Rechtsstaatlichkeit war ein primäres Ziel der Revolution in der DDR. Aber wie erfolgte die Aufarbeitung des SED-Unrechts durch den Rechtsstaat? Eine Zwischenbilanz des Bürgerrechtlers und Mitbegründers der Initiative für Frieden und Menschenrechte in der DDR, Gerd Poppe. Er macht deutlich: "Die Herrschaft des Rechts, die den demokratischen Rechtsstaat ausmacht, wurde in der DDR auf den Kopf gestellt...es gibt kein ernst zu nehmendes Argument gegen den Begriff des Unrechtsstaates".
Die „Rechtsprechung“ im Unrechtsstaat und der Umgang des Rechtsstaates mit der Hinterlassenschaft der Diktatur, die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur und einige ihrer ungelösten Probleme und offenen Fragen sollen hier behandelt werden. Prägendes Merkmal des Rechtsstaates ist Gewaltenteilung. Bürgerinnen und Bürger üben durch Teilnahme an freien und demokratischen Wahlen Macht aus, können dadurch politische Entscheidungen beeinflussen und korrigieren. Wenn sie ihre im Grundgesetz verankerten Rechte beeinträchtigt sehen, können sie sich an unabhängige Gerichte wenden.
In der DDR blieben ihnen diese Rechte versagt. Zwar gab es eine Verfassung, in deren Wortlaut von 1949 einige Grundrechte ähnlich formuliert waren wie im Grundgesetz, allerdings ohne dass sie jemals wirklich gewährt wurden. Artikel 9 lautete: „Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln“. Wer jedoch dieses Recht in Anspruch nahm, wer insbesondere Kritik an der SED oder der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) übte, die in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bis zum 7. Oktober 1949 und in den frühen Jahren der DDR die Aufsicht führte, landete schnell im Gefängnis oder Zuchthaus oder im sowjetischen Straflager. Am Terror der SBZ-Zeit änderte sich auch nach Gründung der DDR und dem Inkrafttreten ihrer Verfassung zunächst nichts.
Politische Verfolgung
So wurde erst im Jahre 2005 durch Veröffentlichung der Ergebnisse eines von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten deutsch-russischen Projekts bekannt, wie viele Opfer des Stalinismus noch nach der DDR-Gründung zu beklagen waren. In den Jahren 1950 bis 1953 wurden fast tausend, darunter besonders viele junge Menschen vom DDR-Staatssicherheitsdienst verhaftet und der sowjetischen Militäradministration übergeben. Ihnen wurden frei erfundene Straftaten (Spionage, Sabotage, Kriegs- und "Boykotthetze") zur Last gelegt, und sie alle wurden von Militärtribunalen zum Tode verurteilt. Sie wurden nach Moskau gebracht, dort erschossen und in Massengräbern auf dem Moskauer Friedhof Donskoje verscharrt. Den Angehörigen der Opfer wurde damals mitgeteilt, dass diese an Herzversagen gestorben seien, häufig bekamen sie überhaupt keine Nachricht, viele von ihnen erlangten erst in den 1990er Jahren oder mit der Veröffentlichung des genannten Buches Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen. Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurden die meisten Opfer rehabilitiert.
Mit Stalins Tod am 5. März 1953 endete diese mörderische Aktion, was aber keineswegs mehr Rechtssicherheit zur Folge hatte. Schon kurz darauf, nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, folgten die nächsten Massenverhaftungen. Schätzungsweise wurden zwischen 13.000 und 15.000 Personen verhaftet, tausende Urteile verhängt. Die meisten von ihnen wurden nach einigen Jahren entlassen, doch blieben die Gefängnisse in den 1950er Jahren permanent mit politischen Häftlingen gefüllt. Nach dem Mauerbau kam es zur größten Verhaftungswelle in der Geschichte der DDR. Zugleich änderte sich die Rechtslage für die gesamte Bevölkerung, da sie aufgrund der totalen Abschottung faktisch in Präventivhaft genommen wurde.
Sämtliche Formen der Repression können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Um nur an einige zu erinnern, seien die Schauprozesse der 1950er Jahre, die Zwangsarbeit, die Entführungen aus dem Westteil Berlins in die DDR, der Schusswaffengebrauch an der Grenze, die Zwangsumsiedlungen und weiteren Grenzschikanen, die Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe genannt.
Schätzungen zufolge kann man in der SBZ/DDR von etwa 250.000 politischen Gefangenen ausgehen, aber politische Verfolgung war auch ohne Haft möglich, zum Beispiel im Vorfeld einer Inhaftierung, häufig setzte sie sich auch nach einer solchen fort. Formen und Intensität der Repression konnten sich ändern, zum Beispiel je nach aktuellen innerdeutschen- oder außenpolitischen Rahmenbedingungen oder wenn aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage von der SED gewünschte finanzielle Hilfe durch den Westen gewährt wurde. Insbesondere in den 1980er Jahren erhoffte sich die SED-Führung größere internationale Anerkennung. Das Bekanntwerden von langjährigen Haftstrafen aus politischen Gründen stand dieser im Wege. Inhaftierungen erfolgten bis zum Herbst 1989 zwar weiterhin, sie betrafen jedoch seltener die bekannten Regimegegner, sondern oft solche Personen, von denen SED und MfS annahmen, dass sie im Westen unbekannt wären. Davon betroffen waren insbesondere viele Antragsteller auf ständige Ausreise.
In den späteren Jahren der DDR, etwa ab Mitte der 1970er Jahre, waren Veränderungen in den repressiven Aktivitäten der Staatssicherheit erkennbar, wobei sie nie eigenmächtig, sondern immer nur als Instrument der SED-Führung handelte. Ein Klima von Denunziation und die Paranoia der Herrschenden prägten immer spürbarer das gesellschaftliche Klima in der DDR. Außer den seit langer Zeit erfolgenden Post- und Telefonkontrollen, der Überprüfung beziehungsweise Verhinderung von Ausbildungschancen oder Arbeitsmöglichkeiten, Verwaltungsschikanen jeglicher Art, sogenannten „Zuführungen zur Klärung eines Sachverhalts“, den konspirativen Durchsuchungen von Wohnungen wurde nun auch deren technische Überwachung verstärkt, vor allem aber wurde – besonders in den 1970er Jahren – das Spitzelsystem auf exzessive Weise ausgebaut und eine Berichtflut ohnegleichen entstand, unüberschaubar letztlich für ihre Auftraggeber selbst.
Zersetzung
Besondere Bedeutung erhielten seit 1976 die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen. Das war ein Kampfbegriff Erich Mielkes, durch sie sollten Opposition und Widerstand verhindert, familiäre und Gruppenzusammenhänge zerstört werden. Zur Veranschaulichung diene ein Beispiel aus einem „Operativen Vorgang“. Der dort genannten Ehefrau soll ein Studium angeboten werden, auch eine „Wiederermöglichung“ von Reisen ins „sozialistische Ausland“. Parallel dazu soll dafür gesorgt werden, dass der Ehemann seine „arbeitsmäßigen und sozialen Probleme nicht verbessern kann“. An die Ehefrau „wird die Kontaktperson H. mit dem Ziel herangeschleust, zwischen beiden ein Intimverhältnis aufzubauen (Termin Juli 1987)“. Der Ehemann „ist durch gezielte anonyme Informationen an seiner Arbeitsstelle zu diskriminieren […] Die Informationsübermittlung erfolgt durch anonyme Briefe“. Geplant wird die Veröffentlichung eines Artikels in der Tageszeitung Junge Welt über seine Tochter, in dem ihre bisherige schriftstellerische Tätigkeit wie auch „ihre feste politische Überzeugung gewürdigt“ wird, wodurch die Tochter vom Vater entfremdet werden soll. Dieses Ziel soll auch bei dem gerade eingeschulten jüngeren Sohn des Paares erreicht werden – durch „positive Beeinflussung“ mithilfe der Schuldirektorin.
Der letzte Satz dieses Plans lautet: „Zur Verunsicherung und Diskriminierung des P. in seinem Bekanntenkreis wird kompromittierendes Material erstellt und in Umlauf gebracht. Termin: ständig“. Der Plan blieb erfolglos, er war ebenso perfide wie unsinnig. Er zeigt, welch bösartige Angriffe auf die Privatsphäre im SED-Staat möglich waren und verweist zugleich auf das noch zu untersuchende Problem, welches der Rechtsstaat mit der nachträglichen Aufarbeitung der Stasi-Untaten hat.
Zersetzung war auch die vorgesehene Methode, um Oppositionsgruppen zu zerstören. In die Ende 1985 gegründete „Initiative Frieden und Menschenrechte“ waren eine Reihe Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit eingeschleust worden. Von ihren Führungsoffizieren erhielten sie den Auftrag, die Arbeitsfähigkeit der Gruppe „herabzusetzen bzw. zu zerstören“, zum Beispiel durch Herstellung von Dokumenten, „auf deren Grundlage während der Zusammenkünfte kontroverse und uferlose Diskussionen möglich sind“.
Politische Verfolgung hatte viele Formen, insgesamt wird von circa einer Million Menschen ausgegangen, die aus politischen Gründen repressive Maßnahmen erleiden mussten, wovon auch ihre Angehörigen und Freundeskreise betroffen waren. Und schließlich war es nicht einmal erforderlich, Kritik am kommunistischen System und seinen jeweils Verantwortlichen zu üben, um unter Druck zu geraten. Überwachung, Entmündigung und Indoktrination waren allgegenwärtig, beginnend im Kindergarten und in der Schule. Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten, Reiseverbote, das Verbot oder die Zensur von Büchern und Filmen, von Theater- und Musikaufführungen begrenzten selbst die Möglichkeiten von Menschen, die der kommunistischen Ideologie durchaus zugeneigt waren.
Verfassung und Verfassungswirklichkeit
Die eingangs erwähnte DDR-Verfassung von 1949 wurde 1968 durch eine neue Verfassung ersetzt und 1974 noch einmal modifiziert. Der neue Artikel 1 lautete schließlich: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Im Unterschied zum Artikel 1 des heutigen deutschen Grundgesetzes war nicht die Würde des Menschen unantastbar, sondern nur die Macht der führenden SED-Funktionäre.
Praktisch alle Grundrechte rückten weit nach hinten. Artikel 9 zur Meinungsfreiheit wurde zum Artikel 27 und so weiter. Alle Rechte wurden unter den Vorbehalt „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß“ gestellt. Somit waren nur öffentliche Meinungsäußerungen und Versammlungen erlaubt, die dem Alleinvertretungsanspruch der SED nicht widersprachen.
Artikel 29 behauptete, dass es ein Recht auf Vereinigung gäbe, auf gemeinsames Handeln in Parteien und politischen Organisationen. Versuche, solche zu gründen, wurden mit der ganzen Härte der Strafgesetze verfolgt. Artikel 31 nannte das Post- und Fernmeldegeheimnis unverletzbar, obwohl in den Hinterzimmern von Postämtern Stasi-Mitarbeiter Briefe durchschnüffelten, obwohl nach dem Posteinwurf von Oppositionellen sogenannte Sonderleerungen von Briefkästen veranlasst wurden, obwohl Telefone, von denen es in Privatwohnungen nur wenige gab, systematisch abgehört wurden.
Artikel 32 garantiert die Freizügigkeit – aber nur innerhalb des Staatsgebietes der DDR. Doch nicht einmal diese wurde gewährt, wie die zahlreichen sogenannten „Berlin-Verbote“ für junge Menschen aus der „Provinz“ belegen. Artikel 37 stellte fest: „Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzbarkeit seiner Wohnung“. Dies hielt die Stasi nicht davon ab, Wohnungen illegal zu durchsuchen und Abhöranlagen zu installieren.
So war kein einziger Grundrechteartikel der DDR-Verfassung das Papier wert, auf dem er stand. Zudem wurde die Wahrnehmung solcher Rechte durch das Strafgesetzbuch der DDR eingeschränkt. Etwa durch die Paragrafen 106 (Staatsfeindliche Hetze), 107 (Staatsfeindliche Gruppenbildung) oder 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung). Letzterer konnte wegen Weitergabe nicht geheimer Nachrichten, die geeignet wären, dem Ansehen der DDR zu schaden, angewandt werden. Oder §113 (Ungesetzlicher Grenzübertritt), der Fluchtversuche betraf, §219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme), §220 (Staatsverleumdung), mit dem die Kritik an SED-Führern bestraft wurde (1974 in Öffentliche Herabwürdigung umbenannt). Aus der sowjetischen Praxis wurde §215 (Rowdytum) übernommen und oft jungen Leuten vorgeworfen, wie auch §217 (Zusammenrottung), die nach SED-Verständnis schon mit zwei Personen begann. Die jeweiligen Strafandrohungen zeigen, was von den Grundrechten in der Verfassung tatsächlich zu halten war.
Es gab in der DDR weder Verwaltungsgerichte noch ein Verfassungsgericht, sodass es den von diesen Entscheidungen Betroffenen nicht möglich war, sie gerichtlich anzufechten. Beschwerden wurden von den gleichen Stellen bearbeitet, die für eine Entscheidung verantwortlich waren, und von diesen in der Regel zurückgewiesen. In politischen Prozessen hatten Staatsanwälte und Richter von der SED-Führung vorgegebene Plädoyers, Urteile und Urteilsbegründungen vorzutragen und zu verkünden. Das Jurastudium war einer kleinen Zahl von Privilegierten vorbehalten, die sich eindeutig zum SED-Staat bekannten und entsprechend verhielten. Kennzeichnend für das Rechtswesen in der DDR war auch die äußerst geringe Zahl von Rechtsanwälten – in den 1980er Jahren waren es nur etwa 600. Von ihnen waren sehr wenige als Anwälte für politische Strafverfahren zugelassen. Und wie sich nach Öffnung der Stasi-Unterlagen zeigte, verhielten sich diese eher dem Staat gegenüber loyal als ihren Mandanten.
Oft wird behauptet, die SED-Politik wäre zwar fehlerhaft, aber ursprünglich gut gemeint gewesen, und es hätte ja Positives gegeben, zum Beispiel das Recht auf Arbeit. Unerwähnt bleiben dabei die nur eingeschränkt freie Arbeitsplatzwahl, die Berufsverbote von Oppositionellen, die Arbeitsplatzbindungen von politisch „Unzuverlässigen“, die Verpflichtung von Absolventen, nach dem Studium einen vom Staat vorgeschriebenen Arbeitsplatz anzunehmen, die Androhung von Verfolgung asozialen Verhaltens, wenn junge Menschen die ihnen zugewiesene Arbeit nicht annehmen wollten. Auch in das oft als „normal“ bezeichnete Zivil- und Familienrecht griff die SED nicht selten ein.
Gern wird auch gesagt, die Kindergärten und -krippen wären vorbildlich gewesen – in denen Dreijährige mit Panzern spielen mussten und der Grenzsoldat den Kindern berichtete, wie froh er darüber sei, sie an der Berliner Mauer vor dem Klassenfeind zu schützen. Gelobt wird auch das Gesundheitswesen trotz all seiner Mangelerscheinungen und ungeachtet der teuren Westmedikamente für das Regierungskrankenhaus. Selbst einfachste Verwaltungsvorgänge wurden überwacht. So durfte einen Wohnungsantrag stellen, wer überhaupt berechtigt war, sich in der jeweiligen Stadt aufzuhalten. Allerdings musste das Wohnungsamt die SED-Kreisleitung oder den zuständigen MfS-Mitarbeiter fragen, ob es die Zuweisung der Wohnung vornehmen dürfe. Verwaltungen unterschieden zwischen den angepassten Bürgerinnen und Bürgern und den schon einmal durch Kritik aufgefallenen – so viel zur Frage der Gleichheit im kommunistischen System.
Die Herrschaft des Rechts, die den demokratischen Rechtsstaat ausmacht, wurde in der DDR auf den Kopf gestellt durch willkürliche Entscheidungen einer kleinen, selbst ernannten Herrschaftsclique, die sich niemals einer Wahl gestellt hat und die für zahlreiche tragisch verlaufene Biografien verantwortlich zu machen ist. Es gibt kein ernst zu nehmendes Argument gegen den Begriff des Unrechtsstaates.
Ziele der DDR-Opposition
Im Folgenden soll kurz die demokratische Opposition in der DDR betrachtet werden. In der frühen Zeit von SBZ/DDR gab es Widerstand gegen die kommunistische Diktatur aus dem sozialdemokratischen wie auch dem konservativ-bürgerlichen Lager. All diese Menschen sind entweder im Gefängnis gelandet oder in den Westen geflohen. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte die massive Repression dazu, dass sich die Erscheinungsformen von Widerstand und Opposition veränderten. Kritische Stimmen wurden in der Folgezeit auch aus den Reihen derer hörbar, die sich zwar für ein sozialistisches System engagierten, das bestehende jedoch verändern wollten.
Die zerschlagenen Demokratisierungsversuche von 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei führten zwar zu einer großen Enttäuschung linker Intellektueller, nicht aber zur Aufgabe ihrer Reformträume. Auch wenn es zu jeder Zeit Widerstandshandlungen gab, kann bis zur Mitte der 1970er Jahre von einer überwiegend systemimmanenten Opposition gesprochen werden, danach veränderte und erweiterte sich diese allerdings erheblich.
Von manchen Journalisten und Historikern wird regelmäßig behauptet, die DDR-Opposition wäre 1989/90 für einen dritten Weg und gegen die deutsche Einheit gewesen. Das ist so pauschal wie falsch.
Richtig ist, dass die Opposition nie als monolithischer Block anzusehen war. Innerhalb des weitgefächerten Spektrums der Opposition nahm die Zahl derjenigen, die nicht mehr auf die Reformierbarkeit des sowjetisch geprägten Herrschaftssystems hofften, seit den späten 1970er Jahren deutlich zu. Sie wollten nicht mehr endlos über alternative Gesellschaftsmodelle diskutieren, wollten eine pragmatische, den Menschenrechten verpflichtete Politik entwickeln, eigenständig Handelnde werden, die für die Mitbürger erkennbar sind. Sie orientierten sich an ostmitteleuropäischen Bürgerrechtlern und Dissidenten, besonders auch an der tschechoslowakischen Charta 77. Von dort war zu hören: Wer im Innern des Landes die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte unterdrückt, kann nach außen nicht glaubwürdig friedensfähig sein.
Die Lektüre von Václav Havels Essay von der Macht der Machtlosen, der in deutscher Übersetzung „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ heißt, prägte das Handeln vieler DDR-Oppositioneller. Auch sie wollten die von den Machthabern verbreiteten Lügen nicht mehr hinnehmen. Hannah Arendt schrieb in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ von 1964: „Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen […] In einer Welt, in der man mit Tatsachen beliebig umspringt, ist die einfache Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“
Oppositionelle blieben eine Minderheit, obwohl sie im Laufe der 1980er Jahre immer deutlicher sichtbar wurden. Sie entwickelten sich aus folgenlos agierenden konspirativen Kleingruppen zu politisch Handelnden, welche die Öffentlichkeit suchten, dies unter anderem mit der Herausgabe eigener illegaler Samisdat-Zeitschriften, um sich landesweit mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Im Sommer und Herbst 1989 führte das schließlich zur Gründung neuer Bewegungen und Parteien und hatte einen wesentlichen Anteil an den folgenden Ereignissen. Natürlich gibt es für diese keine monokausale Erklärung. Die Flucht- und Ausreisewelle spielte eine große Rolle und vor allem die Entwicklungen in Polen und Ungarn sowie die Reformversuche Gorbatschows in der damaligen Sowjetunion. Die zahlenmäßig kleine Opposition bewirkte jedoch eine Initialzündung für die revolutionären Prozesse.
Bereits zum Tag der Menschenrechte 1987 gab die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) eine Erklärung heraus, in der als wichtigste Ziele die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung genannt wurden. Die Erklärung rief dazu auf, sich gegen die Willkürakte der Mächtigen zu wehren. Gefordert wurden die Garantie von Meinungs-, Presse- und Medienfreiheit, die Existenz unabhängiger Gerichte, das Streikrecht, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Weitere Forderungen betrafen die Beendigung der Verletzung der Privatsphäre, der Telefon- und Postüberwachung und die Abschaffung von Paragrafen des Strafgesetzbuches, welche die öffentliche Meinungsäußerung unter Strafe stellen. Es folgten zwar Festnahmen und Verhöre, aber derartige Forderungen suchten immer häufiger die Öffentlichkeit und ließen sich nicht mehr auf repressive Weise unterdrücken. Die friedliche Revolution kündigte sich bereits an.
Rechtsstaatlichkeit und freie Wahlen blieben die wichtigsten Forderungen, und nach dem Sturz der Berliner Mauer konnte ihre Umsetzung Gestalt annehmen. Ein neues Wahlgesetz und ein Parteiengesetz wurden benötigt, damit befasste sich im Januar 1990 der Zentrale Runde Tisch. Auch eine neue Verfassung sollte entstehen. Deren Entwurf wurde Anfang April 1990 von der entsprechenden Arbeitsgruppe des Runden Tisches fertiggestellt und der frei gewählten Volkskammer übergeben.
Deren Mehrheit lehnte es ab, sich mit ihm zu befassen, sie wollte den schnellen Beitritt nach Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Diesem entsprach zwar der Verfassungsentwurf in weiten Teilen durchaus, er enthielt aber auch Neues: Die Bürger- und Menschenrechte wurden erweitert, hinzu kamen Artikel zur Ökologie, zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Mitwirkung an politischen Entscheidungen. Staatszielbestimmungen zu sozialen Rechten gingen deutlich über das knapp formulierte Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes hinaus. Zwar scheiterte dieser Entwurf ebenso wie der ein Jahr später verfasste Entwurf einer gesamtdeutschen Verfassung. Ihr Hauptziel aber haben die Oppositionellen erreicht: Die Diktatur musste dem Rechtsstaat weichen. Dies geschah in der erwünschten und zugleich einzig logischen Reihenfolge: erstens Freiheit, zweitens Demokratie, drittens Einheit.
Aufarbeitung des SED-Unrechts
Mit dem Ende des SED-Staates begann sogleich dessen Aufarbeitung. Es sollten Mit dem Ende des SED-Staates begann sogleich dessen Aufarbeitung. Es sollten nicht die Fehler wiederholt werden, die einst mit einer verspäteten und lückenhaften Aufklärung und Ahndung der NS-Verbrechen entstanden waren.
Was in Deutschland zur Aufarbeitung der SED-Diktatur seit 1989/90 geleistet wurde, ist durchaus beeindruckend und geht weit über das hinaus, was in anderen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs wie auch in weiteren Staaten mit diktatorischer Vergangenheit möglich war und ist. Um hier nur das Wichtigste aufzuzählen:
die Enquetekommissionen des Bundestages in den 1990er Jahren,
die Einrichtung der Stasi-Unterlagenbehörde und die Herausgabe der Akten,
die Entschädigung von Opfern,
die Umgestaltung beziehungsweise Neueinrichtung von Gedenkstätten und Museen,
die Errichtung der Bundesstiftung Aufarbeitung und deren Projektförderung,
die vielen gesellschaftlichen Initiativen und unabhängigen Archive,
die nahezu unüberschaubare Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten und weiteren Veröffentlichungen,
die Vielzahl von Ausstellungen und Veranstaltungen,
die Überprüfungen für den öffentlichen Dienst,
die internationale Zusammenarbeit und anderes mehr.
Dieser Beitrag soll sich aber vor allem der juristischen Aufarbeitung zuwenden.
Von Bärbel Bohley, einer der bekanntesten DDR-Oppositionellen, ist der Satz überliefert: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Diesen Satz hat sie so nie gesagt, sondern Journalisten haben ihn aus einem längeren Zitat extrahiert. Aber im Grunde ging es schon um die Zweifel, dass die juristische Aufarbeitung Gerechtigkeit herstellen könne. Und die Frage stellte sich durchaus: In welchem Maße ist der demokratische Rechtsstaat überhaupt in der Lage, mit den Verbrechen der Diktatur angemessen umzugehen?
Was hierzu zu sagen ist, richtet sich an alle drei Gewalten gleichermaßen. Obwohl Betroffene mitunter von Gerichten gesprochene Urteile kritisieren, so sind diese doch oftmals die Folge von Versäumnissen der Politik. Die nahezu 30-jährige Geschichte der sogenannten Unrechtsbereinigung liefert dafür genügend Beispiele. Immerhin sind Korrekturen möglich, wie die zum Ende 2019 in Kraft getretene Novellierung der Rehabilitierungsgesetze zeigt.
Zur juristischen Aufarbeitung gehört die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts ebenso wie die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Erste Verfahren gab es noch in der Endphase der DDR wegen Amtsmissbrauch und Wahlfälschung. Sie endeten mit Bewährungs- und Geldstrafen, nur in einem Fall mit Haftstrafe ohne Bewährung. Die eigentliche Strafverfolgung begann mit der deutschen Einheit, und zehn Jahre später, am 3. Oktober 2000, waren alle Taten mit Ausnahme von Mord verjährt. Die letzten Verfahren und somit die Strafverfolgung von DDR-Unrecht wurden 2005 abgeschlossen.
Ermittelt wurde im Falle „von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, aber entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung der ehemaligen DDR aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlich rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind […].“ Insgesamt hat es mehr als 1.000 Verfahren gegeben, in denen Anklage erhoben wurde. Verfolgte Delikte waren Rechtsbeugung, Wahlfälschung, Straftaten des MfS, Misshandlung von Gefangenen, Doping und vor allem die Tötungen an der innerdeutschen Grenze. Die meisten Verfahren endeten mit Bewährungsstrafen oder Freisprüchen. Nur 40 Angeklagte wurden zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt, davon 30 wegen des Schusswaffengebrauchs an der Grenze.
Bei den Opfern des SED-Unrechts löste die geringe Zahl von Verurteilungen Frustration und Verbitterung aus. Sie wurden in ihrer Auffassung bestärkt, dass der Rechtsstaat nicht in der Lage ist, das an ihnen begangene Unrecht angemessen zu bestrafen. Die Täter wären davongekommen, hätten die Vorzüge des Rechtsstaates genossen und sich in der Demokratie eingerichtet. Die Opfer hingegen wären lebenslang gesundheitlich gezeichnet, hätten deutliche materielle Nachteile gegenüber den Tätern, müssten sich jede Anerkennung und Unterstützung erkämpfen.
Mit dieser Kritik stehen die Opfer nicht allein da. Es ist schlicht unverständlich, dass der Staatssicherheitsminister Mielke nur wegen der Berliner Polizistenmorde von 1931 angeklagt wurde und nicht wegen der tausendfachen Menschenrechtsverletzungen, die in seiner Verantwortung geschehen sind. Unverständlich ist auch, warum das Bundesverfassungsgericht hochrangigen Stasi-Offizieren einen Teil ihrer Sonderrenten wieder zuerkannt hat, nachdem die frei gewählte Volkskammer diese Privilegien gestrichen hatte. Im Ergebnis ist die durchschnittliche Rentenversorgung der Täter deutlich besser als die der meisten ihrer Opfer. Gerecht ist das nun wirklich nicht, und die Enttäuschung der Opfer ist nur zu verständlich.
Das Rückwirkungsverbot ist ein hohes Rechtsgut und muss mit äußerster Behutsamkeit behandelt werden. Auch das geschriebene DDR-Recht musste beachtet werden, obwohl es sich eher um staatliches Unrecht in Gesetzesform handelte. Aber die systematische Missachtung der Gleichheit vor dem Gesetz und das von SED und MfS begangene Unrecht wirft die Frage auf, ob wirklich alles dem Rechtsstaat Mögliche getan wurde, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Sicher wird überwiegend die Auffassung geteilt, dass Filbingers auf das NS-Unrecht bezogener Satz: „Was damals rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein“ angesichts der Naziverbrechen nicht hinnehmbar ist. Es hat indes nichts mit Gleichsetzung von Nazi-Unrecht und SED-Unrecht zu tun, wenn die Frage gestellt wird, ob nicht auch bei der Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur noch in weiteren Fällen eine Relativierung des Rückwirkungsverbots denkbar gewesen wäre als ausschließlich im Falle der Tötungen an der innerdeutschen Grenze.
Bis heute hält die Kontroverse zwischen Verfechtern eines strikten Rechtspositivismus und denjenigen an, die neben dem gesetzten Recht die allgemein anerkannten und schließlich auch durch Ratifizierung der einschlägigen UN-Pakte rechtsgültig gewordenen Menschenrechte berücksichtigt wissen wollen. In den 1990er Jahren wurde darüber oft gestritten. Die Debatten, Anhörungen und Expertisen zum Thema der justiziellen Aufarbeitung in der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages füllen mehr als 1.800 Seiten.
Auch die Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel wurde diskutiert, wonach zwar das „positive“ Recht Vorrang habe, jedoch ausgesetzt werden könne, wenn es zu „unerträglichem Unrecht führt“. Was also ist unerträgliches Unrecht? Ausschließlich der Tod des an der Grenze Erschossenen oder des aus rein politischen Gründen zum Tode Verurteilten? Was ist unerträgliches Unrecht für die noch lebenden, häufig traumatisierten Opfer? Über diese zugegeben schwierige Frage wird wohl noch lange weiter gestritten werden.
Verantwortliche Juristen waren und sind sich der Problematik bewusst. So sprach Christoph Schäfgen, seinerzeit mit der Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität betrauter Generalstaatsanwalt von den „Schwierigkeiten eines Rechtsstaates bei der nachträglichen strafrechtlichen Bewertung staatlichen Handelns eines diktatorisch geführten Staates, dessen Handeln nicht vom Recht, sondern nur vom Machterhalt bestimmt war […].“ Es ging nicht nur um juristische Probleme, sondern auch um politische Voraussetzungen und Entscheidungen, gewünscht war die Vermeidung allzu großer Unruhe. Dazu sollte die vorsichtige Behandlung ehemaliger Verantwortungsträger beitragen. Zudem erinnerte man sich an die jahrelange Nichtverfolgung von hochrangigen NS-Amtsträgern, wie hätte man also einen härteren Umgang mit den SED-Größen nachvollziehbar erklären können? Ein anderes Problem war darüber hinaus, dass die Justiz, insbesondere zur Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität, unzureichend ausgestattet war.
Dennoch ist die Justiz in mancher Weise unter ihren Möglichkeiten geblieben. Schäfgen stellte hierzu fest: „Weil der Bundesgerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die von den ehemaligen Justizfunktionären der DDR vorgenommene extensive Auslegung […] des politischen Strafrechts in der Anwendung auf Dissidenten, Oppositionelle und Ausreisewillige als ‚noch nachvollziehbar‘ hinnahm, ist es so gut wie gar nicht zu Verurteilungen gekommen.“ Falls die Genannten dies als „nachvollziehbar“ betrachtet hätten, würde die DDR womöglich immer noch existieren. Anerkennenswert ist immerhin, dass durch die Verfahren das Unrecht deutlich benannt worden ist, auch wenn das den Opfern der Diktatur aus verständlichen Gründen nicht ausreicht.
Rehabilitierungen
Das zweite große Thema der juristischen Aufarbeitung ist die Rehabilitierung der Opfer. Noch im letzten Jahr der DDR wurden eine Reihe politisch begründeter Urteile „kassiert“. Kurz vor der Wiedervereinigung verabschiedete die Volkskammer am 6. September 1990 ein Rehabilitierungsgesetz. Dieses wurde nur teilweise in den Einigungsvertrag übernommen und im November 1992 durch das vom Bundestag beschlossene erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ersetzt, welches die aus politischen Gründen Inhaftierten berücksichtigte. 1994 folgte ein weiteres Gesetz, welches das Verwaltungsunrecht und die politisch begründeten Nachteile in Bildung und Beruf betraf.
Zwischenzeitlich mehrfach gesetzte Fristen der Antragstellung wurden immer wieder verlängert, sodass eine Vielzahl von Anträgen bearbeitet werden konnte. Ende 2017 waren bereits mehr als 200.000 Anträge gestellt und Entschädigungen von insgesamt etwa zwei Milliarden Euro für zu Unrecht erlittene Haft gezahlt worden. Hinzu kamen etwa 130.000 Fälle, in denen keine Inhaftierung erfolgte, die Betroffenen aber aus politischen Gründen in ihrer Ausbildung und Berufsausübung schwer benachteiligt wurden. Solche Fälle können bei der Rentenfestlegung berücksichtigt werden, etwa 60 Millionen Euro wurden bewilligt. Diese finanziellen Leistungen sind beachtlich, gleichwohl können sie die anhaltenden Sorgen der Betroffenen nur teilweise lindern. Auch gibt es immer wieder Probleme mit der Beweisführung, und viele Verfolgungen sind erst spät vom Gesetzgeber berücksichtigt worden, wie das besonders schwerwiegende Schicksal von Kindern und Jugendlichen, die unter regelrechten Haftbedingungen in Spezialheimen und Jugendwerkhöfen untergebracht wurden und davon bis heute traumatisiert sind.
Nachdem allein 2017 etwa 2.000 weitere Anträge auf Rehabilitierung gestellt wurden, sah sich der Gesetzgeber zum Nachbessern aufgefordert und hat die weitestgehende Novellierung dieser Gesetze seit ihrer Verabschiedung beschlossen. Danach fallen die Fristen für die Antragstellung weg. Das ist zu begrüßen, denn immer wieder kommen neue Tatbestände ans Licht. Nachdem die Unterbringung im Geschlossenen Interner Link: Jugendwerkhof Torgau bereits seit 2004 als rechtsstaatswidrig gilt, kann nun auch die Einweisung von Kindern in Spezialheime aufgrund der politischen Verfolgung ihrer Eltern berücksichtigt werden.
Neu ist, dass die Opfergruppe der verfolgten Schüler anerkannt wird, sofern die Verfolgung – zum Beispiel die verweigerte Ausbildung – mindestens drei Jahre andauerte. Erleichtert wurden die Bestimmungen zur Rehabilitierung im Fall von anhaltenden gesundheitlichen Schäden aufgrund von Inhaftierung, wobei nach wie vor ärztliche Befunde beigebracht werden müssen, allerdings nicht mehr solche aus sibirischen Lagern oder Zuchthäusern der DDR.
Eine Verbesserung erfährt auch die Gewährung der Opferrente, die bislang bei einer Dauer des Freiheitsentzuges ab 180 Tagen, nunmehr ab 90 Tagen möglich ist. Schließlich ist noch eine Einmalzahlung von 1.500 Euro für „Zersetzungsopfer“ zu erwähnen, die vom Gesetzgeber als „großzügig“ bezeichnet wurde. Trotz der Novellierung bleiben Fragen offen. So sollte ein Zweitantragsrecht für vormals abgelehnte Ansprüche eingeräumt werden, sofern es der neuen Gesetzeslage angemessen ist.
Unklarheiten bestehen noch im Bereich der vermögensrechtlichen Fragen – und dies nicht erst, seit ein Hohenzollern-Erbe ungeachtet der Naziverbindungen seines Vorfahren abwegige Forderungen erhoben hat. Nachteile ergeben sich aus dem 1993 beschlossenen Rentenüberleitungsgesetz für ehemalige DDR-Flüchtlinge. Bis dahin wurden sie nach dem Fremdrentengesetz so behandelt, als hätten sie ihr gesamtes Erwerbsleben in der Bundesrepublik verbracht. Durch die Neuregelung wurden ab 1936 geborene Flüchtlinge wieder zu DDR-Rentnern erklärt, was sie als ungerecht empfinden.
Rehabilitierungsverfahren sind nicht selten deshalb mit Problemen verbunden, weil die mit ihnen betrauten Richter aus Arbeitszusammenhängen kommen, die mit SED-Opfern kaum zu tun haben. Sie wissen mitunter wenig über das kommunistische System, seine Repressionsmethoden und die anhaltenden Probleme der vom Unrecht Betroffenen. Der seit über 30 Jahren erworbene Sachverstand mancher Richter ändert daran wenig, zumal die mit den Entscheidungen befassten Kammern einem ständigen personellen Wechsel unterworfen sind, und inzwischen viele junge, mit diesen Problemen noch nicht vertraute Richter nachrücken. So beklagen Opferverbände und Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur immer wieder Fehlbewertungen, die zur Ablehnung von Rehabilitierungsanträgen führen. Folgender Vorgang, der leider kein Einzelfall ist, ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig:
Eine damals 14-Jährige lebte unter desolaten Umständen in einem Haushalt, der von Gewalt und bevorstehender Scheidung geprägt war. Vom Großvater wurde sie missbraucht und vom Vater geschlagen, Großmutter und Mutter duldeten es. Das Mädchen flüchtete aus der Wohnung, wurde eingefangen, in die Psychiatrie gebracht. Ohne Befund entlassen, wurde sie in die Wohnung ihrer Eltern zurückgebracht, der Vater verkündete, sie totzuschlagen, worauf sie erneut floh. Sie beging kleine Diebstähle von Lebensmitteln, wurde erneut aufgegriffen und in einen Jugendwerkhof gebracht. Vom zuständigen DDR-Jugendamt wurden Vater und Mutter als brave sozialismustreue Bürger und fürsorgliche Eltern bezeichnet.
Dem ersten Jugendwerkhof folgten noch ein zweiter und dritter. Die dortigen gefängnisähnlichen Bedingungen sind inzwischen hinreichend bekannt. Die Antragstellerin begründet ihren Anspruch auf Rehabilitierung mit der Einweisung in die Jugendwerkhöfe. Ein Landgericht eines ostdeutschen Bundeslandes lehnte den Rehabilitierungsantrag ab, ohne die Darlegungen der Antragstellerin zu berücksichtigen, ohne Zeugen einzuvernehmen, ohne Sachverständige zu befragen, ohne den aktuellen Erkenntnisstand zur Situation in den Jugendwerkhöfen zu berücksichtigen.
Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass die Einweisung in die Jugendwerkhöfe mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung vereinbar sei. Die Kammer betonte, dass sich diese Bewertung aus der Prüfung „sämtlicher Unterlagen des Jugendamtes“ ergeben habe. Die Beschwerde der Antragstellerin wurde vom zuständigen Oberlandesgericht mit der gleichen Begründung abgewiesen. Auch dieses Gericht stützte sich bei seiner Entscheidung ausschließlich auf die Unterlagen des SED-geführten Jugendamtes. Wie ist das möglich? Zur Entscheidung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen SED-Unrechts wird als einziges Beweismittel die Auffassung der Behörde zur Kenntnis genommen, die das Jugendlichen angetane Unrecht gutgeheißen und zugleich veranlasst hat. Das ist eine unfassbare Fehlleistung beider Gerichte. An Richter, die derartige Entscheidungen zu treffen haben, kann nur appelliert werden, die Betroffenen sowie Zeugen und Sachverständige anzuhören und sich keinesfalls auf die offiziellen Unterlagen des SED-Staates zu verlassen.
Schlussbemerkungen
Die beschriebene Aufarbeitung des durch die Diktatur verursachten Unrechts ist nur ein vergleichsweise geringer und zudem abnehmender Teil politischen, staatlichen und juristischen Handelns. Gleichwohl bleibt die Aufgabe bestehen und – insoweit Verwaltungen und Gerichte über die Ansprüche von Opfern zu befinden haben – ist die Zeit begrenzt. Viele neu entstandene oder auch bisher unterschätzte Aufgaben sind jedoch von den Gerichten zu bewältigen, erinnert sei nur an die Zunahme organisierter Kriminalität und terroristischer Aktivitäten. Mit Recht wird die oft sehr lange Zeitdauer der Verfahren beklagt, deren Ursache die notorische Unterbesetzung von Gerichten (wie auch von Staatsanwaltschaften und Polizei) ist. Die politisch Verantwortlichen sind hier dringend zum Handeln aufgefordert.
Noch beunruhigender ist eine andere Entwicklung: Der mit der Beendigung des Kalten Krieges vor über 30 Jahren verbundene Traum von der sich weltweit ausbreitenden Demokratie blieb unerfüllt. Erfolge wie die Bildung und Erweiterung der Europäischen Union, die Ratifizierung wichtiger UN-Konventionen oder die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes werden zunehmend verwässert durch neuen Nationalismus und Angriffe auf die Unabhängigkeit von Parlamenten, Gerichten und Medien. Extremistische Parteien und Organisationen erhalten Zulauf, Rhetorik aus der Zeit des Kalten Krieges wird wiederbelebt. Hass, Lügen und Verschwörungstheorien finden zunehmend Verbreitung. All das sind sowohl nationalstaatliche, europäische als auch globale Probleme und sie sind sowohl von einzelnen autoritär regierten Staaten wie auch durch die Globalisierung verursacht.
Im hier betrachteten Zusammenhang bleibt zu fragen, warum trotz der intensiven Aufarbeitung der Diktaturen in Deutschland die Wertschätzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückgegangen ist, warum die Autorität gewählter Volksvertreter zunehmend in Frage gestellt wird, warum in einigen Regionen nichtdemokratische Parteien die Mehrheit bei Wahlen erhalten. Angesichts der zunehmenden Betonung von Ost-West-Unterschieden, die bis heute existieren, bleibt zu untersuchen, welchen Anteil die von der SED zwar behauptete, aber nie wirklich stattgefundene Aufarbeitung der NS-Verbrechen an damals in der DDR und heute in Ostdeutschland vorhandenem Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit hat.
Dem Zustand des demokratischen Rechtsstaates und dem gesellschaftlichen Engagement wird es zuträglich sein, wenn Politik und Justiz antisemitische und rassistische Übergriffe, Hass und Gewalt intensiver und schneller unterbinden und verfolgen. Gerichte, die sich ja vor allem den Tätern widmen, sollten den Opfern mehr Aufmerksamkeit schenken. Eine Rechtsprechung, die als gerecht empfunden wird, stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat. Das muss bewusst bleiben.
Buchcover (Ost)Deutschlands Weg
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
Zitierweise: Gerd Poppe, „Unrecht, Recht und Gerechtigkeit", in: Deutschland Archiv, 02.01.2022, Link: www.bpb.de/343312. Der Text ist dem Doppelband entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes I+II", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert vom Deutschland Archiv der bpb.
Der Physiker und Bürgerrechtler Gerd Poppe war 1985/86 Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) in der DDR und von 1989 bis 1990 Sprecher und Vertreter der IFM am Zentralen Runden Tisch. Er wurde 1990 Minister ohne Geschäftsbereich der DDR, später Politiker bei Bündnis 90/Die Grünen und erster Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Er studierte von Physik an der Universität Rostock und arbeitete von 1965 bis 1976 als Physiker im Halbleiterwerk Stahnsdorf. Seit 1968 war er in oppositionellen Kreisen aktiv, 1975 sechs Monate Bausoldat. Wegen seines Protestes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 zog die Ostberliner Akademie der Wissenschaften damals eine Einstellungszusage zurück.