„Dieser westliche Triumphalismus ist ein großer Selbstbetrug“
Julian Nida-RümelinSusanne Lenz
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Warum haben sich die Erwartungen, die der Westen nach dem Zerfall des Ostblocks hatte, nicht erfüllt, und warum hat sich die Welt stattdessen so spannungsreich entwickelt? Welche Irrtümer hat der Westen begangen, was wurde zu einseitig betrachtet? Ein Gespräch von Susanne Lenz mit Julian Nida-Rümelin
Herr Nida-Rümelin, die Umbrüche im Ostblock Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre, die in Deutschland im Fall der Mauer kulminierten, schienen das Ende der Geschichte zu markieren. Jetzt ist die Geschichte mit Macht zurückgekehrt, ob im Nahen Osten oder der Ukraine. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich war von Anfang an Kritiker dieser These vom Ende der Geschichte. Das war eine übrigens von Hegel inspirierte Erwartung, dass die Geschichte auf irgendein Endziel zusteuert und dieses Endziel in liberaler Demokratie und weltweitem Kapitalismus zu seiner Erfüllung findet. Ich habe immer die These vertreten, dass die Geschichte menschengemacht ist. Es gibt keinen Determinismus, der sie irgendwo hintreibt. Da irren Marx und Hegel und alle, die ihnen nacheifern. Aber damals gab es diese Erwartung, dass der American Way Of Life, die westliche Lebens- und Wirtschaftsform sich weltweit durchsetzen würden. Doch tatsächlich begehrte das, was verschwinden sollte, umso heftiger auf. Zum Beispiel der Fundamentalismus in den muslimischen Regionen, der Nationalismus mitten in Europa. Jetzt heißt es, wir seien zum ersten Mal mit einem Krieg am Rande Europas konfrontiert, aber es gab bereits in den 1990er-Jahren die Balkankriege. Das war noch näher am Zentrum Europas.
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Und wir haben einen sich gegenwärtig bedrohlich zuspitzenden Konflikt der zwei Supermächte der Zukunft: USA und China. Dieser Konflikt könnte alle übrigen in den Schatten stellen. Das heißt, die Geschichte war nie weg, und sie ist jetzt mit Macht zurück, in einer sehr bedrohlichen Art.
Wie äußert sich der Konflikt zwischen China und den USA?
Zum Beispiel in einer massiven Aufrüstung Chinas auch in der Marine, in einer massiven Präsenz der USA im chinesischen Meer und in bedrohlichen Gesten von beiden Seiten, was Taiwan angeht, das kein völkerrechtlich souveräner Staat ist. Das ist kein business as usual. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass beide Regierungen sehen, wie gefährlich ein solcher Kurs ist, es soll demnächst ein Treffen zwischen Biden und Xi stattfinden. Trotzdem: Henry Kissinger hat im Sommer 2022 gesagt, wir stünden am Rande eines Krieges zwischen den USA, Russland und China aufgrund von Streitfällen, an denen wir selbst unseren Anteil haben, ohne dass es irgendeine Perspektive für die weitere Entwicklung gibt, eine Idee, wie wir da wieder herauskommen.
Welche Streitfälle meinte Kissinger?
Ein Thema ist Taiwan, ein anderes ist der Konflikt, der zum Krieg in der Ukraine geführt hat, nämlich die Rolle Russlands. Ist Russland nur noch eine Regionalmacht, mit der man keinen Ausgleich suchen muss? Hat Russland in irgendeiner Weise mitzureden bei einer Sicherheitsarchitektur in Europa oder nicht? Nato-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands, ja oder nein? Das ist nie strategisch durchdacht worden, und nicht nur der russische Imperialismus in der Region, sondern auch die Kopflosigkeit der westlichen Außenpolitik haben dazu ihren Beitrag geleistet.
Sie sagten es ja bereits, Anfang der 90er-Jahre dachte man, dass alle Länder früher oder später zu liberalen, kapitalistischen Demokratien werden würden. Jetzt erkennt man, dass die Demokratie kein Selbstläufer ist, stattdessen ist sie sogar weltweit auf dem Rückzug. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung? Woran hat man damals nicht gedacht?
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Die 1990er-Jahre waren eine Phase des westlichen Triumphalismus. Die Einschätzung war, der Westen habe den Kalten Krieg gewonnen. In Wirklichkeit spielten vor allem die Bevölkerungen in den Staaten im sowjetischen Einflussbereich bei den Umbrüchen eine Rolle. Das war nicht ein Sieg des Westens über den Osten, sondern eine innere Entwicklung innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs.
Aber im Westen hieß es, dass Reagan mit seiner massiven Aufrüstung in den 1980er-Jahren den Ostblock in die Knie gezwungen habe und jetzt nur noch eine Supermacht übrig sei. Ich habe mich schon damals gefragt, was eigentlich mit den Nuklearwaffen in Russland ist. Sind die weg oder existieren sie noch, und haben wir dann nicht nach wie vor eine zweite große Nuklearmacht neben den USA. Das wurde aber nicht mehr ernst genommen. Und Russland war tatsächlich wirtschaftlich und sozial in einer ganz schwierigen Phase, sodass man glaubte, darauf keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Aber dieser westliche Triumphalismus war und ist ein großer Selbstbetrug, auch kulturell.
Was meinen Sie damit?
Indien zum Beispiel, das hinsichtlich seiner Bevölkerung die größte Demokratie der Welt ist, ist ein hinduistisches Land mit muslimischen und buddhistischen Minderheiten. Dort regiert Modi, eine Art Trump auf Indisch. Er propagiert sehr erfolgreich einen Hindu-Nationalismus, der die Mehrheit gegen Minderheiten mobilisiert. Das Kulturelle spielt also eine zentrale Rolle in der Politik. Aber auch da herrscht im Westen eine Naivität, die ich kaum fassen kann. Es war etwa die Vorstellung verbreitet, dass, wenn man Militärregime wie das von Mubarak in Ägypten, von Saddam Hussein im Irak oder von Assad in Syrien zum Einsturz bringt, automatisch eine westlich verfasste, liberale Demokratie entsteht. Aber warum soll das passieren? In einem Land wie Ägypten zum Beispiel, in dem die allermeisten Menschen eher fundamentalistisch eingestellte Muslime sind. Doch das war die Erwartung. Und was ist eingetreten bei den ersten freien Wahlen? Die Muslimbrüderschaft hatte die Mehrheit und Mursi war auf einmal Regierungschef. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Und der Westen atmete auf, als mit Al Sisi derjenige an die Macht kam, der im Wesentlichen das Mubarak-Regime fortsetzte.
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Es ist naiv und unhistorisch zu erwarten, dass die Demokratie ausbricht, nur weil Diktatoren gestürzt werden. Man muss sich nur mal anschauen, wie der Irak heute politisch aufgestellt ist und intern agiert. Das ist doch keine Demokratie. Und auch Afghanistan ist nach 20 Jahren westlicher Besatzung keine geworden.
Sie nennen es Naivität, aber könnte es nicht auch eine Art Selbstüberschätzung sein, die sich da ausdrückt?
Es ist beides. Ich habe ja vom westlichen Triumphalismus gesprochen, aber Triumphalismus ist auch oft naiv: zu sagen, ich bin der große Sieger und kann die Welt nach eigenen Vorstellungen gestalten. Bush senior hat Anfang der 90er-Jahre, unmittelbar nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, gesagt, wir brauchen eine neue Weltordnung. Da hatte er nicht ganz unrecht. Aber man hätte sie mit den anderen großen Akteuren gestalten müssen, mit China, Russland, Indien, Südafrika, mit Brasilien, mit den großen Kräften weltweit und nicht als Oktroi westlicher Politik unter einer einzigen Supermacht.
Bedauern Sie es, dass die Demokratie offenbar nicht diese Strahlkraft hat, die man ihr im Westen zuschreibt, oder sind Sie damit einverstanden, dass sich andere Länder politisch anders formieren?
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Natürlich bedauere ich die Schwächephase der Demokratie sehr, als jemand, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit und hinsichtlich seines politischen Engagements immer für ihre Stärkung eingesetzt hat. Aber die Schwäche ist zum großen Teil selbstverschuldet. Ohne eine Kultur des humanen, zivilen Umgangs miteinander kann es keine Demokratie geben, aber wir lassen ihre Zerstörung zu.
Dabei gibt es genug äußere Herausforderungen, nämlich, dass eine Diktatur wie China wirtschaftlich so erfolgreich ist wie andere Diktaturen auch. Und die USA sind kulturell in einer Verfassung, die einem größte Sorgen bereiten muss. Da gibt es im Grunde ein Freund-Feind-Verhältnis zweier großer politischer Kräfte. Die von Trump angeführte Republikanische Partei bewegt sich zu Teilen außerhalb des demokratischen Spektrums, vertritt AfD-Positionen. Und die Demokraten haben dagegen noch kein geeignetes Mittel gefunden.
Es kann sein, dass Trump die nächste Präsidentschaftswahl gewinnt, wenn er nicht bis dahin im Gefängnis sitzt. Ähnlich ist die Situation in Frankreich und Italien. In Italien gibt es eine Regierungschefin, die in den Medien als Postfaschistin bezeichnet wird, und sie ist genau das. Ihre Partei Fratelli d’Italia hat die Flamme auf dem Grab von Mussolini als Parteiemblem. Das heißt, wir haben in Frankreich, Italien und im Grunde auch in Großbritannien nach dem Brexit eine Erosion der Demokratie. Auch die Türkei war einmal viel demokratischer, Ungarn ist auf dem Weg in die Diktatur, in Polen ist es durch die letzte Wahl gerade noch einmal gut gegangen, aber wer weiß, wie lange das hält.
In Ihrem neusten Buch „Cancel Culture – Ende der Aufklärung?“ schreiben Sie, dass die zu Ausgrenzung und Diffamierung neigende Diskurskultur die Demokratie belastet. Die Haltung, dass der andere auch recht haben könnte, ist komplett aus der Mode gekommen, oder?
Die Cancel Culture kommt in den USA eher von links. Und es gibt da einen interessanten Hintergrund, der mir bis vor kurzem nicht bewusst war. In den USA existiert der Straftatbestand der Beleidigung nicht. Man kann dort eine dunkelhäutige Person mit dem N-Wort beschimpfen, ohne dass das rechtliche Folgen hat. Nur wenn diese Beleidigung Nachteile für das Eigentum hat, kann jemand angeklagt werden. Dass dann eine Political-Correctness-Bewegung entsteht, die bestimmte Regeln kulturell durchsetzen will, ist eigentlich selbstverständlich. Doch diese Grundhaltung, die einen respektvollen Umgang will, schlägt dann um in eine Praxis des Deplatformings, die sich gegen unliebsame Stimmen oder Meinungen richtet. Auf Social Media werden Personen diffamiert, die vermeintlich etwas Falsches gesagt oder falsche Kontakte haben. Vielleicht ist das sogar gut gemeint, im Sinne politisch sinnvoller Ziele, aber es führt dazu, dass der Respekt vor anderen Meinungen erodiert. Und das, was die Linken anfangen, können die Rechten immer noch brutaler und rücksichtsloser.
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Wenn man Identitätspolitik von links betreibt und nur die, die einer Meinung mit einem sind, adressiert, dann antwortet Trump mit einer Identitätspolitik von rechts, und das wird bitter, und es hat eine schreckliche historische Vorgeschichte. Die NS-Bewegung ist dadurch erfolgreich geworden, dass sie viele Symbole und Praktiken der Kommunisten und Sozialdemokraten übernommen hat. Dieser Schuss geht regelmäßig nach hinten los, auch wenn jetzt eher linke Milieus Verlage und Redaktionen dominieren. Das geht nicht gut, denn die Mehrheitsmeinung verschiebt sich gegenwärtig nach rechts.
Auch in Deutschland?
Auch in Deutschland. Wobei ich der Letzte bin, der den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schlechtmachen will. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass es ihn gibt und er muss auch finanziert werden. Aber das Meinungsspektrum der Bevölkerung muss sich dort auch wiederfinden. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatten wir rechte und linke TV-Magazine. Aber jetzt haben wir in wichtigen Fragen, also Ukraine, Corona-Maßnahmen, Flüchtlings- und Migrationsthematik eine ziemlich einheitliche Tendenz in den öffentlich-rechtlichen Sendungen, und das ist nicht gut. Auch für die Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht.
Kann eine Demokratie all die von Ihnen genannten Krisen einfach so wegstecken?
Von einer Krise in die nächste zu geraten, ist nicht gut für die gesellschaftliche Gesamtstimmung. Deutschland hat sich in den Nullerjahren aus seiner wirtschaftlichen und sozialen Gefährdung mühsam herausgekämpft, da spielte auch die Agenda von Gerhard Schröder eine wichtige Rolle. Dann kommt die Weltfinanzkrise, die Deutschland anders als andere Länder ziemlich gut durchgestanden hat. Dann kommt die Staatsschuldenkrise. Die AfD wurde von Wirtschaftsprofessoren gegründet, die gegen die Griechenlandhilfen waren. 2015 und 2016 dann die große Flüchtlingskrise, die die damalige Regierung mehr schlecht als recht bewältigt, mit einer problematischen Vereinbarung mit der Türkei und damit, dass die Visegrad-Staaten die Grenzen dichtmachen. Das waren die zwei Maßnahmen, die die massive Flüchtlingsbewegung damals gestoppt haben.
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Ein paar Jahre darauf kommt die Coronakrise, dann greift Russland die Ukraine an, und jetzt haben wir den Terrorakt der Hamas und Israels Einmarsch in den Gazastreifen. Das heißt, wir haben eine dichte Folge von massiven Krisen, Verunsicherungen, und das in einer Phase, in der die Supermacht USA an Einfluss und Macht verliert.
Wer tritt an ihre Stelle?
Die Brics-Staaten haben jetzt zusammen ein größeres Bruttoinlandsprodukt als die G7, also die führenden Industrieländer der Welt. Brics steht unter starkem Einfluss von Russland und China. Bei den Abstimmungen in den Vereinten Nationen zeigt sich der sinkende Einfluss der westlichen Positionen. Das verunsichert die Bevölkerung, und ich glaube, die Antwort darauf kann nicht sein, dass in den Medien möglichst homogen eine Meinung vertreten wird, sondern im Gegenteil. Die seriösen Medien müssten sich als Plattform verstehen, auf der möglichst rational die verschiedenen Argumente vorgetragen werden, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu orientieren.
Ich möchte noch mal auf das Thema Demokratie zu sprechen kommen, und zwar im Zusammenhang mit der Hypothese des demokratischen Friedens, die besagt, dass Demokratien untereinander kaum je Krieg führen. Sie führen allerdings Krieg gegen Diktaturen, und sie agieren dabei durchaus undemokratisch und intransparent. Um den Irakkrieg zu rechtfertigen, haben amerikanische Politiker ihre eigene Bevölkerung und die anderer Länder belogen. WikiLeaks hat das aufgedeckt, aber nun sitzt Assange im Gefängnis, die USA wollen seine Auslieferung und ihm drohen 175 Jahre Haft. In dem von mir herausgegebenen Buch „Perspektiven nach dem Ukrainekrieg“ habe ich in meinem Beitrag an Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ erinnert.
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Kant hat wohl lange mit sich gerungen, ob er einen Weltstaat befürworten soll und ist dann zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gefahr, dass ein solcher Weltstaat despotisch wird, zu groß ist und es deswegen bei den Einzelstaaten bleiben soll. Aber es müsse eine Friedensordnung errichtet werden, die verhindert, dass diese Einzelstaaten untereinander Krieg führen. Kant kam zu dem Ergebnis, dass es unter folgenden Bedingungen keine Kriege gibt: Alle Staaten müssen Republiken sein und dem Transparenzgebot nachkommen. Sie dürfen also keine Geheimverträge schließen. Kein Staat darf aufgrund von Verschuldung von einem anderen abhängig sein, und es darf keine stehenden Heere geben. Heute würde man von struktureller Nichtangriffsfähigkeit sprechen, die besagt, dass der Angreifer im Nachteil ist.
Das war Kants These im Jahr 1795, und das würde dann den ewigen Frieden etablieren. Davon sind wir weit entfernt. Aber das Überraschende ist, dass in der Tat, obwohl es Hunderte von Kriegen gegeben hat und sehr viele, an denen auch demokratische Staaten, vor allem die USA, nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, noch nie einen Krieg zwischen zwei genuinen Demokratien gab. Was Assange angeht, legen Sie den Finger in die Wunde, denn er hat mit WikiLeaks im Grunde eingelöst, was Kant gefordert hat, nämlich Transparenz des außenpolitischen Handelns.
Können Sie erklären, wie das Transparenzgebot friedensstiftend wirkt?
Wenn Bevölkerungen in Demokratien belogen werden, können sie auch nicht mitreden. Es war die Hoffnung von Immanuel Kant, dass aufgeklärte Bevölkerungen in demokratischen Staaten nicht bereit sein würden, für irgendwelche Ziele ihr eigenes Leben und das anderer Menschen zu verwirken. Dahinter steht die Idee, dass der Mensch keinen Wert hat, sondern eine Würde, das Leben sich also nicht verrechnen lässt. Niemand kann sagen, 10.000 Tote sind schon okay. Die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright hat schrecklicherweise einmal mit den Worten „ja, ich denke schon“ auf die Frage geantwortet, ob es die 500.000 toten Kinder, die im Irak wegen der US-Sanktionen starben, wert gewesen seien. Und dieser Zynismus greift gegenwärtig um sich.
Sie erwähnten gerade Ihr Buch „Perspektiven nach dem Ukrainekrieg“. Das Ende des Kriegs scheint fern, oder? Wie kommt man da heraus?
Man muss das öffentlich erwägen, ohne Diffamierung. Ich sage zum Beispiel, dass wir nicht mit immer mehr Waffenlieferungen Frieden in der Ukraine stiften werden, auch wenn wir die Ukraine verteidigen müssen, damit sie nicht zusammenbricht gegenüber dem russischen Aggressor und es einen Diktatfrieden Putins gibt.
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Aber Waffenlieferungen können nicht das Gebot der Stunde sein, sondern Diplomatie. Man muss ausloten, ob es eine Friedenschance gibt. Und es stimmt nicht, dass die Ukraine das nicht wünscht
Vor einem Jahr hat der ukrainische Außenminister Kuleba eine internationale Friedenskonferenz gefordert, und wenn Foreign Affairs und andere Quellen sowie der vormalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett nicht lügen, waren Russland und die Ukraine bereits im März 2022 bereit, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Das ist dann aus welchen Gründen auch immer nicht zustande gekommen. Manche nennen hier das Massaker in Butscha, andere Großbritannien und die USA, die das nicht gewollt haben sollen. Ernsthafte Bemühungen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden, sehe ich bislang nicht, weder auf russischer noch auf westlicher, auch nicht auf ukrainischer Seite. Das führt weiterhin zum sinnlosen Tod von Tausenden Menschen.
Zitierweise: Julian-Nida-Rümelin, „Dieser westliche Triumphalismus ist ein großer Selbstbetrug“, in: Deutschland Archiv, 13.11.2023, Link: www.bpb.de/542672. Erstveröffentlichung in der Berliner Zeitung vom 4. November 2023, Online-Link https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/interview-philosoph-julian-nida-ruemelin-dieser-westliche-triumphalismus-ist-ein-grosser-selbstbetrug-li.2155252?id=c85266cc413f47fda80584734db51fa1. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autor:innen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
lehrte bis 2020 Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er war Staatsminister für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt unter Gerhard Schröder und ist unter anderem Mitglied der Berlin-Brandenburgischen und der Europäischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied des Deutschen Ethikrats und seit 2022 Rektor der Externer Link: Humanistischen Hochschule Berlin.
Journalistin bei der Berliner Zeitung seit 1990. Von 2004 bis 2009 arbeitete sie als DAAD-Lektorin an der University of the Philippines in Manila, und war dann bis 2012 Dozentin am Department of Media and Communication der Königlichen Universität Phnom Penh in Kambodscha, eine Ausbildungsstätte für angehende Journalisten. Aus beiden Ländern schrieb sie Korrespondentenberichte. Nach ihrer Rückkehr wechselte sie ins Feuilleton. Ausgehend von ihren Recherchen in Kambodscha gab sie 2017 gemeinsam mit Jutta Werdes und Bastian Bretthauer „Kambodscha. Ein politisches Lesebuch“ heraus.
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