbewegung 1967. Ohne jeden Beleg folgt die Behauptung: "Bonn sieht jedoch in der Verbreitung der Lehren Maos eine entscheidende Waffe im Rahmen ihrer neuen Ostpolitik, zur ideologischen Unterwanderung und Zersetzung des sozialistischen Lagers. Besonders dient sie ihnen aber zur Verschärfung politisch-ideologischer Diversion gegen die Bürger der DDR." 1971 sah "Kant" diesem Muster folgend eine konzertierte "politisch-ideologische[] Offensive westdeutscher Einrichtungen gegen die Schriftsteller der DDR" laufen.
Mit solchen Einschätzungen stand "Kant" unter den MfS-Konfidenten aus der Buchbranche der DDR nicht allein. Eberhard Günther, ab 1974 Chef des Mitteldeutschen Verlages in Halle, war zuvor in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel tätig, der zentralen DDR-Zensurbehörde. In einem Kontaktgespräch mit dem MfS vom September 1972 äußerte er sich als Quelle "Richard" dahingehend, "daß es sehr schwierig sei, eine zentrale staatliche oder anders gelagerte Lenkung des westdeutschen Verlagswesens bezüglich deren Politik gegenüber den sozialistischen Staaten konkret nachzuweisen. Nur aus der Summe der Veröffentlichungen mit antikommunistischem Charakter, oder auch der Titel, die von Autoren aus den sozialistsichen Staaten vorgelegt werden, läßt sich eine zentrale Lenkung der Politik der westdeutschen Verlage ableiten. Aus Presse- und sonstigen Veröffentlichungen kann man dafür jedoch kaum Beweise ableiten. 'Richard' schränkte hier zwar ein, daß es vielleicht in der DDR Einrichtungen oder Institutionen gibt, die durch den Zugang zu umfangreicherem Quellenmaterial zu anderen Schlußfolgerungen oder konkreteren Erkenntnissen gekommen sind, sie als staatliche Leitung des Verlagswesens müssen sich z. Zt. noch auf Hypothesen und vage Vermutungen stützen … Wie die zentrale Lenkung und Steuerung der westdeutschen Verlage vor sich geht, kann man z. Zt. überhaupt nicht sagen, obwohl 'Richard' überzeugt ist, daß es sie gibt. Aber wer da steuert und über welche Kanäle, ist unbekannt."
IV
In dieses Umfeld des Verdachts war auch die Beobachtung des Suhrkamp-Verlags und die seines Leiters eingebettet. Die Insider-Informationen von "Kant" flossen im Februar 1967 zu einem Personen- und Unternehmensprofil der HA XX, verfasst von Peter Gütling, dem MfS-internen Hauptakteur für die Beobachtung des Verlagswesens, zusammen. Die gebrochene und von Spekulation nicht freie Bilanz ist negativ, wobei auch der ökonomische Aspekt beachtet wird. Resümierend heißt es zum Verleger: "Obwohl die Person Unseld noch äußerst undurchsichtig ist, steht jedoch eines fest, daß er der DDR mit seiner Verlagspolitik und seinem Auftreten ständig ideologischen Schaden zufügt." Zwar wird der Publikationspolitik im Suhrkamp-eigenen westdeutschen Insel-Verlag ein positives Zeugnis ausgestellt, doch wird die regierungskritische politische Position Unselds in der Bundesrepublik wegen dessen Veröffentlichung von missliebigen Texten aus der Feder von DDR-Autoren als bloßes Manöver gewertet, "um sowohl bei den Verlagen, als auch bei den Autoren der DDR den nötigen Anklang zu finden und auch bei den staatlichen Organen der DDR kein Mißtrauen bei seinem Wirken in der DDR hervorzurufen." Unseld könne durch seinen Einfluß auf DDR-Autoren womöglich "eine wesentliche Stütze Bonns bei der politisch-ideol. Diversion gegen die DDR" sein.
Die Rolle des Verlegers relativiert sich jedoch im Rahmen des Berichts stark, da der Schwerpunkt nicht auf dessen Person, sondern auf der Rolle vermeintlicher Einflussgruppen und Fremdinteressen in dem Frankfurter Unternehmen liegt. Zwei Faktoren stehen dabei im Zentrum der Mutmaßungen: die "Gruppe 47" und der Cheflektor Walter Boehlich. Boehlich war als Repräsentant Suhrkamps auf der Leipziger Buchmesse in der DDR kein Unbekannter. Vor dem Hintergrund seiner Kontakte in die DDR und des richtig beobachteten gespannten Verhältnisses zwischen dem Cheflektor und seinem Verleger gerät Boehlich dem Informanten "Kant" zum Mastermind einer nebelhaften Verschwörung. Vage heißt es hierzu: "Auf der Grundlage kleiner Begebenheiten und Äußerungen des BOEHLICH muß man jedoch annehmen, daß hinter ihm Personen oder Interessengruppen stehen, in dessen [sic!] Auftrage er eine sehr geschickte, gegen die DDR gerichtete Politik im Suhrkamp-Verlag betreibt und auch Unseld ständig auf diese Positionen hinführt bzw. auch gegen ihn bestimmte Maßnahmen durchführt." Boehlich blieb kurzzeitig im Visier des MfS, doch erlosch das Interesse offenbar spätestens mit seinem Ausscheiden aus dem Verlag 1968.
Komplizierter als im Fall der an Boehlichs Person geknüpften Phantasien liegt die Sache hinsichtlich der Bedeutung der "Gruppe 47". Die Verbindungen Suhrkamps und speziell Siegfried Unselds mit der literarischen Vereinigung um Hans Werner Richter waren in der Tat eng. Im Laufe der Jahre war es Suhrkamp gelungen, in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Art Hausverlag der Autoren dieser die bundesdeutsche Literaturentwicklung mit prägenden Gruppierung zu avancieren. Hans Werner Richters Literatenzirkel hatte zudem bereits Jahre zuvor die Aufmerksamkeit des MfS erregt. In einer ausführlichen "Einschätzung" der Gruppe vom November 1963 wird ihr für die Frühphase zwar ein progressiver Charakter attestiert, doch habe sich der Antikommunismus in den letzten Jahren in ihren Reihen verstärkt. Die zunehmende Verzahnung der als SPD-nah gewerteten Gruppe mit dem Verlagswesen der Bundesrepublik – nicht jedoch mit dem Suhrkamp-Verlag – wird bereits bemerkt. Zusammenfassend heißt es: "Auf Grund des vorliegenden operativen Materials kann eingeschätzt werden, daß die Gruppe 47 gegenwärtig ein aktives und wirkungsvolles Zentrum der politisch-ideologischen Diversion gegen die Kulturschaffenden der DDR darstellt. Die Arbeit der Gruppe 47 unterscheidet sich von anderen Zentren der politisch-ideologischen Diversion auf kulturellem Gebiet dadurch, daß einzelne Angehörige der Gruppe 47 direkt und individuell auch auf dem Territorium der DDR arbeiten." Als aktiv in der Verbreitung von DDR-Literatur in der Bundesrepublik wird neben anderen Gruppenmitgliedern Hans Magnus Enzensberger genannt.
Aus der "Gruppe 47" spielte der Suhrkamp-Autor und zeitweilige -Lektor Enzensberger die prominenteste Rolle im Suhrkamp-Portrait vom Februar 1967. Offenbar sah "Kant" in Enzensberger – dem auch sonst, ebenso wie dem von ihm bei Suhrkamp herausgegebenen "Kursbuch" die Aufmerksamkeit des MfS galt – eine Art Rädelsführer von "Gruppe 47"-Mitgliedern und Suhrkamp-Autoren bzw. -Mitarbeitern, denen er noch Martin Walser, Peter Hamm und
Uwe Johnson zurechnete. Dem Quartett, insbesondere aber Enzensberger galt der Vorwurf, den Verlag auf "politisch recht zweifelhafte DDR-Autoren" auszurichten. Die Genannten – mit der möglichen Ausnahme von Hamm – waren seinerzeit bereits MfS-bekannt. Die in ihrer Kohärenz und Handlungsfähigkeit maßlos überschätzte "Gruppe 47" geriet so in die Rolle eines Steuerungszentrums des Verlages, zum eigentlichen Akteur. Dazu hieß es: "Das Festlegen seines Verlages auf die literarische und politische Linie der 'Gruppe 47' hat Unseld jegliche politische und damit auch literaturpolitische Selbständigkeit genommen."
Dieses Urteil hinderte das MfS nicht daran, auch den Verleger weiter im Auge zu behalten, zumal die Krise der Gruppe für einen Insider wie "Kant" 1967 offenkundig war. Das Misstrauen blieb wach, auch wertete man die Position des Verlags deutlich auf: Er habe sich zu "einem monopolähnliche[n] Unternehmen" entwickelt. Unseld erschien vor dem Hintergrund der PID als Träger der "Kontaktpolitik" und als Dirigent seiner Mitarbeiter und Autoren in diesem Sinne. In einem entgleisten Satz resümierte der MfS-Bearbeiter: "Nach den bekanntgewordnen Fakten ist der Verdacht berechtigt, daß durch den Suhrkamp-Verlag, geleitet von dem Dr. UNSELD und vermutlich unterstützt durch Bonner Regierungsstellen, eine gegen die DDR gerichtete subversive Tätigkeit zu organisieren trachtet." Weiterhin galt auch die Aufmerksamkeit des Informanten "Kant" seinem Frankfurter Verlegerkollegen. Vor dem Hintergrund der turbulenten Frankfurter Buchmesse 1967 und den Richtungskämpfen im dortigen Börsenverein sprach ein weiteres Mal seinen – womöglich durch Konkurrenzmotive befeuerten – Argwohn aus. Bezogen auf Unselds Kritik am Kurs des Börsenvereins protokollierte Peter Gütling seine Quelle, "daß mit einer Ablösung des jetzigen Vorstandes des westdeutschen Börsenvereins durch Leute wie Unseld keinesfalls der negative Einfluss auf das Verlagswesen der DDR aufhören würde. Er schätzt eher ein, daß die Lage im Gespräch der Börsenvereine beider deutscher Staaten dann wesentlich komplizierter wird, da Unseld in seiner Politik von der möglichen Anerkennung der DDR ausgeht." Nach wie vor war Unseld "Kant" ein Rätsel: "Er kann sich kein klares Bild von Unseld machen und würde es durchaus für möglich halten, daß er auf der Linie der Wehnerschen Politik gegenüber der DDR marschiert." Im Januar 1968 wurde schriftlich fixiert, GI "Kant" nicht allein auf Unseld anzusetzen: "Durch ständige Kontakttätigkeit ist der U. als Abschöpfungsquelle durch den GI auszunutzen. Richtung: Feststellung und Aufklärung der gegnerischen Absichten, unter Mißbrauch der kulturellen Beziehungen gegen die DDR vorzugehen. Aufklärung der nazistischen Einflüsse und der gegnerischen Kontaktpolitik im westd. Verlagswesen und der 'Gruppe 47' gegen die DDR."
V
Von der Frankfurter Buchmesse 1969 konnte "Kant" – diesmal in einem Bericht für den Aufbau-Verlag unter Klarnamen – einen Erfolg in der Konterkarierung der "Kontaktpolitik" vermelden. Einen von Unseld ausgerichteten Empfang für DDR-Verleger ließ man ins Leere gehen: "An diesem Empfang beteiligten sich nach Absprache nur zwei Verleger von uns, so daß Unselds Absicht vereitelt wurde." Alarmierter klang ein Bericht zwei Jahre darauf. Bei Suhrkamp war das Lektorat erweitert worden, was "Kant" zufolge auf neue Initiativen in Richtung auf DDR-Autoren hindeutete. Unseld und die neue Kraft – Elisabeth Borchers – hätten zusammen die besten Voraussetzungen für eine aktive Literaturpolitik gegenüber der DDR, Wachsamkeit sei angebracht.
Elisabeth Borchers war bereits zuvor als Mitarbeiterin des Luchterhand-Verlags ins Visier des MfS geraten. Sie war im Rahmen der "Bearbeitung des Vorganges gegen Biermann" aufgefallen und unter Beobachtung gehalten worden. Ende 1969 erblickte man, das heißt Peter Gütling, in ihr eine Anhängerin der neuen sozialliberalen Bundesregierung und deren Neuer Ostpolitik und resümierte: "Das bisher vorliegende operative Material läßt die Einschätzung zu, daß es sich bei der E. Borchers um eine aktive Vertreterin der gegnerischen Kontaktpolitik und der politisch-ideologischen Diversionstätigkeit gegenüber den Schriftstellern und Verlagsmitarbeitern der DDR handelt." Das MfS monierte die Auswahl der Autoren, die Elisabeth Borchers für Luchterhand in der DDR angesprochen und ins Programm des Verlages genommen hatte: Günter Kunert, Sarah Kirsch, Peter Huchel, Wolf Biermann, Dieter Mucke, Brigitte Reimann und Georg Maurer hätten allesamt kritisch zur kulturpolitischen Entwicklung der DDR und deswegen dort in der Kritik gestanden. Der Geheimdienst gewann Borchers' so beschriebener Tätigkeit zwei politische Pointen ab: "Damit bekundet sie einmal ihre Sympathie für diese Autoren und unterstützt zum anderen den Alleinvertretungsanspruch in der Form, daß allein westdeutsche Verlage bestimmen bzw. dazu berufen sind zu entscheiden, was wirkliche Literatur in Deutschland ist." Der zweite Gesichtsspunkt, der die Frage der Deutungshoheit über die DDR-Kultur anbetraf, sollte auch weiterhin eine Rolle spielen.
Wenige Monate darauf hatte sich der Argwohn gegenüber Borchers bereits verdichtet. Nunmehr hieß es: "Ihre Beharrlichkeit in der Pflege und dem Ausbau der Kontakte zu Verlagsmitarbeitern und Autoren der DDR läßt den Schluß zu, daß sie durch Einzelpersonen oder Institutionen gelenkt und gesteuert wird."
Im März 1972 ging man davon aus, dass das westdeutsche Verlagswesen, ausdrücklich jedoch die Unternehmen Suhrkamp und Luchterhand, die politischen Rahmenbedingungen für die Ausweitung von Beziehungen zu DDR-Autoren und -Verlagen als günstig einschätzten. Elisabeth Borchers wies man dabei im Fall Suhrkamp eine Schlüsselstellung zu. Es war insofern konsequent, dass die Lektorin auch in den Folgejahren im Visier des MfS blieb. Dabei wuchs ihrem Handeln im Zuge von Abgrenzungsbestrebungen der DDR, die die Etablierung eines neuen Verhältnissses zur Bundesrepublik in den 70er-Jahren begleiteten, eine überwölbende politische Dimension zu. Im Abschlussbericht zur Operativen Personenkontrolle gegen Elisabeth Borchers stand für Peter Gütling fest: "Durch eingesetzte IM und patriotische Kräfte wurde herausgearbeitet, daß die BORCHERS als aktive Verfechterin der Ostpolitik der SPD ihr Wirken gegen Verlage und Schriftsteller der DDR auf die Verwirklichung der Politik des Alleinvertetungsanspruchs und der angeblichen Einheit der deutschen Kulturnation ausrichtete. Dieser Zielstellung waren auch ihre ständigen Bemühungen untergeordnet, Schriftsteller und Nachwuchsautoren der DDR fest an BRD-Verlage zu binden … und sie durch vielfältige Maßnahmen … in den BRD-Literaturbetrieb zu integrieren."
VI
1975 schrieb Gütling, gestützt auf die Angaben gleich mehrerer auf der Frankfurter Buchmesse anwesender IM, ein weiteres Portrait Siegfried Unselds. Allgemein hieß es eingangs, den Stellenwert der Untersuchung markierend: "UNSELD ist seit Jahren mit der SPD liiert. Wie bereits vor einigen Jahren hat er sich heute wieder zum kulturellen Aushängeschild, zum Kulturalibi der BRD entwickelt. Selbst nach den bürgerlichen Moral- und sonstigen Begriffen ist der Suhrkamp Verlag der 'reinste und sauberste' Verlag der BRD. In seinem Programm gibt es weder Pornographie, noch extrem linke oder rechte Literatur. Er ist der Inbegriff des bürgerlich humanistischen Verlages und diese 'Suhrkamp-Kultur' ist deshalb auch nachahmenswerte Kultur in der BRD." Daran anschließend steuerte der Autor sein eigentliches Ziel an: "Diese Rolle und Bedeutung, die UNSELD in der BRD besitzt, läßt natürlich auch die Vermutung zu, daß er nicht nur Gönner und Geldgeber hat, sondern auch Aufgaben als 'seriöser Vorposten' in der kulturellen Außenpolitik der BRD zu erfüllen hat." Es folgt – wenn auch unter leisem Beweisvorbehalt – ein Sündenregister: Das Engagement des Verlags für tschechische Literatur vor und nach dem "Prager Frühling" und dessen Zerschlagung durch die Militärintervention des Warschauer Pakts wurden ganz im Kontext der vermeintlichen "Konterrevolution" in Prag interpretiert. In analoger Beleuchtung erscheinen andere Programmschwerpunkte des Verlages, doch stehen die DDR und Unselds Geschäftsgebaren gegenüber den dortigen Verlagen im Zentrum der Beschwerden, die in das Fazit mündeten: "Für einen UNSELD ist die DDR eben kein Ausland." Es waren ökonomische Notwendigkeiten, die auch im Buchgeschäft die Kontakte zum westdeutschen Branchenkollegen trotz politischer Unverträglichkeiten unabdingbar machten: "Übereinstimmend wird durch die Quellen erklärt, daß es auf Grund des politischen Auftretens und der Verhaltensweisen von UNSELD an sich notwendig wäre, die Geschäftsbeziehungen zu diesem Verlag einzustellen. Da er aber neben den Brecht-Weltrechten auch noch die Rechte zahlreicher namhafter Schriftsteller der westlichen Welt besitzt, ist der Kontakt zu ihm unumgänglich."
Die Tätigkeit des Verlages fügte sich für das MfS auch Ende der 70er-Jahre in ein umfassendes Bedrohungsszenario ein. Man ging davon aus, durch "verschärften ideologischen Krieg, die Aktivierung vorhandener und die Schaffung neuer feindlicher Zentren" werde das Ziel verfolgt, "mit der Schaffung politischer Plattformen und Organisationsformen zur Formierung einer antisozialistischen Bewegung in der DDR eine konterrevolutionäre Situation zu schaffen". Im Spektrum der daran vorgeblich beteiligten Medien, Organisationen und Einzelpersonen fanden auch Teile der Buchbranche ihren Platz: "Verlage und deren Mitarbeiter, die feindlich-negative DDR-Schriftsteller inspirieren, antisozialistische Literatur zu produzieren, diese systematisch aufbauen, veröffentlichen[,] korrumpieren und zu feindlichen Aktivitäten ermu[n]tern[:] · Rowohlt-Verlag Hamburg; · Luchterhand-Verlag Darmstadt[;] · Suhrkamp-Verlag Frankfurt/M.; · S. Fischer Verlag Frankfurt/M.[;] · Bertelsmann-Verlag".
Auch hier fällt wieder auf, dass es nicht etwa politisch konträre, rechtskonservative Unternehmen waren, denen die Aufmerksamkeit des MfS galt. Die Feindmarkierung traf gerade liberal bis linksliberal profilierte Verlage. Hinzu trat verstärkt ein weiterer Aspekt in der Wirksamkeit der Verlage, insbesondere des Auftretens von Unseld, das als Konterkarierung einer überwölbenden politischen Strategie der DDR-Politik betrachtet wurde. In einem Bericht Peter Gütlings vom März 1973 ist dies bereits erkennbar. Gestützt auf die Angaben des IM "Ernö" heißt es darin zu einem Empfang auf der
Leipziger Frühjahrsmesse: "Aus dem gesamten Auftreten von Dr. Unseld war sehr deutlich abzulesen, daß er sich als der Verleger der BRD präsentieren wollte, der sich schon immer um die Literatur der DDR, speziell die der jungen Autoren, bemüht habe. Aus diesem Grunde gab er sich überaus jovial und entgegenkommend und man gewann den Eindruck, als gehöre er zum Kreis der anwesenden DDR-Verleger, allerdings natürlich als ihr 'König'. Man kann nach Meinung des IM sogar so weit gehen, daß Dr. Unseld mit seinem Verhalten – und vor allem schon mit seinem Erscheinen – die 'Gemeinsamkeiten' der 'deutschen' Verleger dokumentieren wollte." Ähnlich im Tenor ist die Kritik an Unselds Erscheinung auf der Buchmesse in Frankfurt 1975: "Er spielt sich nicht nur als Gönner und Förderer der DDR, sondern auch als deren Repräsentant auf." Dies rührte an einen heiklen Punkt im Selbstverständnis der DDR ebenso wie an eine konkurrierende Position der offiziellen bundesdeutschen Politik: Einheit der Nation zumindest als "Kulturnation" oder nicht?
Ebenso wie die bekannte Frontbildung gegen konkurrierende Positionen aus dem politisch linken westlichen Spektrum fand auch dieses Thema seinen prominenten Platz in einer Übersicht, die das MfS der als feindlich eingestuften Arbeit westlicher Verlage aus dem deutschen Sprachraum im Frühjahr 1983 widmete. Man registrierte eine gesteigerte Aktivität mit vermeintlich antisozialistischer Stoßrichtung, die besonders durch die Publikation von DDR- bzw. ehemaligen DDR-Autoren an Authentizität zu gewinnen suche und in die DDR hineinzuwirken strebe: "Die Wiederbelebung der These von einer 'einheitlichen deutschen Nationalkultur' sowie die Propagierung eines angestrebten 'demokratischen Sozialismus' bzw. eines 'pluralistsichen Sozialismusmodells' stehen dabei im Mittelpunkt." Neben Suhrkamp waren unter den größeren Verlagen, die dergestalt als Zentren "politisch-ideologischer Diversion" ausgemacht worden waren, Rowohlt, Bertelsmann, Hanser, Fischer und Luchterhand vertreten. In Suhrkamps Fall fand man die Publikation von Titeln Volker Brauns, Peter Huchels, Thomas Braschs, Gerald Zschorschs und Stefan Schütz' erwähnenswert.
VII
Versucht man ein Fazit der MfS-Beobachtungen und Mutmaßungen zur westdeutschen Verlagsszene und speziell Suhrkamps, so fällt neben Unsicherheiten im Einzelnen der durchweg defensive Grundzug ins Auge. Man sah sich in einer Position drohender kultureller Überwältigung, in einem Kampf mithin um die "kulturelle Hegemonie" – eine Wahrnehmung, die in das verwaschene Konzept der allgegenwärtigen PID einfloss. Mehrfach wurde in den Berichten des MfS die Problematik angesprochen, eigene genehme Autoren im westlichen Markt zu verankern. 1969 vermerkte Fritz-Georg Voigt auf der Frankfurter Messe zwar ein generell verstärktes Interesse an Literatur aus der DDR, musste aber einschränken: "Überblickt man das Angebot westdeutscher Verlage an belletristischer Literatur von DDR-Autoren (Christa Wolf, [Günter] de Bruyn, Irmtraud Morgner, Stefan Heym), so muß man feststellen, daß unsere wichtigsten sozialistischen Werke fehlen ([Anna] Seghers 'Das Vertrauen', [Wolfgang] Joho 'Das Klassentreffen', [Alfred] Wellm, [Martin] Viertel, [Werner] Heiduczek, u.a.)." Von der Frankfurter Buchmesse 1975 hieß es betrübt: "Während die Lesung von Irmtruat [sic!] Morgner sehr viele Interessenten angelockt hatte, so daß man sogar in einen größeren Saal umziehen mußte, las Gerhard Holtz-Baumert vor ca. 20 Personen, wobei mindestens die Hälfte Mitglieder der DDR-Delegation waren." Noch sechs Jahre später stellte die Quelle "Richard" fest: "Grundsätzlich besteht kein Interesse und eine stuhre [sic!] abwehrende Haltung bezüglich solcher Autoren wie Max Walter Schulz, [Joachim] Nowotny, Erik Neutsch, die also in der DDR und im sozialistischen Lager eine positive Stellung auf Grund politischer Bekenntnisse inne haben."
Besonders sensibel reagierten die Interpreten aus den Reihen des MfS auch vor diesem Hintergrund auf das Konzept der "einheitlichen deutschen Kulturnation", das den Abgrenzungsbestrebungen der DDR-Führung entgegen lief. Willy Brandt erläuterte den politischen Stellenwert, den der Begriff für ihn hatte: "Die Identität von Nation und Staat war zerbrochen. Doch sie hatte in Deutschland ohnedies nur eine kurze Spanne existiert. Als 'Kultur-Nation' würde es seine Identität behalten, wie auch die Chance sein mag, daß in einem gesamteuropäischen Prozeß die beiden Staaten eines Tages Formen des Zusammenlebens finden, die mehr sind als bloß zwischenstaatliche Beziehungen." Dies wurde seitens der DDR-Politik entsprechend verstanden und als latente Bedrohung gewertet.
Auch die wirtschaftliche Angewiesenheit auf Beziehungen zu Westunternehmen blieb ein Stachel. Die partielle Verschränkung mit dem westlichen Marktgeschehen wurde auch in den 1980er-Jahren als politisch unwillkommen und bedenklich, ökonomisch jedoch unvermeidlich betrachtet. War bereits in den 70ern über die relative Schwäche der DKP-Verlage – des politisch gegebenen Partners im Westen – geklagt worden, so stellte sich zu Beginn des neuen Jahrzehnts dieses Problem noch schärfer. Marktgängigkeit im Westen begann so im Mitteldeutschen Verlag ein Kriterium für die Programmplanung zu werden, schließlich galt es, hinsichtlich des Exports in das kapitalistische Ausland den Plan zu erfüllen. Dazu führte IM "Willi" aus: "Da jedoch die westdeutschen Verlage Lizenzen nur von Büchern übernehmen, die keinen oder nur einen geringen sozialistischen Gehalt haben, gab und gibt es im Verlag Überlegungen, Editionen zu entwickeln, die in der BRD gekauft werden." Man erwog, für den Export in die Bundesrepublik gesonderte, gleichsam gereinigte Klappentexte zu produzieren. Dass auf diese Weise Exportmöglichkeiten durch die Preisgabe ideologischer Positionen erkauft werden könnten, sah man ebenso wie die vermeintlich wachsende Orientierung der Autoren, Texte unter dem Gesichtspunkt der Exporttauglichkeit gen Westen zu verfassen. Einen Ausweg sah "Willi" nicht. Resignation klang an: "Diese Situation gilt offensichtlich für alle belletristischen Verlage. Die besondere Schwierigkeit haben jedoch die Verlage, die DDR-Literatur produzieren." Die starke Stellung auch des Suhrkamp-Verlags konnte nicht einfach ignoriert werden. Bereits zuvor hatte es hinsichtlich Bertolt Brechts geheißen: "Wir kenne(n) Unseld ja als einen Erpresser." "Erpressen" kann nur, wer die Macht dazu besitzt.
Dr. phil, Historiker, Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Universität Leipzig, Berlin.
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