"Corona führte uns die Schwächen unserer Gesellschaft vor“
Hinrich Kuessner
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Wie lässt sich die Demokratie wieder nachhaltig stärken, fragt der ehemalige Volkskammerabgeordnete Hinrich Kuessner aus Greifswald in seiner „ungehaltenen Rede“ für das Deutschland Archiv. „Menschen wollen heute nicht nur regiert werden“, kritisiert der Sozialdemokrat, sondern sich beteiligen. Dabei lenkt der Theologe den Blick über Gemeinde- und Landesgrenzen hinaus, von den Lehren aus Corona bis hin zu deutscher Verantwortung in Afrika.
Vor 30 Jahren ist uns eine friedliche Revolution gelungen. Ein kalter Krieg wurde beendet. Mauern und Stacheldraht wurden abgebaut. Grenzen wurden geöffnet. Für uns DDR-Bürgerinnen und Bürger öffnete sich die Welt. Fotoausstellungen von damals in der DDR und von heute in unserem Teil der Bundesrepublik Deutschland zeigen, dass sich viel verändert hat.
Meine Stadt Greifswald wurde im Krieg nicht zerstört. Als Student reiste ich in den 1960er Jahren gerne in diese heile Stadt mit vielen kleinen Kneipen und fröhlichem Studentenleben. In den 1980er Jahren hatte man den Eindruck, dass die Kriegszerstörungen nachgeholt werden. Die Altstadt zerfiel immer mehr. 1988 fand auf dem Marktplatz die Abschlussveranstaltung eines evangelischen Kirchentages statt. Ich stand dort mit einem westdeutschen Besucher. Er fragte mich, ob den Menschen, die in den Häusern am Markt wohnen, verboten sei, aus den Fenstern zu sehen. Nein, das war nicht der Fall. Es wohnte keiner in diesen Häusern. Sie waren in so einem schlechten Zustand, dass die Wohnungen geräumt worden waren. Das traf für ganze Straßenzüge in Greifswald zu. Heute haben wir wieder eine schöne Altstadt mit wertvollem alten Baubestand.
Das trifft für viele Dörfer und Städte in der ehemaligen DDR zu. In 30 Jahren haben wir viel erreicht. Durch die Friedliche Revolution wurden plötzlich Kräfte freigesetzt. Menschen sagten ihre Meinung und ergriffen Initiativen, die unser Miteinander verbesserten.
Einerseits verbessertes Miteinander…
Zwei Beispiele: Am 3. März 1990 fand in Berlin, also noch vor der Volkskammerwahl, die Gründungsversammlung der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft in der DDR statt. Sehr schnell bildeten sich überall in der DDR Selbsthilfegruppen und Landesverbände. Menschen mit Beeinträchtigungen schafften ihre Treffs, stärkten sich gegenseitig und vertraten ihre Anliegen gemeinsam. Die DDR hatte Vereinsgründungen bis dahin nicht erlaubt. Eigene Initiativen waren unerwünscht. Die Partei, die SED, gab alles vor. Selbst für die Demonstrationen am 1. Mai wurden die Losungen von der SED vorgegeben und Tage vorher in den Parteizeitungen veröffentlicht. Eigenständig erdachte Losungen durften nicht gezeigt werden.
Ein anderes Beispiel: In einigen kleinen Dörfern in der Nähe von Plau auf der mecklenburgischen Seenplatte wurde ein Verein „Zur Förderung ökonomisch-ökologisch angemessener Lebensverhältnisse“ gegründet. Ein sperriger Name, aber ein Verein mit großer Wirkung. Es wurden Arbeitsplätze geschaffen. Firmen gründeten und vernetzten sich in der Region. Diese Initiative half vielen, die plötzlich nach der Auflösung ihrer LPGs (Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) den Arbeitsplatz verloren. Sie schafften neue Möglichkeiten in den Dorfgemeinden für ihre Bewohner.
So kann über vieles berichtet werden, was unser Leben verändert und verbessert hat. Ich bin froh und glücklich darüber, dass uns mit der Friedlichen Revolution der Systemwechsel und die Einheit Deutschlands gelungen sind. Aber wir leben auch heute nicht in einem Paradies, wo alles wunderbar ist. Wir leben in einer Demokratie, wo Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Absichten miteinander aushandeln müssen, wie wir unser Miteinander gestalten wollen. Das gelingt bei weitem nicht immer so, dass alle davon etwas haben.
…aber Corona offenbart unsere Schwächen
Die Corona-Pandemie führt uns gerade jetzt die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen. Die Öffnung der Grenzen schuf für die Wirtschaft neue Möglichkeiten. Unternehmen können sich dort niederlassen oder Produkte zuliefern lassen, wo es für sie am günstigsten und das heißt in der Regel am billigsten ist. Die Gewinnsteigerung ist für viele das entscheidende Kriterium. Dorthin, wo Arbeitskräfte und Grundstücke billig sind, wo Steuern gering sind, wurden und werden Produktionsstätten verlagert beziehungsweise dort werden Produkte eingekauft. Das hat zur Folge, dass wichtige Medizinprodukte fast nur noch in China und Indien hergestellt werden. In Pandemiezeiten – wie jetzt – ergeben sich daraus Probleme. Eine Volkswirtschaft, die nur auf Wachstum ausgerichtet wird, kommt in Krisenzeiten in Probleme.
Eine weitere Entwicklung zahlt sich jetzt in der Pandemiezeit negativ aus. Die schnellen und zum großen Teil rücksichtslosen Privatisierungen der Bundesregierung in den ersten Jahren nach der Deutschen Einheit waren ein Fehler. Der Ruf „Nie wieder Sozialismus“ führte zu falschen Entscheidungen. Dem Einzelnen, dem Unternehmer, wurde alles zugetraut. Er galt und gilt oft als der Macher für mehr Wohlstand. Das staatliche Handeln wurde schlecht geredet. Die Wirtschaft könne alles besser als die Politik. Der Wirtschaft muss man freien Lauf lassen, setzte sich in der öffentlichen Meinung immer mehr durch. Wer wirtschaftliches Handeln eingrenzt oder bevormundet, schade der Volkswirtschaft in seinem Land. Nach dieser Maxime wurde Politik gemacht.
Der von 1998 bis 2005 amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat durch seine Arbeitsmarktreform gezeigt, dass Reformen zugunsten von Unternehmern wirtschaftliches Wachstum bringen. Jedoch wird bei diesen Politikansätzen nicht bedacht, dass sie zu einer Spaltung der Gesellschaft und in Krisenzeiten zu verschärften Problemen führen. In unserer reichen Bundesrepublik gibt es immer mehr Menschen, die Lebensmittel von den „Tafeln“ bekommen. Seit Jahren stellen wir fest, dass Alleinerziehende zu den Armen gehören. In der Corona-Pandemie gehören viele dieser Kinder zu den Benachteiligten, weil sie beim Home-Unterricht benachteiligt sind. Sie leben in beengten Wohnungen und haben keinen Zugriff auf Computer. Wir sind weit entfernt von gleichen Bildungschancen für alle Kinder. Die Corona-Pandemie verschärft die Spaltung unserer Gesellschaft.
„Zuschauen dürfen wir heute nicht mehr“
Das gilt für uns in Deutschland und in der Europäischen Union. Spannungen in der Europäischen Union zwischen den reichen Nordländern und den ärmeren Südländern nehmen zu. Das gilt noch stärker weltweit. Die Zahl der Hungernden nimmt wieder zu. Viele Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien haben kein Gesundheitswesen, das allen seinen Bürgern eine Aufnahme in einem Krankenhaus gewährleisten kann. In Afrika kommt hinzu, dass Heuschrecken vielen Menschen die Lebensgrundlagen wegfressen. Hunger und Corona können in vielen Staaten Afrikas verheerende Folgen haben. Zuschauen dürfen wir heute nicht mehr. Denn durch die moderne Informationskommunikation und Mobilität ist unsere Welt zusammengewachsen. Bilder über unser schönes Leben erreichen heute den letzten Winkel der Welt. Auch in armen Regionen haben junge Leute Smartphone. Armut und Chancenlosigkeit für junge Menschen führt zu Flüchtlingsbewegungen in die scheinbar bessere Welt. Nach Heuschrecken- und Coronakrisen kann es zu neuen großen Flüchtlingswellen kommen.
Unbeherzigte Denkanstöße der DDR-Opposition
Die Friedliche Revolution in der DDR wurde vorbereitet und in Gang gesetzt von Menschen, die sich besonders in den 1980er Jahren mit den Problemen beschäftigten, die auch heute noch aktuell sind. Ein wichtiger Anstoß für die Bildung von oppositionellen Gruppen war die Einführung des Wehrkundeunterrichtes in Schulen und Ausbildungsstätten der DDR im Jahr 1978. Zwei Jahre später begannen in evangelischen Gemeinden Friedensdekaden mit Andachten und Veranstaltungen zu gesellschaftlichen Themen. Wir wandten uns gegen die Militarisierung der Gesellschaft. In den nächsten Jahren bildeten sich Friedensgruppen, Umweltgruppen, Frauengruppen, Gruppen, die sich mit Fragen der Menschenrechte, mit Fragen der Armut in Entwicklungsländern befassten. „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zu einem Leitmotiv der Opposition.
Die erwähnten Gruppen bündelten ihre Überlegungen und Vorschläge in einer Ökumenischen Versammlung. Die Delegierten dieser Versammlung veröffentlichten am 30. April 1989 einen "Brief an die Kinder". Darin heißt es:
„Wir alle müssen aufpassen, dass es noch lange Zeit Bäume gibt, die in einen blauen Himmel wachsen können. Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass niemand mehr einen Menschen in einem Krieg erschießt. Wir alle müssen teilen lernen, dass niemand mehr verhungert. Wir alle müssen uns darum mühen, dass jeder kleine und jeder große Mensch sicher und geschützt in einer heilen Natur leben kann.“
Das waren Gedanken, die viele von uns, die 1989 in der Bürgerbewegung aktiv waren und die die DDR verändern wollten, im Kopf hatten. Wir wollten nicht einfach mehr Wohlstand. Wir wollten eine Gesellschaft, die Rücksicht nimmt auf kommende Generationen und darum sorgsam mit der Natur umgeht, die ein Miteinander in der Weltgemeinschaft anstrebt, die solidarisch die Lebensverhältnisse aller Menschen verbessert.
Aber die Mehrheit wollte es im Frühjahr 1990 anders. Ihr ging es um schnelle Teilhabe am westdeutschen Wohlstand. Das Kanzler-Versprechen von schnell „blühenden Landschaften“ hatte nur dieses Ziel im Auge und verhalf den Verbündeten des Verkünders, dem damaligen Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl, zu einem glänzenden Wahlsieg. So kam es zur schnellen Einführung der D-Mark in der DDR und damit zur schnellen und harten Umstrukturierung der Wirtschaft im Osten Deutschlands mit allen guten und schlechten Folgen.
Das ist Geschichte. Aber was die Protagonisten der Friedlichen Revolution anstrebten, darüber lohnt es auch heute nachzudenken, zu diskutieren und auf dieser Grundlage politische Strategien zu entwickeln. Ich will einige wenige Punkte ansprechen, die mir heute wichtig sind.
„Menschen wollen sich beteiligen“
Die Friedliche Revolution gelang, weil in vielen, ja in fast allen Gemeinden viele Menschen die Initiative für Veränderungen selbst in die Hand nahmen. Der entscheidende Anstoß kam durch das Flugblatt „Aufbruch 89 – Neues Forum“, das Anfang September 1989 zur Gründung einer „politischen Plattform“ aufrief, „die es den Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung existentieller Gesellschaftsprobleme in diesem Lande zu beteiligen“. Diese Revolution wurde nicht gesteuert durch ein Zentralkomitee. Die Menschen vor Ort taten das, was sie für richtig hielten und zwangen Volkskammer und Regierung ihnen zu folgen.
Heute haben wir Probleme bei der Gestaltung unserer Demokratie. Vor der Coronazeit waren immer mehr Menschen unzufrieden und gaben ihre Stimme bei Wahlen einer Partei, die immer stärker ins rechtsextreme Lager abwandert. Demokratie lebt davon, dass Menschen sich in den politischen Prozess einbringen, dass öffentlich über wichtige gesellschaftliche Themen diskutiert wird. Menschen wollen heute nicht nur regiert werden. Es reicht nicht, Entscheidungen der Regierung zu erklären, um so die Bevölkerung mitzunehmen. Heute wollen sich viele beteiligen. Sie wollen ihre Gedanken, ihre Ideen einbringen. Der Klimawandel ist ein Thema, das der öffentlichen Diskussion bedarf. Er bringt für viele Veränderungen in Beruf und Freizeit. Es sollte ein Recht sein, dass Menschen mitreden können, wenn es um Veränderungen für ihr Leben geht.
Wenn wir unsere Demokratie stärken wollen, muss der demokratische Beteiligungsprozess verbessert werden. Am einfachsten kann man viele Menschen dort einbeziehen, wo sie leben und arbeiten. In der Arbeitswelt spielen dabei die Betriebsräte und Gewerkschaften eine gute und wichtige Rolle. Wo dies in Unternehmen klappt, haben wir in der Regel eine gute Beteiligung der ArbeitnehmerInnen und ein gutes Betriebsklima. Das ist wiederum ein wichtiger Faktor für den nachhaltigen Erfolg einer Firma. Es ist gut für Beide, für UnternehmerInnen und für ArbeitnehmerInnen. Es kann manchmal anstrengender sein als die Alleinherrschaft eines Unternehmers oder einer Unternehmerin. Aber es ist sicher nachhaltiger.
Auch in unseren Wohnorten könnte sich mehr demokratische Beteiligung auszahlen. So gibt es seit Anfang der 2000er Jahre Kommunen, die zum Beispiel durch einen „Bürgerhaushalt“ EinwohnerInnen erfolgreich beteiligen. Leider läuft es in vielen Kommunen nicht so gut, weil die Voraussetzungen für eine wirkliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger fehlen.
Dabei zeigt sich gerade in der Coronakrise, wie wichtig die kommunale Ebene heute ist, aber auch wie anfällig. Viele Gemeinden sind überschuldet. Nur mit Mühe können sie ihre Pflichtaufgaben erfüllen. Die Gestaltung von freiwilligen Aufgaben gelingt oft nicht. Schulen sind in schlechtem Zustand. Krankenhäuser wurden privatisiert. Stadtwerke kamen zum Glück wieder in kommunales Eigentum. Auch bei der Umgestaltung der DDR konnten sie in kommunales Eigentum übergehen. In der Pandemiesituation wird das Versäumte besonders deutlich. Viele Schulen können die Hygieneauflagen nur schwer erfüllen. Die fehlenden Investitionen in die Digitalisierung der Schulen erschwert den Home-Unterricht. Kinder aus sozial schwachen Familien haben deshalb keine guten Chancen für ihren Einstieg in das Berufsleben.
„Privatisierung kann Demokratie verkümmern lassen“
Wenn die Gestaltungsspielräume in Kommunen gering sind, finden sich immer weniger Menschen, die als BürgermeisterIn oder KommunalvertreterIn die politischen Geschicke ihrer Gemeinde in die Hand nehmen. Die Privatisierung von kommunalen Einrichtungen, die für das Gemeinwohl von Bedeutung sind, verringert die Beteiligungsmöglichkeit von Bürgerinnen und Bürgern. Privatisierung kann Demokratie beeinträchtigen, ja verkümmern lassen. Die Gemeinden sind das Fundament unserer Demokratie. Darum müssen die Kommunen handlungsfähig sein. Einwohner müssen ihre Kommune gestalten können. Kommunen brauchen eine finanzielle Ausstattung, die zulässt, dass Notwendiges gut gemacht werden kann und Zusätzliches ermöglicht wird, was das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger verbessert. Sie müssen Möglichkeiten für die Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger zulassen.
Die Gemeinden müssen in der Lage sein, ihre Schulen so auszustatten, dass alle Kinder gleiche Bildungschancen haben. Die Infrastruktur muss so gestaltet werden können, dass alte Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen ohne Auto Geschäfte zum Einkaufen und Ärzte zur Behandlung von ihrer Wohnung aus erreichen. Die Gemeinden müssen sich leisten können, dass in Gebäuden und im Freien Begegnungsstätten mit der Möglichkeit zu Veranstaltungen finanziert werden können.
Es gibt viele Themen, die sich lohnen vor Ort zu diskutieren, bei denen die Mitwirkung vieler sinnvoll ist. Das sind Themen wie Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, Organisation der Mobilität, Zugang zu Gesundheitsversorgung und Pflege, Schaffung alternativer Energieversorgung, Einkauf regionaler Produkte, regionaler Umweltschutz. Gemeindevertreter müssen hierüber nachdenken, mit ihren Wählern diskutieren und ihre Überlegungen umsetzen können. Die Finanzen der Gemeinden müssen dies ermöglichen.
„Es darf nicht alles unmöglich sein“
Nicht alles ist möglich. Aber es darf nicht alles unmöglich sein. Das Mögliche schaffen, ist ein wichtiger demokratischer Prozess, der unter einer guten Moderation viele Menschen einbeziehen und sie zur demokratischen Teilhabe bringen kann. In der Gemeinde können soziale Probleme am besten gelöst werden.
Zu Beginn der Coronakrise bildeten sich viele Initiative, die den durch Corona besonders gefährdeten Gruppen Hilfe anboten. Gemeinden sind dazu in der Lage auch ohne große Anschubfinanzierung. Das zeigt der großartige Einsatz vieler in den Freiwilligen Feuerwehren oder in vielen Vereinen mit sozialem Engagement.
Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie die Arbeit unserer Gemeinden und unserer Stadt- und Landkreise nachhaltig auf sichere finanzielle Grundlage gestellt wird. Zu dieser Diskussion gehört auch eine Diskussion zur Aufgabenverteilung zwischen Bundesländern und Kommunen. Wir sollten die kommunale Ebene durch Aufgaben mit Entscheidungsmöglichkeiten stärken. Da Demokratie von der Mitwirkung vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger abhängt, brauchen wir Kommunen, in denen aktives Gemeindeleben möglich ist. Von den Gemeinden aus kann unsere demokratische Gesellschaft gestärkt werden.
Last not least: Entwicklungszusammenarbeit ernstnehmen
Ein anderes Thema, das mir sehr wichtig ist, ist das Miteinander auf unserem Erdball. Seit 18 Jahren engagiere ich mich in der Entwicklungszusammenarbeit. Unser Verein, die Deutsch-Afrikanische Zusammenarbeit e.V., arbeitet mit Vereinen in Togo/Westafrika zusammen. In einer sehr armen und unterentwickelten Region im Norden Togos unterstützen wir einen Verein, der jungen Menschen durch Schul- und Berufsausbildung Chancen in ihrer Region eröffnet. Ein ehemaliger togoischer Flüchtling leitet den Verein. Er kam 1993 nach Deutschland, studierte an der TH in Hamburg-Harburg, arbeitete in Hamburg, wurde aktives Mitglied in unserem Verein und kehrte 2006 in seine Heimat zurück. Das sind sehr gute Voraussetzungen für Entwicklungshelfer. Er gründete 2006 im Norden Togos einen Verein namens „IT Village“, mit dem wir seitdem erfolgreich zusammenarbeiten.
Entwicklungszusammenarbeit ist erfolgreich, wenn sie zu lebenswertem Zusammenleben von Menschen in armen Regionen führt. Dazu ist die Schaffung von Bildungsstätten und Wertschöpfungsketten nötig. Junge Menschen müssen erkennen, dass sie für sich und ihre Familie in ihrem Land ihr Leben verbessern können. Wir können heute schnell und ohne viele Kosten miteinander kommunizieren. Aber nehmen uns immer noch viel zu wenig gegenseitig wahr.
Wir, die Vertreter der reichen Staaten in Europa, Nord-Amerika und Asien, müssen nur bereit sein, den Staaten in Afrika die Chance für eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu lassen. Dazu gehört eine Handelspolitik, die gute Ansätze dort nicht gleich wieder durch billige und subventionierte Waren von unserer Seite erstickt.
In Togo habe ich erlebt, wie durch die Einfuhr von billigem europäischem Hühnerfleisch Hühnerfarmen in den Konkurs getrieben wurden. Afrikanische Länder brauchen Investitionen in Produktionsstätten. Arbeitsplätze mit Löhnen, von denen eine Familie leben kann, müssen zur tragenden Säule der Wirtschaft werden.
Wir in Deutschland und in Europa brauchen einen wirtschaftlichen Aufschwung in Afrika. Immer größere Flüchtlingswellen überfordern uns und gefährden unsere Demokratie. Dies kann nur vermieden werden, wenn sich das Leben der Menschen in den vielen afrikanischen Ländern verbessert, wenn sie nicht Angst vor Heuschreckenplagen, vor Corona-Pandemien und vor immer negativeren Folgen des Klimawandels haben müssen. Unsere Kinder und Enkel werden nur in Frieden leben können, wenn wir in unserer Welt zu einem besseren Miteinander kommen, wenn wir gemeinsam an der Verbesserung unserer Lebensumstände arbeiten.
Der Traum von ‘89
Der Traum jener Menschen, die die Friedliche Revolution in der DDR angestoßen haben, diesen Traum Stück für Stück zu verwirklichen, ist ein Ziel, das unser Miteinander auch in Zukunft ermöglicht, und das Ängste und Sorgen beseitigt. So kann Demokratie nachhaltig gestärkt werden:
„Wir alle müssen aufpassen, dass es noch lange Zeit Bäume gibt, die in einen blauen Himmel wachsen können. Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass niemand mehr einen Menschen in einem Krieg erschießt. Wir alle müssen teilen lernen, dass niemand mehr verhungert. Wir alle müssen uns darum mühen, dass jeder kleine und jeder große Mensch sicher und geschützt in einer heilen Natur leben kann.“
Zitierweise: Hinrich Kuessner, "„Corona führte uns die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen“, in: Deutschland Archiv, 29.05.2020, Link: www.bpb.de/310507.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Hinrich Kuessner (77) war Theologe in der DDR und Geschäftsführer des Diakonischen Werks in Greifswald. Am 18. März 1990 wurde er für die SPD in die DDR-Volkskammer gewählt und zog nach der Wiedervereinigung in den Deutschen Bundestag ein, wo er zum SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss Treuhandanstalt wurde. Von 1994 bis 2002 gehörte er dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern an, davon vier Jahre als Landtagspräsident. 2002 verzichte er auf eine erneute Kandidatur und wechselte bis 2009 in die Bürgerschaft Greifswalds. Seine Revolutionserinnerungen hat er auf einer dokumentenreichen Website zusammengefasst: www.greifswald-1989-90.de .