Wer sich das Grundgesetz aus Anlass seines 75. Geburtstags einmal zur Hand nimmt und darin liest, stellt am Ende plötzlich fest, dass es nur vorläufig gilt: Der letzte Artikel 146 schreibt nämlich fest, dass es seine Gültigkeit an dem Tage verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Warum ist das Grundgesetz immer noch vorläufig? Eine Anregung zum 35. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2025, formuliert vom letzten Außenminister der DDR
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Man reibt sich die Augen: Gerade in diesen Tagen, zum „75. Geburtstag des Grundgesetzes“, wird uns in vielen Reden und Artikeln erfreulich klar in Erinnerung gerufen, welch grundlegender Text dies für uns Deutsche war und ist.
Nach den Schrecken und Verbrechen, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus über ganz Europa gebracht haben, nach millionenfacher grausiger Verletzung von Recht und Menschlichkeit waren die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes wie Paukenschläge, die Deutschland auf eine neue Grundlage stellen sollten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die 1948 von der UNO beschlossen worden waren, und die folgenden Grundrechtsartikel 1 – 20 sollten dauerhaft gelten.
Warum dann heute noch diese Vorläufigkeit? Welcher Weg soll da offengehalten werden? Ich bin dafür, diese zu beenden und den Artikel 146 zu streichen. Wenn das Grundgesetz so grundlegend ist, wie wir es in diesen Tagen hören – und wir das ja wohl auch in großer Mehrheit so empfinden und für richtig halten, dann braucht es kein Warten darauf, dass die Deutschen sich eine neue Verfassung geben. Ja, es ist sogar kontraproduktiv und verunsichernd. Wir haben eine Verfassung – das Grundgesetz, das wir auch formal zu einer solchen machen sollten!
Das Grundgesetz – 1949 noch ein Zeugnis der Teilung und der Abwehr gegenüber dem Kommunismus, der im Osten Europas und auch Deutschlands diese Würde und Grundrechte zutiefst missachtete – schrieb die Lehren aus der Vergangenheit fest und hatte zum Ziel, dass diese künftig einmal für alle Deutschen möglich werden sollten. Das Streben nach der Einheit in Freiheit und Demokratie, die vor 75 Jahren, im Kalten Krieg und der sich immer mehr manifestierenden Teilung Europas und der Welt nicht möglich war, bekam Verfassungsrang. Dafür hatte der alte Artikel 146 eine wesentliche Bedeutung.
1989 - vor 35 Jahren - eroberten sich Freiheit und Demokratie im Osten Europas und auch Deutschlands neuen Raum. Michail Gorbatschow spielte dabei eine zentrale Rolle, ebenso gesellschaftliche Kräfte wie die Solidarnosc in Polen, reformerische, nach Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung strebende Bewegungen in den baltischen Staaten, in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei, um nur einige zu nennen. Der Sieg von Freiheit und Demokratie 1989 führte zum Ende des Kalten Krieges - der Fall der Mauer wurde dafür zum Symbol.
Für Deutschland eröffnete sich die Chance der Einheit - in den Herzen der meisten Ostdeutschen war die neu gewonnene Freiheit eng mit dem Wunsch nach Einheit verbunden. Dass diese dann möglich wurde, wurde zur Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert: 45 Jahre nach all den Schrecken und Verbrechen, mit denen wir Europa überzogen hatten, konnten wir uns in Freiheit vereinen, akzeptiert von allen Nachbarn und den ehemaligen Gegnern. Im Zuge der Vereinigung kam es zu mancherlei Verletzungen, die bis heute nachwirken und aufgearbeitet werden müssen. Damals spielte die Diskussion um die Verfassung eine wesentliche Rolle und viele halten es bis heute - durchaus begründet - für einen Fehler, dass bei dem rechtlichen Weg der Vereinigung als Beitritt nach Artikel 23 des GG nicht wenigstens auf der Grundlage des Grundgesetzes ein Akt gemeinsamer Verfassungsgebung ermöglicht wurde.
"Gelegenheit zur Selbstvergewisserung"
Heute feiern wir das Grundgesetz, mit dem wir Ostdeutschen nun auch schon bald 35 Jahre lang mehrheitlich beste Erfahrungen gemacht haben. Ich kenne kein Land, dessen Verfassung mir lieber wäre. Gleichzeitig erleben wir, dass nicht nur in unserem Land, sondern in Europa und weltweit die freiheitliche und liberale Demokratie, die im Grundgesetz für Deutschland festgeschrieben ist, unter Druck steht.
Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes und der im nächsten Jahr anstehende 35. Jahrestag der Deutschen Einheit sollten uns Anlass nicht nur zu Feiertagsreden sein, sondern Gelegenheit zur Selbstvergewisserung geben. Nehmen wir ernst, was in diesen Tagen Wichtiges zu diesem Grundlagen-Text gesagt wird, und nehmen es als Orientierung für die Zukunft. Man kann (historisch) erklären, wie es zum alten und dann jetzigen Artikel 146 kam. Sachlich begründen, weshalb wir ihn heute noch brauchen, aber wohl kaum.
Im Ernstnehmen des Grundgesetzes als bleibende Grundlage unseres Gemeinwesens auch für die Zukunft sollten wir uns vornehmen, zum 35. Jahrestag der Deutschen Einheit die Vorläufigkeit des Grundgesetzes durch Streichung des Artikels 146 aufzuheben und es so zu unserer Verfassung der Zukunft machen.
Ein Jahr Durchbuchstabieren der Festreden dieser Tage - ein Jahr Selbstvergewisserung und Prüfung der Tragfähigkeit dieser Grundlagen für die Zukunft - und dann machen wir dieses Grundgesetz zu unserer dauerhaften Verfassung! Vielleicht finden sich dann sogar noch die notwendigen Mehrheiten, um diese Verfassung noch besser zu machen - etwa durch die Sicherung von Kinderrechten, wie es die vergangene Große Koalition einmal wollte. Oder man findet eine Formulierung für das Staatsziel Kultur.
Auch Ergänzungen denkbar
Verschiedene Vorschläge für weitere Änderungen stehen im Raum, vielleicht sogar solche zur Sicherung von Minderheitenrechten, die bisher in Deutschland nur in Länderverfassungen stehen. Doch am Gelingen solcher Ergänzungen hängt es nicht. Gerade angesichts vieler Anfragen über die Tragfähigkeit unserer Demokratie sich über unsere gesellschaftlichen und staatlichen Rechtsgrundlagen neu zu vergewissern und sie schließlich für dauerhaft zu erklären, wäre ein großer Gewinn.
So lasst uns im nächsten Jahr, am 3. Oktober 2025 zum 35. Tag der Deutschen Einheit, durch Streichung des Vorläufigkeitsartikels 146 das Grundgesetz zu unserer Verfassung machen, die für die Zukunft bleibend und tragfähig die Grundlage unseres Gemeinwesens ist.
Zitierweise: Markus Meckel, "Warum ist das Grundgesetz immer noch vorläufig?", in: Deutschland Archiv, 23.5.2024, Link: www.bpb.de/348720. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 18.5.2024 in etwas kürzerer Fassung im Berliner Tagesspiegel. Weitere Denkanstöße ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der letzten DDR-Volkskammer 1990 werden nach und nach hier im Deutschland Archiv folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Kerstin Brückweh,
Interner Link: "Zu selbstzufrieden? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten seit 1989. Denkanstöße über verpasste Chancen der Verfassungsreform". Deutschland Archiv vom 23.5.2024Bettina Tüffers,
Interner Link: Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90 . Deutschland Archiv vom 1.3.2024Ilko-Sascha Kowalczuk / Martin Sabrow:
Interner Link: D und DDR. Die doppelte Staatsgründung vor 75 Jahren. Deutschland Archiv & APuZ vom 8.5.2024.Interner Link: Gründungsgeschichten. Eine Ausstellung des Deutschland Archivs. DA vom 21.5.2024
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Der Theologe Markus Meckel aus Brandenburg war Mitinitiator der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR 1989 und wurde nach der ersten freien Wahl vom 18. März 1990 vom 12. April bis zum 20. August 1990 Außenminister der DDR in der Großen Koalition. Bis 2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an und leitete von 2013 bis 2016 den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.. Von 1992 bis 1994 war er Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der von ihm initiierten Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Im März 2020 erschien sein Buch über den Prozess der deutschen Einheit "Zu wandeln die Zeiten" in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.