Film ohne Auftrag - Perspektiven, die ausgegrenzt und unterschlagen wurden
"Ein Land ist auch das, was es toleriert". Erinnerungen von Angelika Nguyen an die Zeit rechtsextremer Gewalt vor 30 Jahren, als sich aus Sicht der Autorin "die Demokratie im Tiefschlaf" befand.
Angelika Nguyen
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Bald nachdem die Mauer gefallen war, wurde ich wie unzählige andere Ostdeutsche erwerbslos. Fortan arbeitete ich in den damals für uns sehr großzügigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ich schrieb Artikel als Journalistin und redigierte als Redakteurin. Ich malerte ein Büro für einen Verein. Ich organisierte Seniorenfrühstück in einem Kiezklub. In meiner Freizeit jedoch bekam ich die Chance, einen Dokumentarfilm zu drehen. Schnell fand ich ein Thema: vietnamesische Migrant*innen in Ost-Berlin. Auch der Titel fiel mir sofort ein: „Bruderland ist abgebrannt“. Er nahm ironisch Bezug auf die Bezeichnung der sozialistischen Staaten untereinander zur Betonung ihrer Verbundenheit. So interviewte ich im Frühsommer 1991 einen ehemaligen Vertragsarbeiter, eine deutsche Sozialarbeiterin, die Sprecherin eines neu gegründeten Wohnheimbetreibers, zwei ehemalige Studenten, ein deutsch-vietnamesisches Elternpaar, und ich war mit dem Filmteam dabei, als entlassene Vietnames*innen im Transitraum des Flughafens Schönefeld ihre Abfindung bekamen, die Prämie für die „freiwillige“ Ausreise, um in ein Land zurückzukehren, das schwer geschädigt war von Krieg, Wirtschaftsembargo, Entlaubungsgift.
Ich hatte keinen Auftrag für den Film. Es gab keine TV-Redaktion, die händeringend auf das Skript wartete. Ich konnte diesen Film nur machen, weil ein Freund mir Technik, Material und einen Kameramann zur Verfügung stellte. Als der Film fertig war, interessierte er niemanden. Außer die ehemaligen, inzwischen selbstorganisierten Vertragsarbeiter*innen selbst, die ihn in ihren Vereinsräumen zeigten, wo er unter zustimmenden Seufzern aufgenommen wurde. Am Ende wurde das patriotische vietnamesische Kinderlied in der letzten Filmszene mitgesungen.
Der Film erzählt davon, was die vietnamesischen Migrant*innen seit dem Mauerfall erlebt hatten, in welcher Lebenssituation und Rechtslage sie sich befanden und wie ihre Stimmung war. Auch wenn der Film Rassismus und Gewalt nicht direkt dokumentierte, war beides Thema in den Gesprächen und Kommentaren. So schwang die permanente Bedrohung, der die Protagonist*innen ausgesetzt waren, immer mit. Im Kommentar erwähne ich, dass sich aus der Pogromstimmung in den Straßen „ungeschriebene Regeln für Ausländer“ ergeben, wie zum Beispiel eine Art Ausgangssperre sowie sich nur in Gruppen zu bewegen und auch niemals allein öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, schon gar nicht nachts. Ich fühlte mich den Protagonist*innen nah.
Damals waren Drangsalierungen, Tätlichkeiten, Beleidigungen gegenüber allen, die nicht in das zur Norm erklärte Weißsein passten, an der Tagesordnung. Im Dezember 1990 war Amadeo Antonio in Eberswalde von Nazis erschlagen worden, und im April 1991 erlag Jorge Gomondai in Dresden seinen tödlichen Verletzungen, die ihm Nazis zugefügt hatten. Beide waren einst als Vertragsarbeiter aus sozialistischen „Bruderländern“ in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gekommen und gerade dabei, sich ein neues Leben aufzubauen.
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Es waren nicht nur die Taten selbst, die uns entsetzten, es war der Umgang der Gesellschaft mit ihnen, der einen merkwürdigen Freiraum für derartige Verbrechen zu schaffen schien.
Dies nannte Ibraim Arslan 26 Jahre nach dem verheerenden Nazi-Brandanschlag auf das bewohnte Haus in Mölln 1992 den „zweiten Anschlag“, der nach dem eigentlichen stets von der Gesellschaft käme. Ibraim Arslan überlebte als Siebenjähriger den Anschlag nur, weil ihn seine Großmutter Bahide Arslan in nasse Tücher gehüllt in die Küche gesetzt hatte. Sie selbst starb zusammen mit zwei ihrer Enkelinnen, den kleinen Mädchen Ayse Yilmaz und Yeliz Arslan.
Fatale Signale aus der Politik
Die Anteilnahme von Freunden, Kollegen am Leid der Familie der Ermordeten und die Solidarität Tausender vor Ort wurden von den verheerenden Signalen übertönt, die die Politik aussendete. In den Tagen nach dem Mord an Jorge Gomondai sprach ein Vertreter der sächsischen Landesregierung allen Ernstes davon, dass der Freistaat sich bemühen werde, „gesunde attraktive Alternativen für die Freizeitgestaltung zu finden“, als handele es sich hier um Ausfälle gelangweilter Jugendlicher, die Fürsorge bräuchten. Ein Polizeisprecher in Dresden beschrieb die damalige laxe Rechtspflege so: „Seit der Wende denken die Nazis, uns bestraft ja eh keiner.“ Und Polizeirat Erwin Leupold sagte: „Die Bevölkerung geht den Rechtsradikalen aus dem Weg.“ Wie auch nicht?
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Dass am Tag des Trauergottesdienstes für Jorge Gomondai gerade mal 100 Nazis den anschließenden Demonstrationszug mit 7.000 Demonstrant*innen angriffen und gezielt auf Schwarze Menschen losgingen, wirft ein Licht darauf, wie sicher sich die Nazis fühlten. Die allgemeine politische Lage gab ihnen recht. Allein in Dresden entstanden neben den bundesweiten Parteien NPD, DVU und REP militante Gruppierungen, die sich „Deutsche Alternative“, „Werwölfe“, „SS-Ost“ nannten und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen.
Die so organisierten ostdeutschen Nazis standen in engem Kontakt mit westdeutschen und österreichischen Nazis. Die Demokratie lag derweil im Tiefschlaf. Die anvisierten Opfer der Rechten konnten sich eine solche Ruhe nicht gönnen. Im September, als ich anfing, meinen Film zu schneiden, wurden im sächsischen Hoyerswerda in einem fünf Tage andauernden Pogrom Wohnheime von Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und Mosambik mit Brandsätzen und Steinen beworfen. Täter waren Neonazis, Anwohner*innen und angereiste Sympathisant*innen.
Nachdem mein Film mit 28 Minuten Spieldauer fertig und von TV-Sendern dankend abgelehnt worden war, aber immerhin auf dem Kurzfilmfestival Oldenburg gezeigt und von etwa 80 Interessent*innen diskutiert, begann das Jahr 1992. Weitere Morde und Pogrome geschahen in diesem Jahr: Im April wurde in Berlin-Marzahn der ehemalige Vertragsarbeiter Nguyen Van Thu von einem Neonazi erstochen. Der 29-Jährige wollte wenige Wochen später nach Vietnam fliegen und dort heiraten. Der Täter erhielt nur eine viereinhalbjährige Haftstrafe, wieder ein geradezu ermutigendes Signal für gewaltbereite Rechte.
Im Juli wurde in Esslingen (Baden-Württemberg) der Kosovo-Albaner Sadri Berisha, Arbeiter in einer Baufirma, von Nazis in seinem Bett erschlagen und sein Mitbewohner Sahit Elezaj schwer verletzt. In Rostock-Lichtenhagen tobte im August über mehrere Tage ein Pogrom von Nazis und Anwohner*innen erst vor der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber ZASt gegen rumänische Geflüchtete, dann vor dem Wohnheim vietnamesischer Arbeiter*innen. Überall gleich waren die nachlässige Verfolgung der Täter, die geringen bis ausbleibenden Strafen, die Verharmlosung des rassistischen Hassfaktors und die unterlassene Analyse, woher diese Gewalttäter kamen.
Allein gelassen mit den Traumata
Auch dass die Überlebenden mit ihrem Trauma allein gelassen wurden, war normal. Hinzu kam die seltsame politische Schlussfolgerung, die Migrant*innen selbst stellten das Problem dar, nicht die Nazis. Eilig und geradezu servil gegenüber den Tätern wurden die Opfer sowohl in Hoyerswerda als auch in Rostock mit Bussen weggeschafft und ins Umland verbracht, wo man sie traumatisiert und ungeschützt zurückließ. Der Höhepunkt dieser Politlogik und auch ganz offen als „Konsequenz“ dieser Gewalttaten bezeichnet, war die Einschränkung des Asylrechts im Mai 1993, womit nicht nur das Grundgesetz angetastet, sondern auch signalisiert wurde, dass es „zu viele“ Migrant*innen in Deutschland gäbe. Ein fatales Zeichen. Nur wenige Tage nach dieser Gesetzesänderung wurden fünf türkisch-deutsche Menschen bei dem Nazi-Brandanschlag in Solingen (NRW) ermordet.
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Warum diese detaillierte Erinnerung an damals? Wenn nach einer alten Dichter-Weisheit der heutige Tag „ein Resultat des gestrigen“ ist, dann müssen wir heute wissen, was gestern geschehen ist. Und uns darüber klarwerden, dass all die Anschläge keine singulären Ereignisse waren, sie wurden vielmehr systematisch ermöglicht. Durch das, was wir nicht getan und durch das, was wir geduldet haben. Die Perspektive der Opfer und Migrant*innen auf das, was ihnen geschah, war lange Jahre überhaupt nicht gefragt.
Dass ihre Stimme und ihre Analyse jahrzehntelang in Diskursen und Dossiers gar nicht oder nur marginal vorkamen, hat nicht nur Bildungslücken erzeugt, sondern auch rechtsextreme Überzeugungen sich ausbreiten lassen und hoffähig gemacht – bis in die Parlamente hinein. Und es förderte einen einseitigen Geschichtsblick auf den Osten, eine sehr eingeschränkte Erzählung über den Mauerfall und seine Folgen. So formte sich das Bild, dass Rassismus und Rechtsextremismus vor allem im Osten angesiedelt seien.
Die vergessen Nazirädelsführer aus dem Westen
Dabei wird vergessen, dass bei rechtsextremen Aktionen wie die um die Ostertage 1991 in Dresden und das Pogrom in Rostock 1992 auch ganz gezielt Nazis aus dem Westen beteiligt waren, sie extra dafür anreisten und die Stimmung aufheizten. Und dass die Zahlen der rechtsextremen Taten und der Opfer in dieser Zeit in Ost und West etwa gleich hoch waren. Hartnäckig aber hält sich, insbesondere in der medialen Erzählung, die Ostlastigkeit des Rechtsextremismus nach dem Mauerfall.
Der Autor, Schauspieler und Regisseur Dan Thy Nguyen, ein Kind vietnamesischer „Boatpeople“, die in die Bundesrepublik geflüchtet waren, der 2013 über das Pogrom in Rostock ein Theaterstück auf der Basis von Interviews mit den Vietnames*innen schrieb, spricht gar von einer Instrumentalisierung des Rostock-Pogroms für die Verstärkung der Ressentiments gegenüber dem Osten.
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Tatsächlich wirkt die diskursive Betonung Ostdeutschlands als ein Ort von Rassismus und Rechtsextremismus wie eine Auslagerung dieser Probleme von West nach Ost. Gern werden Massenarbeitslosigkeit und mangelnde Demokratie-Erfahrung der Ostdeutschen zur Erklärung herangezogen, was impliziert, dass erstens Arbeitslose dazu neigen, gewalttätige Rassist*innen zu werden und zweitens die Westdeutschen ein Muster an Weltoffenheit und frei von der Beschränktheit des Rassismus seien. Als gäbe es keine Nazis, keinen Alltagsrassismus und keine Vorurteile bei ihnen. In Wahrheit wird Verantwortung nur in eine bestimmte Himmelsrichtung abgeschoben.
Lässt man jetzt mal, im 32. Jahr der neuen Deutschen Einheit, die Attribute „Ost“ und „West“ weg, dann bleibt nur noch das Wort „Deutschland“ übrig. Ein Deutschland mit bedenklichen Kontinuitäten, die man in den letzten drei Jahrzehnten toleriert und weiter sich entfalten lassen hat. Jetzt haben wir eine Rechtsaußen-Partei, die in allen Landesparlamenten und im Bundestag auch Nazis vertritt.
Ich bin eine Ostdeutsche der Mauergeneration. Als Tochter eines Vietnamesen und einer Deutschen habe ich Ausgrenzung, Diskriminierung und Alltagsrassismus seit meinem ersten Schultag erfahren. Ich geriet als Kind in die Zeit der enormen Solidarität gegen den Krieg in Vietnam, der viele Menschen in West und Ost bewegte und mich erst recht – hatte er doch meinen Vater plötzlich aus meinem Leben gerissen. Das angeblich breite Mitgefühl mit dem „tapferen vietnamesischen Volk“ tat jedoch dem von mir täglich erfahrenen Othering auf dem Schulhof, in Straßenbahnen, Klassenzimmern, Ferienlagern, Sportplätzen, FDGB-Erholungsheimen keinen Abbruch. Das reichte von mundoffenem Staunen über Schmähworte und Minipogrome bis zu tätlichen Angriffen. Abwechselnd dazu nahm man mich jedoch zwischendurch auch einfach als DDR-Kind wahr. Manchmal musste ich von einer Minute zur anderen meine Rolle wechseln. Das machte mich aufmerksam nicht nur für meine eigene ständige Gefahrenlage, sondern auch für die von anderen.
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Aus dieser Erfahrung bringe ich eine bestimmte Perspektive mit, einen bestimmten Blick auf die Mehrheitsgesellschaft, aus deren Mitte heraus sich blitzschnell eine Bedrohung für Angehörige von Minderheiten entwickeln kann. Das war schon seit Jahrhunderten so, und auch die fragilen Demokratien der Nachkriegszeit seit 1945 haben daran nichts geändert.
Deshalb jubelte ich auch nicht mit auf dieser Montagsdemo in Leipzig im November 1989, wo ich kurz nach der Maueröffnung zufällig war. Wenn heute in jenen Demos nichts anderes als die revolutionäre Selbstbefreiung der Ostdeutschen gesehen wird und nicht gleichzeitig ihre rechts-nationale Tendenz, dann gucken wir sie uns schön. Riefen sie noch vor der Maueröffnung „Wir sind das Volk“ – diese verblüffend einfache Retourkutsche für die DDR-Regierung, die das Wort Volk in jeder ihrer Verlautbarungen anführte, so erlebte ich jetzt hautnah den Paradigmenwechsel: „Wir sind ein Volk“, skandierten die Demonstrierenden. Und das reimte sich quasi auf „Wir wollen die DM“ und auf „Deutschland soll bald eins sein“. Was sollte das werden, wenn nicht einfach nur eine vergrößerte Bundesrepublik? Die DDR würde verschwinden und zwar schnell. Ich stahl mich davon, das war ein Slogan, zu dem ich nicht gehörte und nicht gehören wollte. Das letzte Mal war Deutschland eins, als es, von den Nazis angeführt, die halbe Welt in Schutt und Asche legte.
Aber nicht nur mein Geschichtswissen trieb mich fort. Es waren auch meine Erfahrungen aus Kindertagen. Sie bewogen mich, im Sommer 1991 diesen Film über entlassene vietnamesische Vertragsarbeiter*innen zu machen. Ausgerechnet dahin zu gehen, wofür sich die gerade staatlich vereinigte und verwirrte Gesellschaft gerade gar nicht interessierte – an ihren Rand. Zu einer kleinen Minderheit, die schlimmer dran war als die entlassenen Ostdeutschen mit ihren bundesdeutschen Pässen.
Die lange Zeit vorherrschende Negierung politischer Hassverbrechen
Wenn heute, zu den 30. und bald 35. Jahrestagen, Historiker*innen und Referent*innen sagen: Ah ja, die migrantische Perspektive auf den Mauerfall! Wir haben damals nicht gesehen, wie wichtig das ist. Her damit, auf jede Veranstaltung ein Gast zu diesem Thema! Was kann man dann aus diesem Versäumnis lernen? Und was sind eigentlich Randerfahrungen? Was definiert sie als „Randerscheinung“, was ja nichts anderes meint als ihre Unwichtigkeit? Heute finden die Perspektiven von Minderheiten Räume zum Erzählen und Reflektieren. Lange wurden auch die ostdeutschen Erfahrungen in den Medien geringgeschätzt. Allein die West-Erzählung über den Osten war von Belang. Auch das hat sich zumindest etwas geändert.
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Aus meinen unzähligen Gesprächen in der vietnamesisch-deutschen Community ergab sich dieses eine unverrückbare Bild: Was ich als Kind eines Vietnamesen in der DDR an Rassismus, Ausgrenzung, Bedrohung erfahren habe, haben andere Kinder vietnamesischer Herkunft in der Bundesrepublik und nach dem Mauerfall in ganz Deutschland auf sehr ähnliche Weise erfahren. Unsere Kindheiten – zu unterschiedlichen historischen Zeiten und in unterschiedlichen deutschen Regionen – kann man übereinanderlegen und stellt eine erstaunliche Kongruenz fest. Für uns ist dieser Rassismus vor allem deutsch, und zwar in allen Himmelsrichtungen: Ost, West, Nord, Süd.
Ich bin ein Kind des Kalten Krieges, die Vorsilben Ost und West sind fester Bestandteil der Sprache meiner Sozialisation. Noch heute gehe ich auf die Barrikaden, wenn ein West-Mensch mir erzählen will, wie die Ostler sind. Und ich bin das Kind eines Nordvietnamesen, der in einen heißen Stellvertreter-Krieg zog. Auch in Vietnam gibt es Himmelsrichtungen. Ich kann es auch nicht leiden, wenn mir Leute erklären wollen, wie Migrant*innen sind. Hier wie da. Der Glaubenskampf, ob die Rechten in Ost oder West verbreiteter oder schlimmer sind, lenkt nur vom Wichtigsten ab, nämlich dass wir sie mit allen Mitteln – denen des Rechts, der Medien, der Demos, der Bildung – bekämpfen müssen.
Das wurde lange Zeit schon dadurch vernachlässigt, dass man sie nicht als das bezeichnet hat, was sie waren: Nazis. Und ihre Taten: politische Verbrechen aus Hass. Der rassistische Mord an Jorge Gomondai wurde in der Sprache der Staatsanwaltschaft zu einer „Körperverletzung mit Todesfolge“ und einer „Beteiligung an einer Schlägerei“, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock zu „Ausschreitungen“ oder wahlweise auch „Krawallen“ verharmlost. Diese Tabupolitik von Medien und Behörden half, dass sich rechtes Gedankengut in aller Ruhe immer weiter in der Gesellschaft ausbreiten konnte und zu dem führte, was Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, 2017 beschrieb: „Die rechtsextreme Szene in Deutschland wird diffuser und befindet sich im Aufwind.“
Eine unaufgearbeitete Gleichgültigkeit
Die Sprache der Berichterstattung von damals spiegelte die Toleranz gegenüber der Gewalt. „Viele Ausländer in der DDR trauen sich abends nicht auf die Straße“, titelte die Frankfurter Rundschau. Was bedeutet dieser Satz im August 1990, nachdem den Ostdeutschen die Kaufhallen mit Westprodukten gefüllt worden waren und sie die vielfach gewünschte D-Mark auf ihrem Konto vorfanden – viele schon nicht mehr als Gehalt, sondern als Arbeitslosengeld? Er wendet sich an die, die keine „Ausländer“ sind. Es suggeriert ein Randgeschehen, das Problem einer Minderheit, die eben irgendwie nicht dazugehört. Wie anders hätte sich die Schlagzeile ausgenommen, wenn dort gestanden hätte „Viele Menschen in der DDR trauen sich nachts nicht mehr auf die Straße“! Behördenvertreter wie die damalige Ost-Berliner „Ausländerbeauftragte“ Anetta Kahane beklagte im selben Artikel nicht nur die rechte Gewalt gegen Menschen, sondern auch die Gleichgültigkeit der übrigen Bevölkerung, welche diese Gewalt im öffentlichen Raum erlebten, aber weder einschritten noch Hilfe holten.
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Wenn unsere Gegenwart also das Resultat der Vergangenheit ist, dann ist unser Heute mit den AfD-Wahlerfolgen in Dresden und Deggendorf, den geschichtsvergessenen Gauland-Zitaten, den Weidel-Ausfällen im Bundestag, mit Nazi Höcke als Garant für viele AfD-Stimmen in Thüringen und mit dem nur zufällig verhinderten Massaker in der Hallenser Synagoge ein Resultat der Toleranz gegenüber den rechten Morden der frühen 1990er Jahre.
Das Wort „Toleranz“ ist in unseren Diskursen merkwürdig positiv besetzt, bei Google erscheinen unter dem Suchwort sofort Völkerfreundschaftsmotive. Dabei kann sie viel Schaden anrichten. Man kann Rechtsextremismus tolerieren und Rassismus dulden – mitten unter uns. Das war der Fall in den 1990er, in den 2000er Jahren bei dem Mord an Alberto Adriano und der Verbrennung Oury Yallohs in Polizeigewahrsam, bei der NSU-Mordserie, dem Mord an Marwa El-Sherbini, 2018 bei der Erschießung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf seiner Terrasse in Kassel. Es gab keinen gesellschaftlichen Aufschrei. Die Ereignisse verplätscherten so. Ein endgültiges Gerichtsurteil in dem Strafprozess gegen Lübckes mutmaßlichen Mörder gibt es auch bislang noch nicht, noch wird vor dem Bundesgerichtshof um eine Revision gerungen. All das sind Wirklichkeiten in unserem Land.
In Yad Vashem in Jerusalem, am Eingang der ständigen Ausstellung über die Geschichte des europäischen Antisemitismus bis zur Shoa gibt der Satz des deutschen Schriftstellers und Journalisten Kurt Tucholsky genau darüber Auskunft: „Ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es toleriert“. Was wir zulassen, macht uns mit aus.
Dieses unser Land driftet nach rechts, die soziale Kälte nimmt zu, begleitet von Verharmlosungen der AfD-Wahlerfolge, „Das sind nur Protestwähler“, heißt es. Es wird übersehen, dass diese Partei vor allem Menschengruppen anspricht, die Ressentiments gegen Fremde schüren, dieselben, die auch in den 1990er Jahren bereits Zulauf und ein passives Publikum hatten. Das haben die Rechten gut ausgenutzt.
Demnächst wird die AfD politische Bildung im größeren Stil betreiben können, mit ihrer eigenen parteinahen Stiftung – diese sitzt auch schon im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein Ergebnis demokratischer Prozesse. Wenn die Gegenwart so aussieht, dann haben wir in der Vergangenheit etwas falsch gemacht.
Der Film „Bruderland ist abgebrannt“ lag viele Jahre in meinem Regal. 2018 plötzlich bekam ich eine Anfrage vom Frauen-Filmfestival in Köln, wo er zusammen mit dem Mauerfall-Dokument „Former East/Former West“ der US-Amerikanerin Shelly Silver lief. Mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls wurde dann das entdeckt, was man „migrantische Perspektive“ nennt. Der Film lief seit 2019 auf Dutzenden Veranstaltungen, begleitet von vielen guten Gesprächen. In akademischen, künstlerischen, migrantischen, journalistischen Kreisen und Ausstellungen findet er reges Interesse. Aus ihm ist ein Zeitdokument geworden.
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Es geht nicht darum, heute schlauer zu sein als gestern. Es geht um die Einbeziehung bestimmter Perspektiven, von denen zu lernen wichtig ist. Es geht um jüdische, um migrantische, um queere Perspektiven und die der People of Color, und, ja, auch um ostdeutsche Perspektiven.
Wobei der Plural wichtig ist, denn die eine jeweilige Perspektive gibt es auch nicht innerhalb dieser Gruppen. Es geht um die Stimmen derer, die Ausgrenzung, Abwertung und Gewalt erfahren haben und immer wieder erfahren. Und darum, keine gegen die andere auszuspielen. Die Tatsache des Rechtsextremismus und tiefsitzenden Alltagsrassismus allein dem Osten zuzuschieben, dient nur dazu, den Westen zu entlasten.
In der Zwischenzeit gewinnen die Rechten immer mehr Raum, in Ost und West. Längst nicht mehr nur in Springerstiefeln und Bomberjacken, an Stammtischen und bei nächtlichen Anschlägen, nein, in Kostüm und Anzug. Wenn sogar der sich als konservativ verstehende Bundesinnenminister Horst Seehofer Ende 2019 feststellte, dass es ein Problem mit Rechtsextremismus gibt, dann ist es wirklich ernst. Mehr noch, zum ersten Jahrestag der Ermordung Walther Lübckes durch Nazis am 2. Juni 2020 wiederholte Seehofer seinen Satz: „Der Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unseren demokratischen Rechtsstaat.“ Ich bezeichne den Rechtsextremismus als größte Bedrohung für all die Menschen, die in sein Feindbild passten.
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Als an jenen Tagen im August 1992 in Rostock das vietnamesische Wohnheim vor laufenden Kameras brannte, begleitet vom Applaus des Mobs, haben vor den TV-Geräten in Westdeutschland die meisten Leute vermutlich nur den Kopf über den Osten geschüttelt und weiter Abendbrot gegessen.
In einer Familie in einem Dorf am Rande der Eifel jedoch aß man nicht weiter. Vielmehr brachte der Vater am nächsten Tag aus seiner Fabrik Starkstromkabel mit nach Hause. „Jetzt müssen wir lernen, uns zu verteidigen“, sagte er zu seiner Frau und seinen Kindern. Der Mann war zusammen mit seiner Frau Anfang der 1980er Jahre als Bootsflüchtling aus Vietnam in die Bundesrepublik gekommen. Er verstand das Leid seiner Landsleute im Osten selbstverständlich als sein eigenes.
Genau das ist der Unterschied.
Zitierweise: Angelika Nguyen, „Film ohne Auftrag - Perspektiven, die ausgegrenzt und unterschlagen wurden“, in: Deutschland Archiv, 24.8.2022, Link: www.bpb.de/512249. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Angelika Nguyen studierte in Babelsberg Filmwissenschaft. 1992 drehte sie den Dokumentarfilm "Bruderland ist abgebrannt" über die Lage vietnamesischer Immigrant*innen im Osten Berlins. 2011 erschien ihr Essay "Mutter, wie weit ist Vietnam?" über erlebten Rassismus in ihrer Kindheit im Sammelband "Kaltland".