Die drei Gesprächspartner waren als Kinder zusammen mit ihren Eltern aus der Emigration in England und Frankreich nach Deutschland in die sowjetische Besatzungszone zurückgekehrt. Nach den Erfahrungen als Juden im sogenannten Dritten Reich, des Exils und der erschütternden Feststellung, dass ein Teil ihrer Familienangehörigen im Holocaust ermordet worden war, wollten ihre Eltern beim Aufbau einer neuen Gesellschaft helfen. In der DDR sahen sie ihre antifaschistischen Grundwerte am besten aufgehoben, zog doch ein Großteil der Exilierten nicht in den Westen, sondern ganz bewusst in den Osten Deutschlands.
„Ich fand mich dadurch auch ein Stück geschützt“ Die Zweite Generation jüdischer Remigranten im Gespräch
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Im Jahr 1995 hat Zeitzeugen TV im Studio des Senders Fernsehen aus Berlin (FAB) aus Anlass des 50. Jahrestags der Kapitulation Nazideutschlands ein Gespräch zwischen Wolfgang Herzberg, Thomas Kuczynski und Vincent von Wroblewsky aufgezeichnet, welches in der Zeitzeugensendung auf FAB und bei XXP vom Spiegel ausgestrahlt wurde.
„Ich fand mich dadurch auch ein Stück geschützt"
Wolfgang Herzberg berichtet, dass sich das Weltbild seiner Eltern in den Emigrationsjahren geformt hatte. Sie seien mit dem Ideal zurückgekehrt, ein antifaschistisches, sozialistisches Deutschland mit aufbauen zu wollen. „Meine Mutter war skeptischer“, erinnert sich Herzberg, „weil ihre Mutter in Auschwitz umgekommen ist. Mein Vater war wohl sehr enthusiastisch. […] Er wurde Journalist und sie Staatsanwältin.“
Thomas Kuczynskis Vater betrat Ende März 1945 erstmals wieder deutschen Boden, als Mitarbeiter des OSS (Office of Strategic Services), eines Vorgängers des US-Geheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency). Seine Familie zog später nach. „Ich glaube“, erinnert sich Kuczynski, „dass beide zurückgekehrt sind natürlich in der festen Überzeugung, dass nun endlich hier ein Deutschland, ein vernünftiges Land, aufgebaut wird, wobei meine Mutter sicherlich immer etwas skeptischer war als mein Vater – mein Vater ist der geborene Optimist.“ Vincent von Wroblesky kam mit zehn Jahren mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Ostberlin. Seine alleinstehende Mutter, sagt er, sei „[...] mit einer gewissen Naivität gekommen, mit der guten Absicht, hier ein besseres Deutschland mit aufbauen zu helfen. Sie hatte keine Funktionen inne und blieb eine einfache Frau. Sie arbeitete als Übersetzerin aus dem Französischen und Englischen. Aber sie identifizierte sich bei aller Kritik trotzdem mit dieser DDR-Gesellschaft. Und oft, wenn sie von Westdeutschland sprach, sprach sie von den Nazis, was ich selbst als unpassend und schon ungerecht empfand. Aber das war das, was für sie jede Alternative blockierte.“
Die Ankunft der Remigrantenfamilien und ihren Status als Opfer des Faschismus, der Begünstigungen mit sich brachte, erlebten die Kinder im Alltag sehr widersprüchlich. Eine Willkommenskultur in der normalen Bevölkerung war nicht vorhanden. So erinnert sich Wroblewsky: „Ich kann mich erinnern an das Privileg von Antifaschisten […], in den 50er-Jahren bessere Lebensmittelkarten zu haben. […] Schulfreunde waren nicht nur neidisch, sondern empörten sich darüber. Mein bester Freund fand, dass sein Vater ja schließlich an der Ostfront gefallen sei, was sei das anderes als mein Vater, der im Kampf gegen die Nazis in Frankreich gestorben ist. Das war ein Tenor in der Bevölkerung. Was ich erlebt habe, war eigentlich, sobald ich Deutsch verstand, dass all die Deutschen um mich herum, die nicht-jüdischen und nicht-antifaschistischen Deutschen […]: Die waren eigentlich alle Opfer.“
Den Wiederaufbau in den 1950er-Jahren trugen die Remigrantenfamilien mit Enthusiasmus mit. Sie übernahmen Verantwortung, bauten Institutionen auf und beteiligten sich an der politischen Diskussion über die Erneuerung der Gesellschaft. Doch der zunehmende Dogmatismus in ideologischen Fragen und die Repressalien der eigenen Partei gegen die sogenannten Westemigrant_innen führten bei vielen zu einer gewissen Distanz. Thomas Kuczynski beschreibt diesen Rückzug: „Denn das ist eine Erfahrung, die in der Sowjetunion über siebzig Jahre gemacht wurde: zum Anfang die politische Aktivität, die dann aber in vielen Fällen von einem Desillusionierungsprozess begleitet wird, der zu Inaktivität und zu einer Betrachterposition führt.“
Für Herzberg, Kuczynski und Wroblewsky als Vertreter der Zweiten Generation der jüdischen Rückkehrer_innen gewann das Jüdischsein nach ihrer Ausbildung und während ihrer beruflichen Karriere bis zum Ende der DDR immer mehr an Bedeutung. Ihre Sicht auf die DDR-Gesellschaft wurde zunehmend kritischer, und so geriet die Zweite Generation der jüdischen Remigrant_innen in Widerspruch zu den Werten und Vorstellungen ihrer Eltern.
Für Wolfgang Herzberg ermöglichte die Rückbesinnung auf seine jüdischen Wurzeln auch eine Art neue Freiheit im reglementierten DDR-Alltag, „diesen Sozialismus sehr kritisch zu betrachten. […] Das Immerstärkerwerden von jüdischer Identität ist eine Triebkraft – und das weiß ich auch von anderen Leuten meiner Generation. Und ich fand mich dadurch auch ein Stück geschützt.“
Zu den Lebensläufen der drei Vertreter der Zweiten Generation
Wolfgang Herzberg Wolfgang Herzberg wurde 1944 in Leicester/England als Sohn deutsch-jüdischer Emigrant_innen geboren. Seit 1947 lebt er in Berlin zunächst im Westteil und seit 1950 in Ostberlin. Nach dem Abitur absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Filmkopierfacharbeiter. Schließlich studierte er Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er als Kulturhausleiter im Berliner Glühlampenwerk. Seit 1974 war er in der DDR freiberuflich für das Fernsehen und Verlage tätig. Sein besonderes Interesse lag in der Dokumentation von Lebenswegen. Außerdem schrieb er Texte für Rockbands, u. a. für die Gruppe „Pankow“. Sein mit Reinhold Andert verfasstes Buch „Der Sturz – Honecker im Kreuzverhör“ war 1991 ein Bestseller. Mit seinen jüdischen Wurzeln setzte er sich 2018 in seinem autobiografischen Buch „Wie ich in der DDR jüdisch wurde: Eine selbstkritische Positionsbestimmung“ auseinander.
Vincent von Wroblewsky Vincent von Wroblewsky wurde als Sohn deutsch-jüdischer Antifaschisten 1939 in Clermont-Ferrand geboren. Sein Vater beteiligte sich aktiv an der Résistance und kämpfte in Frankreich gegen die deutschen Besatzer. Er starb knapp vierzigjährig 1944 in Moutier-Rozeille. 1950 kehrte Vincent von Wroblewsky mit seiner Mutter nach Berlin zurück. Er studierte von 1959 bis 1967 Romanistik und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1975 promovierte er über Jean-Paul Sartre an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ab 1991 trat er die Nachfolge von Traugott König als Herausgeber und Übersetzer des Werkes von Jean-Paul Sartre beim Rowohlt Verlag an. Seit 1993 ist er Präsident der Sartre-Gesellschaft in Deutschland. Von der französischen Regierung wurde er 2015 zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. Vincent von Wroblewskys Werk als Autor, Übersetzer und Herausgeber ist außerordentlich vielfältig.
Thomas Kuczynski Thomas Kuczynski wurde als Sohn von Jürgen und Marguerite Kuczynski 1944 in London geboren. Er studierte von 1963 bis 1968 Statistik und promovierte 1972 über das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland (1932/33). Von 1972 bis seiner Abwicklung 1991 arbeitete er am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und war dessen letzter Direktor. Seither ist er als freier Publizist tätig. Aufsehen erregte seine Studie zu den Entschädigungsansprüchen für Zwangsarbeit im sogenannten Dritten Reich, in der er errechnete, dass die Bundesrepublik Deutschland den Opfern von Zwangsarbeit in Nazideutschland rund 180,5 Milliarden D-Mark schulde. Bis zur Veröffentlichung 2017 arbeitete Kuczynski mehr als zwanzig Jahre an einer lesefreundlichen Ausgabe des ersten Bands des „Kapitals“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Über viele Jahre katalogisierte er die Bibliothek seines Vaters mit 70 000 Bänden. Nach dessen Tod 1997 übergab er sie an die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB)
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